Schreibanregungen
21. Oktober 2024
Between the Lines
Drei Gedichte in einem
herausfinden: Between the Lines ist nicht ganz unbekannt bei Schreibgruppenleitungen. Hier will ich nun ein Verfahren vorstellen, das das Verfahren adaptiert und erweitert.
Schritt 1 | Du hast einen Text geschrieben, der dir als ganzer nicht so zusagt, in dem aber Sätze, Halbsätze aufleuchten, die du einer weiteren wertschätzenden Verwendung für würdig erachtest. Mach aus diesen Sätzen ein Gedicht, frei, ohne Reime und spziellens Rhythmuskonzept. Lass es etwa acht Zeilen lang sein und gib ihm zum Schluss eine Überschrift. |
Schritt 2 | Schreib das Gedicht ab und lass Platz zwischen den Zeilen. Nun schreib in die Zwischenräume passende Zeilen, die das ursprüngliche Gedicht ergänzen, die sich also anschließen, inhaltlich und grammatisch. |
Schritt 3 | Schreib diese Zwischenraumzeilen ab und überarbeite sie so, dass sie ein eigenes konsistentes Ganzes ergeben – aber immer noch zum ersten Gedicht, also in die Zwischenräume passen. Gib ihm eine Überschrift. |
Schritt 4 | Füg beide Gedichte, die über die gleiche Zeilenzahl verfügen sollten, wieder zusammen. |
Entstanden ist ein Gebilde, das drei Gedichte enthält. Ein Beispiel von mir, entstanden im Collage-Workshop am 11. Oktober 2024.
DAMALS
ICH WERDE
deine blauen Augen
neun Mal schlagen die Glocken
ohne ausgewiesene Tiefe
ich werde die Konsequenz verraten
dennoch werde ich
,ich kann‘ sagen
den Blick senken
und morgen
als Erste blinzeln
die Augen dann schließen
bevor du mich blendest
meine grünen Augen
mit deinem Orakelspeer
ich werde einen Grund haben
23. September 2024
Alles zu viel
Deshalb mal weniger
Gestern habe ich etwas gelesen und gehört zum Erschöpft-Sein, hier kannst du es auch lesen bzw. hören.
Und daraus ergab sich folgende sehr reduzierte und so auch Ressourcen sparende Schreibanregung: Schreib einmal eine Zeitlang am Abend sieben Wörter in ein kleines Heft.
Mehr ist dazu jetzt erst einmal nicht zu sagen (auch wegen des Reduzierens und Ressourcenparens).
9. September 2024
Haiku, Tanka, Petite boîte
– und heute mal ein Cinquain
Neulich haben wir in der Schreibwerkstatt Silbengedichte verfasst – und was sonst so gut wie nie vorkommt: Mir wurde die Zeit beim Schreiben und für den Gruppenablauf knapp, obwohl wir ja nur Mini-Gedichte mit wenigen Silben verfasst haben … Jedenfalls hatten viele insbesonderen Spaß am Gestalten von Cinquains. So will ich dir diese Form zum Ausprobieren mal vorstellen.
Erste Cinquains verfasste – inspiriert vom japanischen Haiku – die US-Amerikanerin Adelaide Crapsey (1878–1914), die 1915 veröffentlicht wurden. Hier das Schema und ein Beispiel:
Schema
1. Zeile: 2 Silben Titel/Inhalt
2. Zeile: 4 Silben Beschreibung des Titels
3. Zeile: 6 Silben eine Aktion
4. Zeile: 8 Silben eine Empfindung
5. Zeile: 2 Silben Synonym für den Titel
Peggy Bertrand
She does
Cutting, chopping
Slicing, stirring, cleaning
Whipping, serving, creating, hosting
Housewife
26. August 2024
Schnipseln …
… statt Fernsehen
Es macht Spaß, ist meditativ und bringt erstaunliche Ergebnisse: das Collagen von Texten aus Wörtern, Halbsätzen und Schlagzeilen. Meine Freundin Veronika hat die Schnipsel-Texte der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller wiederentdeckt – und ist versunken im Schnipseln, Mit-den-Augen-über-die-Schnipsel-Schweifen, Meditieren, Wörter-Schieben und Kleben. Eins ihrer Werke möge dich inspirieren.
19. August 2024
Spielerisch die Regeln brechen
Futuristische Anregungen
Unter dem Einfluss von gesellschaftlicher Destabilisierung und Krieg im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert haben die vom italienischen Futurismus beeinflussten Expressionist:innen (bekannte sind z. B. Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler) mit dem Ziel der Erneuerung des Menschen zur Sprengung der konventionellen Formen der Sprache aufgerufen, um einen adäquaten Ausdruck für das zu finden, was sie empfanden: Ekel und Angst, Lust an Visionen und Revolte gegen Krieg, Maschinenherrschaft, Individualismus und Geniekult … Gearbeitet haben sie mit Verknappung, Verdichtung und Zerstörung der Syntax. Einige der Aufforderungen des bedeutendsten Futuristen Filippo Tommaso Marinetti im Technischen Manifest der futuristischen Literatur (1912) seien hier zur Nachahmung empfohlen.
- MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERADEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN.
- MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN, damit es sich elastisch dem Substantiv anpaßt, und es nicht dem Ich des Schriftstellers unterordnen, der beobachtet und erfindet. Nur das Verb im Infinitiv kann das Gefühl für die Fortdauer des Lebens und die Elastizität der Intuition, durch die sie wahrgenommen wird, vermitteln. […]
- MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN. […].
- MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN, diese alte Schnalle, die ein Wort an das andere bindet […]“ (litwiss-online.uni-kiel.de/avantgarde/futurismus/).
5. August 2024
Ein Sommer-Impuls
Alphabet der Bedeutungslosigkeiten
Manchmal treten die großen Dinge in den Hintergrund, manchmal bedeuten kleine Dinge die Welt, manchmal ist etwas bedeutsam, was gestern noch gar nichts bedeutete, manchmal werden die großen Dinge noch größer und viele andere verlieren ihre Bedeutung im persönlichen Leben oder gar im philosophischen Sinne ganz und gar … Jedenfalls ist es gar nicht so einfach, ein Alphabet der Bedeutungslosigkeiten aufzustellen. Hier mein 5 ½ Minuten-Versuch vom 1. August 2024. Nachahmungen – in welcher Weise auch immer – sind erwünscht.
Anthrazit
Blusen
Chic
Damenwahl
Ewigkeit
Freibier
Glibber
Hamburg
Insistieren
Jungsein
Kabelfernsehen
Langsamkeit
Mondfinsternis
Nägelkauen
Olympiade
Prüfsteine
Quadrate
Rasenmähen
Sendungsbewusstsein
Tafelsilber
Understatement
Vasen
Wandfarbe
X-en
Y-Chromosomen
Zerstreutheit
15. Juli 2024
Hochsommerrot
oder auch Himbeerpink
Es ist Hochsommer, nicht nur auf dem Papier, sondern auch tatsächlich draußen, jedenfalls in Kaufungen. Ich sitze in meiner schönen kühlen Werkstatt und schreibe dies und das, räume auf, reflektiere das erste Halbjahr – und freue mich auf die freien Zeiten, die vor mir liegen … Auf was ich mich immer am meisten freue, sind nicht etwa lange rotweinselige Abende im Garten, Strandspaziergänge oder exzessives Bücherverschlingen (obwohl diese Aktivitäten auch nicht zu verachten sind), sondern aufs Denken und Schreiben am Stück, ohne dass ich unrerbrochen werde. Die nächsten beiden Hefte der Reihe 26+4 wollen und sollen geschrieben werden: r wie Rückkopplung (Feedback) und p wie Plural (die Kraft der Schreibgruppe). Aber vorerst heute: Pause. Und ein bisschen schreiben, z. B. zu einem hochsommerroten oder himbeerpinken Blütenteppich.
10. Juni 2024
Vierzeiler
und Mascha Kaléko
Schon lange hatte ich nichts mehr mit Gedichten von Mascha Kaléko gemacht – bis letzten Donnerstag. Meine Kollegin Carmen Weidemann leitete einen wundervollen Schreibabend in unserer gemeinsam gestalteten Schreibwerkstatt 3+, die gerade zum 27. Mal stattfindet. Vierzeiler von Mascha Kaléko waren leitend. Abwechselnd machten wir Freewritings und schrieben Vierzeiler. Daraus empfehle ich also nun Folgendes:
1. Schritt: Nutze die folgenden vier Zeilen als einzelne Impulsen und schreib dazu jeweils 5 Minuten im Modus des Freewritings (es handelt sich dabei um einen Vierzeiler von Mascha Kaléko aus ihrem Buch Sei klug und halte dich an Wunder):
Ich brötle gerne eigenen
Im eigenen Stall
Und tanze ich schon mal
Dann nur aus dem Reigen
2. Schritt: Nimm aus jedem der vier Texte eine kurze Zeilen oder einen Halbsatz etc. heraus – und setz diese zu einem Vierzeiler zusammen. Du kannst auch mehrere Vierzeiler machen – mit den gleichen Zeilen in anderer Reihenfolge oder mit anderen …
3. Juni 2024
i wie Impuls
und wie Ins-Schreiben-Kommen und wie Irritation
In meinem 8. Heft der Reihe 26+4 geht es um das, was die Überschrift sagt: um den Impuls, das Ins-Schreiben-Kommen und die Irritation. Besonders geht es um die Irritation. Weil ich glaube, dass ein guter Schreibimpuls immer einen wenn auch noch so winzigen Irritationsaspekt beinhaltet. Es gibt natürlich auch die, die ganz offensichtlich (durch ihre Skurrilität) iritieren – einige davon hier und heute für dich zur Inspiration.
Schreib zu: #diesunddas, 11 Uhr, 2054, 4‘33‘‘, Abendmahl, Aerobic, Atlas, Baumstümpfe, Bewohnbares, Borke, Bügel, Dazwischen, Dichte, Echtzeit, Fahrenheit 451, Feldforschung, Fieber, Fischfutter, FLINTA, Flusen, Frauen*, Freund Hein, Fruchtfliegen, Futur II, Gewortetes, Giersch, Himbeerblau, Japansägen, Kacheln, Kataloge, Kolben, Kurkuma, Lachmöwen, Löcher, Maschinenöl, Menschin, Möglichkeitssinn, Moment 361, Nebennieren, Nebensätze, Nonbinär, Nordnordost, Parallelen, Pflaster, PoC, Raki, Seite 19, Selfie, Semikolon, Streichholzbriefchen, Teppichfransen, Unsinn, Verben, Widerfahrnis oder ZEUX.
Das Heft erscheint in wenigen Tagen.
20. Mai 2024
Wort und Bild
Sommerakademie in Kaufungen
In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt meiner Sommerakademie auf der Grenzüberschreitung zwischen Wort und Bild bzw. zwischen dem Schreiben und dem bildnerischen Gestalten.
Zum einen biete ich einen Abend zum Thema Collage an – der Kurs findet statt, es sind noch zwei Plätze frei.
Kleben und Schreiben – Collagen machen
Dass Collagen zum Schreiben animieren können, ist allgemein bekannt. Dass selbst gemachte Collagen auch zum Schreiben anregen können, schon weniger. Und dass es textliche Collagen gibt, und zwar seit Jahrhunderten, weiß kaum jemand. Wir wollen das Potenzial der Collage klebend und schreibend ausloten. Vorkenntnisse im künstlerischen oder literarischen Bereich sind nicht erforderlich. Eine Materialliste wird kurz vor dem Kurs verschickt.
Termin: 7. 6., 16–21 Uhr
Kosten: 20–30 € (nach Selbsteinschätzung, inkl. Getränke)
Infos/Anmeldung: per Mail bei Kirsten Alers
Zum anderen steht wieder eine Sommerwoche an, in der ebenfalls Wort und Bild miteinander in Kontakt kommen – der Kurs findet ebenfalls statt, und es sind auch hier noch zwei Plätze frei.
forschen, finden, formen
Eine Sommerwerkstatt in Wort und Bild (in Kaufungen)
Mit Kirsten Alers (Schreibpädagogin) und Barbara Sturm (Kunsttherapeutin)
Die Umgebung, Kultur und Natur, persönliche Themen – Resonanzen im Inneren werden verarbeitet, es entstehen Prosastücke, Lyrik und experimentelle Texte genauso wie Bildnerisches mit Farben, Pinseln, Stiften, Schere und Kleber. Texte werden gestaltet, Gestaltetes wird vertextet. Wir forschen, finden und formen in Wort und Bild. Die Kursleiterinnen führen ein in Techniken des Kreativen Schreibens und künstlerischen Gestaltens, leiten an zu verknüpfendem Arbeiten und begleiten die individuellen Prozesse. Die Gruppe bildet den Inspirations- und Resonanzraum. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.
Termin: 15. bis 20. 6. 2024 (Samstag, 9.30 Uhr, bis Donnerstag, 17.00 Uhr)
Ort: Wortwechsel Kaufungen, Raiffeisenstraße 15 (Tram-Haltestelle Niederkaufungen-Bahnhof)
Kosten: 500 € (Kursgebühr) + 130 Euro (Mittags- und Nachmittagsverpflegung, Getränke, Raum- und Materialkosten)
Anreise und Buchung der Unterkunft individuell
Info/Anmeldung: per Mail bei Kirsten Alers
6. Mai 2024
Warmer Lobregen
Textpotenziale erkennen
Ein zunächst einmal irritierendes Verfahren kann wunderbare Effekte erzielen: Lass einen warmen Lobregen auf einen deiner Texte niedergehen.
Schau dir die Gesamtstruktur und anschließend die Facetten des Textes an, schau z. B. auf der sprachlichen Ebene die Wortwahl oder den Rhythmus an, z. B. auf der inhaltlichen Ebene das Wagnis, das der Text möglicherweise eingeht. Widme dich dem, was im Text gelungen ist, welche Potenziale sich zeigen. Lass alle Anmerkungen, aus denen sich Überarbeitungsaufgaben ergeben könnten, außer Acht. Jetzt ist einmal nur Lob erlaubt!
Sollte es dir schwer fallen, das Verfahren auf einen eigenen Text anzuwenden, versuch dich zunächst an einem, der nicht von dir ist – ob es einer von deiner Lieblingsschriftstellerin ist oder einer von einem Mitglied aus deiner Schreibgruppe, spielt (fast) keine Rolle.
Aus didaktischer Sicht geht es bei diesem Verfahren nicht darum, Schwachstellen eines Textes zu leugnen, sondern über die Lenkung des Blickes auf die Potenziale zu registrieren, wo eben die Stellen sein könnten, denen noch einmal Aufmerksamkeit gewidmet werden könnte. Hintergrund ist also die pädagogische Haltung der Ressourcenorientierung.
15. April 2024
Bild und Wort …
… und der Zufall als Impulsgeber
Erster Schritt: Schneide wild Bilder aus Zeitschriften aus. 34 oder 59 oder … Mach aus den Bildern einen Stapel und leg diesen zur Seite.
Zweiter Schritt: Stich in ein Buch und assoziier Wörter zu dem Wort oder Begriff, auf dem dein Finger gelandet ist. Es sollten so viele sein, wie du Bilder ausgeschnitten hast, also 34, 59 oder …
Dritter Schritt: Schreib die Wörter auf kleine Zettel, sortier sie alphabetisch und bilde einen Stapel.
Vierter Schritt: Nimm deinen Bilderstapel und deinen Wörterstapel und bilde Paare aus Bild und Wort – ohne auszusuchen! Kleb das jeweilige Wort auf das jeweilige Bild.
Fünfter Schritt: Misch die beworteten Bilder und zieh eins, das dir als Impuls dienen möge. Heute Abend ziehst du ein anderes, morgen wieder ein anderes …
8. April 2024
Buchtitelcollage
Impuls vom dritten Regalbrett
Geh an dein Bücherregal, ans dritte Brett von oben. Schreib von links nach rechts alle Buchtitel ab (mindestens 17). Und dann mach aus diesen, am besten unter Verwendung aller, einen Text.
Solltest du gerade kein (drittes) Bücherregalbrett in der Nähe haben, weil du unterwegs bist, kommen hier die Titel von meinem: Fische schließen nie die Augen, Wir werden zusammen alt, Auflaufend Wasser, Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker, Es wird Diamanten regnen vom Himmel, Der Sonntag an dem ich Weltmeister wurde, Der Doktor braucht ein Heim, Die Hüterin der Gewürze, Das zweite Paradies, Das Papierhaus, Was machen wir jetzt?, Bin ich schön?, Das blaue Kleid, Rede vom Glück, Strom, Im ersten Licht des Tages, Regenmonat, Taxi, Das ist kein Liebeslied, Sechszehn Wörter, Das Paradies meines Nachbarn …
25. März 2024
Eine Lobrede …
… auf einen eigenen Text
Sicherlich ist es sinnvoll, selbstkritisch zu sein, insbesondere auch den eigenen Texten gegenüber – nichts ist schlimmer, als Texte lesen zu müssen, von denen die Urheber:innen total überzeugt sind und bei deren Lektüre man sich fragen muss, ob die Verfasser:innen jemals ein qualitativ hochwertiges Buch gelesen haben. Aber …
Genauso notwendig ist es, sich nicht klein und schlecht zu machen, sondern einen ressourcenorientierten Blick auf die eigenen Texte zu werfen: Wo sind die Potenziale, wo kann ich Stärken entdecken, welche Wörter, Sätze, Bilder, inhaltliche Ideen sind gelungen?
So also will ich dich dazu anregen, einmal eine Lobrede auf einen eigenen Text zu schreiben, mit eben jenem ressourcenorientierten und nicht mit einem defizitorientierten Blick. Du kannst beginnen mit: Mir gefällt … Oder mit: Ich sehe/höre/lese …
Ob du dich hinterher gestärkt fühlst und deine Lust am Schreiben dir zumindest erhalten hast, ist das Eine. Das Andere ist: Du wendest dich wertschätzend deinem Text zu, in den du ja Zeit und Arbeit investiert hast, außerdem wird sich dir dein Text über deine lobende Beschreibung noch einmal vertieft zeigen und in besonderer Weise aufblühen.
Du kannst auch eine Lobrede auf einen Text einer Schreibfreundin, eines Schreibfreundes schreiben und ihn ihr bzw. ihm schenken.
4. März 2024
Meer schreiben
Impuls aus der Reisenden Schreibwerkstatt
Seit neun Tagen bin ich auf Sylt. Die erste kreative Schreibwoche mit 12 Teilnehmenden liegt hinter mir. Am Samstag reiste die zweite Gruppe an. So viele großartige Impulse bietet diese Umgebung – einer möge dir ebenfalls Impuls sein: Schreib zum Bild, das du hier siehst.
5. Februar 2024
Schreiben lernt man durch Schreiben
Fragen an den eigenen Text
Seit acht Jahren gestalte ich einmal im Jahr ein Blockseminar an der Uni Kassel: Schreiben lernt man durch Schreiben. Angesiedelt ist es im fächerübergreifenden Bereich der Schlüsselkompetenzen. Die Studierenden lernen Techniken des Kreativen Schreibens kennen und wenden sie auf ein Schreibvorhaben an, das sie sowieso bearbeiten müssen oder wollen, ein hochschulisches oder ein privates.
Einige der Studierenden müssen auch zusätzlich zur Anwesenheit weitere Studienleistungen (für den Erwerb weiterer Credits) absolvieren. Ich biete u. a. an, dass sie sich – mit Hilfe von mir zur Verfügung gestellten Literatur – eine Schreibübung ausdenken, die sie dann mit der Seminargruppe durchführen und reflektieren.
In diesem Semester hat eine Studentin sich eine Übung ausgedacht, die mich sehr begeistert hat. Inspiriert vom Roman in Fragen von Padgett Powell schlug sie der Gruppe zwei Frageverfahren vor, die auf einen mitgebrachten ca. 20-zeiligen Absatz aus dem aktuellen Schreibvorhaben angewendet werden sollten:
- Fragen 1.0: Form alle Sätze in deinem Text in Fragen um.
- Fragen 2.0: Stell Fragen an deinen Text, an einzelne Begriffe, an die Inhalte, an die Sprache etc.
Ich bin Leonie H. wirklich dankbar: für die Anregung und die Erweiterung meines Methoden-Portfolios.
29. Januar 2024
Juckreizwörter 1
Impuls und Nachahmungsempfehlung
Zu meinem 30-jährigen Lehrjubiläum letztes Jahr bekam ich von einer meiner Schreibgruppen ein wundervoll inspirierendes Geschenk: den Wortfächer mit Juckreizwörtern (von Andrea Maria Keller). Juckreizwörter sind Nomen, die aus drei Wörtern zusammengesetzt sind; das mittlere Wort gehört, nähme man das Juckreizwort auseinander, zu beiden anderen. Ein Beispiel: Das Juckreizwort Pflichtgefühlsduselei ist entstanden aus Pflichtgefühl und Gefühlsduselei.
Und ist das nicht wirklich ein Wort, das sofort einen Juckreiz erzeugt, bestenfalls natürlich einen, dem mit Schreiben entgegengewirkt werden kann. Oder mit dem Erfinden weiterer Juckreizwörter.
1. Januar 2024
Den Raum zwischen uns ausloten
Ein Schreibimpuls-Geschenk von Kolleginnen
Von Ilse Baumgarten und Jutta Beuke, Kolleginnen vom Tegernsee (www.schreibraeume.de), bekam ich folgenden Schreibimpuls geschenkt.
Bitte, schreib das Wort einander so auf ein Blatt Papier, dass du ein Wort voranstellen kannst:
einander
Nimmst du die Einladung zum Schreiben spielerisch? Dann schreib dir die unten aufgelisteten Vorsilben auf kleine Zettel, leg sie in eine Schachtel und wähl dir – Tag für Tag (solange du Lust verspürst) – einen Begriff intuitiv als Impuls aus. Oder du liest dir die Liste durch und weißt spontan, wozu du es für dich in diesem Moment langgeht.
an…, mit…, gegen…, für…, durch…, hinter…, über…, auf…, neben…, unter…, in…, bei…, vor…, um…, von…, zu…
Nun beginnt das Schreiben: Setz die von dir ausgewählte Vorsilbe und einander zusammen und sprich dir das Wort innerlich leise vor.
Vielleicht verstehst du das Wort als Subjekt oder doch eher als Adjektiv? Klingt es für dich positiv und mutmachend oder trägt es einen fahlen Beigeschmack? Mag also sein, dass du in dem Begriff eine Ambivalenz aufspürst. Welches Verb verbindet sich für dich widerstandslos mit dem Wort? (etwa: stehen, singen, tänzeln, trennen, hüpfen, lachen, stapeln …, welches auch immer dir in den Sinn kommt, du wirst es hören!).
Schreib einen ersten Satz, in dem das zusammengefügte Wort und das dazugehörige Verb vorkommen. Und dann beginn, davon zu erzählen, welche Qualität der Begegnung zwischen Menschen entsteht, die sich so positionieren.
Wirst du einen Fließtext schreiben? Oder einen Schneeball, mit der Mittellinie auf 7 Wörtern? Oder ein Tanka, in dem der Oberstollen bebildert und der Unterstollen reflektiert? Lass dich von der Schreibenergie tragen, wie sie sich in den Schreibwerkstätten so wunderbar ausbreiten kann (in der du dich jetzt quasi ja gedanklich befindest, da andere auch diesen Impuls aufgreifen).
11. Dezember 2023
Der Anti-Wunschzettel
Was ich auf gar keinen Fall geschenkt haben möchte
Die Überschrift sagt es schon: Schreib einen Anti-Wunschzettel mit Sachen, die du auf gar keinen Fall geschenkt haben möchtest. Neben Dinglichem kommt auch Abstaktes infrage.
Mein Anti-Wunschzettel beginnt mit Dinglichem:
- Weihnachtsdeko (außer selbstgebastelt von den Enkelkindern)
- Brettspiele
- Bücher mit weisen Sprüchen, Krimis, Reiseführer
- elektronische Weihnachtskarten
- Gutscheine von Ladenketten
- …
P.S. Wer gerne Bücher verschenken mag zu Weihnachten: Der Dorfbuchladen Kaufungen ist mit einem ausgesuchten Angebot vom 15. bis 17. Dezember auf dem Kaufunger Weihnachtsmarkt rund ums Stift in Oberkaufungen zu finden – im Mitmachhaus links vom Regionalmuseum!
20. November 2023
Im Dialog mit einem Stein
Was sich dir anbietet zum Gespräch
Am Wochenende trafen sich in der Uni Kassel zehn Mitglieder des Segeberger Kreises (segeberger-kreis.de), einer Vereinigung von Schreiblehrer:innen und -didaktiker:innen, um die nächste Segeberger Jahrestagung vorzubereiten. Nach intensiven Diskussionen einigten wir uns auf ein Thema: Im April nächsten Jahres treffen wir uns und schreiben unter dem Motto „Prinzip Dialog“. Nachdem wir das Thema festgelegt hatten, entwickelten wir Ideen für Unterthemen, zu denen sich dann Kleingruppen Bilden werden. Auch erste konkrete Schreibimpulse wurden generiert. Mich haben viele unserer Ideen begeistert – eine aber, möglicherweise aufgrund ihrer Schlichtheit, besonders: Öffne die Augen und schau, was sich dir zum Dialog anbietet: ein Kiesel, eine Wolke, ein Käsebrot, ein Bügel … Dann gestalte den Dialog.
13. November 2023
Ausstellung TIDE
Tauba Auerbach in Kassel
Ob ich schon mal eine Ausstellung beworben habe? Ich weiß es nicht. Jetzt tue ich es – und empfehle einen Besuch im Museum Fridericianum in Kassel. Noch bis Ende Januar ist dort die Ausstellung TIDE mit Werken der US-amerikanischen Künstlerin Tauba Auerbach (geboren 1981) zu sehen. Jenseits dessen, dass die Art ihrer prozesshaften künstlerischen Forschung mich fasziniert, bietet die Ausstellung auch wirklich spannende Schreibanregungen – u. a. die 188 Studien aus der Serie Ligature Drawing (2016–2023), die das Foto zeigt.
30. Oktober 2023
U-Bahn-Gedichte
Oulipotischer Zeitvertreib
Die meisten Menschen, die ich in öffentlichen Verkehrsmitteln beobachte, sind mit ihren Smartphones beschäftigt. Manche unterhalten sich, einige wenige lesen. Schreiben sehe ich eigentlich niemanden. Ich schreibe und zeichne während meiner Fahrten, ob in der Straßenbahn, im Bus oder im Zug. Vielleicht hast auch du Lust, einmal schreibend eine solche Fahrt zu verbringen – gerade, wenn du jeden Tag auf einer bestimmten Linie unterwegs bist, ist es möglicherweise spannend, diese schreibend zu begleiten. Das dachten sich auch schon die Oulipot:innen, als sie sich folgende Contrainte ausdachten:
Auf einer Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel entsteht jeweils an den Haltestellen eine Gedichtzeile. Das Gedicht hat am Ende so viele Zeilen, wie es auf der Fahrt Haltestellen gegeben hat.
Quelle: Mathews, Harry / Brotchie, Alastair (Hg.) (2005): OULIPO COMPENDIUM. 2. revidierte und aktualisierte Auflage. London/Los Angeles: Atlas Press/Make Now Press
Wenn du mehr über die Gruppe und Ideen von OuLiPo sowie ihre Contraintes wissen willst, empfehle ich meine Veröffentlichung:
-
Kirsten Alers: o wie OuLiPo, wie optional, wie ohne
72 Seiten Broschur | 12 Euro
Wortwechsel Kaufungen | ISBN 978-3-935663-36-6
(Bestellungen bei mir direkt oder im Buchhandel)
23. Oktober 2023
Schlangentext
Ausgang ungewiss
Nimm einen Satz. Einen, der dir gerade gesagt wurde. Einen, den du gestern geschrieben hast. Einen, der dir beim Aufschlagen des neben dir liegenden Buches als erster vor Augen tritt. Schreib ihn auf. Er bildet den ersten Satz deines Schlangentextes. Der zweite Satz beginnt mit dem letzten Wort des ersten. Der dritte Satz beginnt mit dem letzten Wort des zweiten. Usw. usf. Lass dich einfach ziehen, denk nicht zu viel über eine stringente Textstruktur, einen sinnvollen Inhalt nach, die ergeben sich – oder auch nicht. Liest du dir deinen Text laut vor, kannst du den Echoeffekt wahrnehmen, der sich durch das Verfahren ergibt.
Kennen gelernt habe ich das Verfahren durch ein Werk mit dem Titel „2. Schlangengedicht“ von Meret Oppenheim. In diesem Werk von 1974 beginnt allerdings jedes Wort mit dem letzten Buchstaben des vorherigen Wortes. Auch dieses Verfahren kann zu erstaunlichen ergebnissen führen – allerdings spielt der Klang hier keine Rolle.
25. September 2023
Wenn mir nichts einfällt
Was mache ich dann?
Immer wenn sich das Semester nähert, wenn ich weiß, dass ich demnächst wieder rund zehn Texte pro Woche schreiben muss, weil ich ja in meinen Schreibgruppen immer mitschreibe und die Texte auch vorlese, beschleicht mich eine Sorge: Werde ich etwas zu sagen haben, werde ich (Muster-)Texte verfertigen können, die sprachlich und inhaltlich zumindest das Niveau des letzten Jahres haben?
Es ist ja nicht so, dass ich nicht schriebe, wenn ich keine Kurse habe – jeden Morgen schreibe ich drei Morgenseiten, ich schreibe Essays, Briefe, Mails; Listen u.v.m. Aber trotzdem denke ich, es könnte doch sein, dass ich jetzt, also ab diesem Oktober ausgeschrieben bin …
Und manchmal ist es ja tatsächlich so: Dann habe ich Lust zu schreiben, weil ich immer Lust haben auf das, was Schreiben ausmacht, aber mir fehlt der Inhalt. Ja, warum schreibe ich denn dann? Weil ich Lust habe zu schreiben, so wie ich Lust habe, Erdnussmus zu essen. Gut, sage ich mir, ich will also schreiben, dann schreibe ich also einfach – und kümmere mich nicht um Inhalte.
Aha, sagst du jetzt vielleicht, na dann … Und ich sage: Ja, genua, es geht. Und es ist sinnvoll. Und es kommt immer etwas dabei heraus: die Spuren auf dem Papier, die Kontemplation – und erstaunlicherweise etwas Inhaltliches. Das aber passiert nur, wenn ich nicht warte, bis mir etwas einfällt, sondern tatsächlich einfach schreibe. Ein Paradoxon, das mich nach so vielen Jahren der Schreibpraxis immer noch fasziniert.
Es eignet sich, um dieses Magische zu erleben, meines Erachtens vor allem das nicht fokussierte Freewriting, das Losschreiben ohne Thema und Idee. Aber es eignen sich auch Impulstexte: Stich ohne hinzuschauen in die Zeitung von heute oder in ein Buch – und schreib los mit dem Begriff, den dein Finger gefunden hat. Oder lass dir von jemandem drei Wörter schenken (das geht auch auf der Straße von dir nicht bekannten Menschen).
Und so, das weiß ich doch eigentlich, wird es mir auch in meinen Kursen gehen, die im Oktober wieder starten: Ich werde schreiben, und schreibend wird sich mir etwas zeigen – oder auch nicht, das muss ich dann auch mal aushalten, wie meine Kursteilnehmer:innen ja schließlich auch.
14. August 2023
In jemandes Namen
Tagebuchschreiben 2
Ein Tagebuch zu schreiben, ist etwas sehr Persönliches, meist total Privates und auch Geheimes. Genauso aber, wie es möglich ist, ein Tagebuch komplett zu erfinden, ist es auch möglich, ein solches im Namen einer realen dritten Person zu schreiben.
Eltern können ein Tagebuch im Namen ihres Babys schreiben. Meine Eltern haben das gemacht. Da ist zu lesen (in meines Vaters Handschrift): Die ersten Tage meines Lebens verbrachte ich im Kaiser-Wilhelm-Krankenhaus, bis ich dann mit Mutti am 20. August 1960 nach Hause zur Gabelsberger Str. 36 fuhr, wo Mutti und Vati zwei Zimmer bewohnen. […]. Oder später (in der Handschrift meiner Mutter): Als ich zwei Jahre alt war, stand mein Mund nur noch im Schlaf still. Ich erzählte Mama u. Papa u. all meinen Puppenkindern die tollsten Geschichten. Alles, was ich beobachtete, faßte ich sofort in Worte. Dabei kam kam oft ein köstliches Deutsch zustande, z. B.: „Wenn die Husche-husche-Eisenbahn vorbeigefahren hat, kann der Bus fahren!“ oder: „Dat Püppchen, dat da sitzt, kann die Kirsten mal haben.“
Neulich las ich in einer Werbebeilage einer Zeitung, dass Familie und Bekannte für einen Koma-Patienten kollektiv ein Tagebuch geschrieben haben, um ihm dabei zu helfen, nach dem Wiederaufwachen Lücken zu schließen.
Vielleicht kann es auch schön (und sinnvoll) sein, ein Tagebuch im Namen einer intellektuell beeinträchtigten Person zu schreiben, die nicht schreiben kann – möglicherweise auch auf Grundlage gesprochener Tageserzählungen dieser Person.
7. August 2023
Erfinde dich neu!
Tagebuchschreiben 1
Logbuch eines Faultiers
Montag. Ich hing. Ich hing am Baum. Da, wo immer. Ich hing. Bis elf. Oder zwölf. Stunden – was sind Stunden?! Ich hing. Und öffnete ein Auge. So gegen neun. Sah diesen Hektizierern zu. Hasen, Eichhörnchen, Affen. Meine Güte. Meine Güte. Ich schloss das Auge. Ich hing. Ich hörte den Eifrigen zu. Igeln, Schlangen, Spechten. Meine Güte. Ich setzte mich auf. Gegen elf. Oder zwölf. Ich fraß. Kaute. Schluckte. Ich hing. Ich verdaute. Bis drei. Am Südast. In der Sonne. Ich genoss die Sonne. Es war still. Die Hektizierer ruhten. Die Eifrigen ruhten auch. Ich räkelte mich. Bis gegen vier. Dann stieg ich höher. Füllte den Vorrat auf. Stieg wieder hinunter. Verließ den Baum. Sammelte Früchte. Bevor die Anderen wieder. Ich ächzte. Ich stöhnte. Ich schwitzte. Ich hechelte. Ich verfluchte die Sonne. Ich verfluchte die Anderen. Weil sie gesammelt hatten. Ich musste weit laufen. Bestimmt 200 Meter. Ich verfluchte mein Wesen. Um fünf war Schluss. Mein Baum. Er war noch da. Ich erklomm ihn. Ich erreichte den Nordast. Ich hängte mich daran. Ich hing. Ich war müde. Ich musste ruhen. Ich hing bis acht. Machte kein Auge auf. Sah nicht die Hektizierer. Verschloss die Ohren. Hörte nicht die Eifrigen. Ich fraß gegen acht. Wie immer. Jetzt ist es zehn. Ich bin so müde. Ich gehe hängen.
Diesen Text schrieb ich 2015 während einer Schreibwerkstatt. Der Impuls, zu dem ich den Text schrieb, heißt: Welches Tier entspricht gerade deiner Stimmung oder deiner gewünschten Verfassung? Schreib aus Sicht dieses Tieres einen Tagebucheintrag.
Inspiriert zu diesem Impuls, den ich schon oft in Schreibgruppen gegeben habe, haben mich die wunderbaren und sehr ansprechend gestalteten, bei Gerstenberg erschienenen Wombat-Tagebücher:
- French, Jackie / Whatley, Bruce (2016): Tagebuch eines Wombats.
- French, Jackie / Whatley, Bruce (2019): Tagebuch eines Babywombats.
17. Juli 2023
Pseudotext
Imitation eines Schriftbildes
Ob dieser Post Schreibanregung genannt werden kann – ich weiß es nicht. Denn mit Schreiben verbinden wir ja doch etwas Lesbares. Ich nenne ihn jetzt trotzdem mal so. Und empfehle damit, dich an einem Pseudotext zu versuchen.
Ich tue es, weil es mir Spaß macht, ab und zu ein Schriftbild zu imitieren, zu schreiben, ohne Inhaltliches zu produzieren. Ich stelle mir die Schrift, das Schriftbild meiner Mutter, meines Vaters, meiner Schwester, meiner Freundin vor – und ahme sie nach. Oder ich stelle mir ein arabisches oder kambodschanisches Schriftbild vor – und versuche mich an einer Nachahmung, ohne etwas Konkretes abzumalen; nur das zu reproduzieren, was in meinem Kopf an Charakteristika vorhanden ist, kommt zu Papier. Eine dritte Variante ist, noch abstrakter zu werden und nur Linien unterschiedlicher Längen aufs Papier zu setzen.
5. Juni 2023
Die Geschichte des Butterbrots
Grafische Geschichten nutzen
Schreib die Geschichte des Butterbrots! Nutze dafür die Geschichte von Nadine Redlich. Nadine Redlich (geboren 1984) ist Illustratorin und Cartoonistin. Im Kasseler Verlag Rotopol, der auf Grafisches Erzählen spezialisiert ist, sind ihre wunderbaren Sammlungen kleiner sechsteiliger Geschichten erschienen, die ganz ohne Wörter auskommen. Gleichzeitig regen sie dazu an, sie zu vertexten.
Quelle: Redlich, Nadine (2017): Ambient Comics. Sammelband mit einem Vorwort von Nicolas Mahler. Kassel: Rotopol
22. Mai 2023
Königinnenmethode Freewriting
Sieben Gerüstaufgaben zum Üben
Frei schreiben, den Stift fließen lassen, im Rausch die Seiten füllen, schreibend suchen und finden, auch das, was man gar nicht gesucht hat – das zu können, wünschen sich viele Schreibende.
Völlig zu Recht wird das Freewriting in der Fachliteratur als eine der Königinnenmethoden empfohlen (z. B. von Judith Wolfsberger, 2009). In Schreibgruppen aller Art kommt es u. a. beim anfänglichen ,Warmschreiben‘ zum Einsatz: Auch beim Sport muss man sich ja zuerst warmlaufen, bevor man sich dem spezifischen Training widmet. Und dann soll man es aber einfach können … Meine Erfahrung in Schreibgruppen zeigt: Die meisten Teilnehmenden können es (zumindest am Anfang) nicht.
Weil es tatsächlich aufgrund unserer Schreibsozialisation in Schule, Hochschule und Beruf nicht einfach ist, sich auf das Freewriting einzulassen, könnten zunächst kleine Aufgaben helfen, in den Fluss zu kommen, also sozusagen ,Gerüstaufgaben‘, an denen du dich festhalten und entlanghangeln kannst, um dem Ziel, ,einfach‘ loszuschreiben, free und im flow, immer näher zu kommen, dem „Blindschreiben, Fluten“, wie es der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon bezeichnet (1985: 105). Oder wie es die Schreiblehrerin Anna Platsch wunderschön ausdrückt: „So leert sich der innere Raum von Vorstellungen, und ETWAS beginnt zu schreiben. In wilder, furchtloser Frische, aus einer aufgeweckten, stillen Seele“ (2014: 22; Hervorh. i. Orig.).
Einige Gerüstaufgaben möchte ich hier empfehlen:
- Assoziative Liste: Zu jeder Idee kannst du jederzeit eine Liste machen, schnell, ausufernd, nicht sortierend.
- Tautogrammatische Liste: Nimm ein Wort, das dich anspringt, und sammel so viele Wörter, wie dir in zwei Minuten in den Kopf kommen, die mir dem gleichen Buchstaben beginnen.
- Klang-Liste: Folge dem Klang und fertige Reimlisten an: fliegen, Ziegen, biegen, betrügen …
- Fragen: Schreib Fragen auf, eine nach der anderen, nicht zu einem Fokus, sondern wild durcheinander zu allen Aspekten des Lebens.
- Kettentext: Lass dich von Assoziationen und Sprüngen leiten, wenn du schreibst: „kalt, aber neu, neu, aber frech, frech, aber rot, rot, aber liniert, liniert, aber französisch …“. Irgendwann reicht es vielleicht und du verlässt das Muster und schreibst ungebunden weiter.
- Fragmente, Buch-Stechen: Stich in ein Buch, nimm das Wort – und notier den ersten Gedanken, das erste Bild, der/das auftaucht. Mach das zehnmal hintereinander, um zu lernen, deinen Zensor, der dir sagt, „das ist doch Quatsch, das gilt nicht, was du da denkst, was du da siehst“, zu überlisten. (Später kannst du auch weiterschreiben, wenn dir ein Gedanke, ein Bild sehr gut gefällt, erst einmal aber überlass dich dem Schnellen, dem Zufall, dem Einfall.)
- Fragmente, 5-Minuten-Texte: Nimm alle fünf Minuten ein neues Wort (lass es dir von jemandem geben oder stich blind in ein Wörterbuch), schreib schnell mit diesem Impuls als Losschicker, nicht unbedingt als Themengeber; mach das mindestens fünf Mal hintereinander.
Mehr zum Freewriting und wie es sich z. B. vom Automatischen Schreiben unterscheidet, kannst du nachlesen in einem Interview mit mir in der Zeitschrift eXperimenta und in meinem Heft aus der Reihe 26+4 (dort findest du auch die Quellenangaben): Alers, Kirsten (2022): f wie Freewriting, wie fließen, wie fantastisch. Du kannst es hier bestellen.
8. Mai 2023
Mach eine Liste …
… deiner inneren Bilder
Listen zu machen, ist leicht. Listen zu machen, ist reizvoll. Listen zu machen, ist immer wieder neu.
Mach eine Liste deiner inneren Bilder, also quasi ein Automatisches Schreiben ohne Fließtext.
Hier meine von heute Morgen:
9. Mai
Eine Parade mit Elefanten
Ein roter Sonnenschirm
Der spiegelnde blaue See
Vielleicht ein Eichhörnchen
Ein Ziegel fällt
Geldscheine, aufgerollt
Ein Jackett in Schwarz
Abgestürzt beim Flugversuch
Rennen, rennen, rennen
Eine Gießkanne in der gelben Tonne
Die geplatzte Wassertonne
Westminster Abbey
Ein Schwarm Orkas
Eine defekte Drehleiter
17. April 2023
Akrostichon & Co.
Banal oder genial?
In jedem Ratgeber oder anderen Buch zum Kreativen Schreiben sind die Textsorten Akrostichon und ABCdarium zu finden. Meistens werden sie wärmstens empfohlen, das Akrostichon als niederschwellige oder – um in der Sport-Terminologie zu bleiben – intervalltrainigsgeeignete Einstiegsübung für Schreibneulinge, das ABCdarium als Ideensammlungshilfe. Stimmige Akrostichons und experimentelle ABCdarien zu schreiben halte ich allerdings für alles andere als banal (vgl. hierzu auch Alers 2022a).
Definitionen: Ein Kryptichon hat ein Wort pro Zeile, ein klassisches Akrostichon mehrere Wörter, bei einem Mesostichon erscheint das Schlüsselwort in der Mitte und beim Telestichon am Ende. Allen gemeinsam ist, dass das Schlüsselwort, der das Thema bezeichnende Begriff senkrecht aufs Papier gesetzt wird, um dann eine der Anzahl seiner Buchstaben entsprechende und den Inhalt des Begriffs ausgestaltende ,Liste‘ zu schreiben. Akrostichon-Gebilde können als einfache oder komplexere assoziative Sammlungen – wie die in Schreibwerkstätten gern geschriebenen Namens-Kryptichons mit Selbstzuschreibungen in Form von Nomen oder Adjektiven – daherkommen, sie können aber auch als kunstvolle lyrische Gebilde gestaltet werden.
Das ABCdarium ist ebenfalls eine Akrostichonvariante, bei der das gesamte Alphabet an den linken Rand des Blattes geschrieben wird, um dann zu jedem Buchstaben etwas zu einem Thema zu assoziieren. Ja, es ist ein Brainstorming-Verfahren. Gestaltete ABCdarien gibt es aber schon seit Jahrtausenden, das bekannteste ist vielleicht Psalm 119, dessen Strophen jeweils mit den Buchstaben des (hebräischen) Alphabets beginnen. Und nicht zuletzt entstanden auch kunstvolle Formen im Kontext der Gruppe OuLiPo.
Von Franz Mon (2002) habe ich ein ABCdarium-Verfahren gelernt, das ich Schüttelmetaphern nennen möchte (er nannte es Vogelentsafter). Hierbei werden zu jedem Buchstaben zwei Wörter, meistens Nomen, kombiniert, die nicht unbedingt zusammen passen (und auch nicht wie in meinen Beispielwörtern mit dem gleichen Buchstaben beginnen müssen); so entstehen Neologismen (Wortneuschöpfungen) wie z. B. „Ankeraffe, Buchbeschwerer, Chimärencollage … Zentralzynismus“ – und darin wiederum stecken Keime für wundervolle Texte.
Das Alphabet lässt sich auch im erweiterten Modus nutzen. So kann man sich ein persönliches oder literarisches Wörterbuch anlegen. Als Beispiel sei hier der Buchstabe A aus dem Wörterbuch eines Trinkers von Benjamin Franklin vom 13. 1. 1737 angeführt: „A Er ist / abgefüllt / angepflockt / angesäuselt / angeschlagen / angesoffen / angestachelt / angetaut / angezählt / aufgerichtet / aufrecht / ausgefranst / Er hat sich die Augen nass gemacht“ (zit. nach Usher 2015: 39).
Herausfordernd sind aber wohl alle Akrostichon-Varianten dann, wenn man geschlossene Texte mittels ihrer gestaltet. Als Beispiel ein ABCdarium-Satz aus meiner Feder (Alers 2022b):
Schreibwerkstatt-Inventur
Am Boden: contraintes, darüber ein fulminant grandioser heterogener Inspirationsnebel; jenseits: Kisten, Lampen, Memoiren, Nichtiges; Offenbares: Papier, Quellen, Randerscheinungen, Stifte, Text(uren) und Versuche; wabernd: x years Zauberkraft.
Quellen
Alers, Kirsten (2022a): o wie anfangen, wie Alphabet, wie allerlei. Kaufungen: Wortwechsel
Alers, Kirsten (2022b): o wie OuLiPo, wie optional, wie ohne. Kaufungen: Wortwechsel
Usher, Shaun (Hg.) (2015): 1. LISTS 2. of 3. NOTE. Aufzeichnungen, die die Welt bedeuten. München: Heyne
3. April 2023
Eier anmalen
… oder Eier anschreiben
Eins meiner Lieblingskinderbücher ist Wir Kinder aus Bullerbü. Und eine der lustigsten Geschichten darin ist die, in der die Kinder Ostereiersprüche dichten: Dies Ei ist für Inga-Anna anstelle einer Bratpfanna (oder so ähnlich). Auf geht’s.
(Das Foto bekam ich vor vielen Jahren von meinem Bruder geschickt, die Quelle kennen wir leider nicht.)
20. März 2023
22.24 Uhr MEZ
Schreib dich in den Frühling
Um 22.24 Uhr beginnt heute der Frühling. Schreib dich in ihn hinein. Schreib einfach.
Schreib. Dich. Hinein. Frühling. Tagundnachtgleiche. Licht. Vielleicht schreibst du morgen ganz früh wenn die Sonne gerade aufgeht … Schreib einen Freien Text oder mach ein Freewriting oder schreib automatisch.
(Zum Unterschied zwischen Freiem Text, Freewriting und Automatischem Schreiben empfehle ich die Lektüre meines Heftes aus der Reihe 26+4 f wie Freewriting, wie fließen, wie fantastisch.)
27. Februar 2023
Meer schreiben
Weil ich auf Sylt bin …
Zwei Wochen bin ich auf Sylt, vom 25. Februar bis zum 11. März. Zum Schreiben. Die beiden Kurse, die ich dort leite, heißen Meer schreiben. Vielleicht magst du auch Meer schreiben. Das Foto möge dich inspirieren.
20. Februar 2023
Lustiges Schreiben …
… statt lustiges Feiern
Heute ist Montag. Rosenmontag. Ich habe in meiner heutigen Schreibwerkstatt den Rosenmontag ignoriert, wir haben zu Fotos aus unseren privaten Fotoalben geschrieben. Eben jetzt denke ich: Wir hätten auch etwas Lustiges schreiben können, z. B. einen Limerick. So also will ich es jetzt empfehlen – und lustig schreiben, z. B. einen Limerick, geht ja auch noch morgen oder gar am Aschermittwoch …
Ein Limerick ist ein fünfzeiliges Gedicht irischen Ursprungs mit komischer oder grotesk-satirischer Endzeile. Die Reime folgen dem Schema aabba, die drei a-Zeilen haben die gleiche Anzahl Hebungen, die beiden b-Zeilen auch, sie sind aber mindestens eine Hebung kürzer.
Das Schema
1. Zeile: Person und Ort
2. Zeile: Tätigkeit/Vorhaben
3. Zeile: das Ereignis
4. Zeile: das Ereignis
5. Zeile: Pointe, Witz
Ein bekanntes Beispiel (Verfasser:in unbekannt)
Ein Pfarrer machte in Kamen
gerade sein Fahrschulexamen.
Da stürzte ein Laster
aufs Auto samt Paster.
So kommt man durch Laster um: Amen!
13. Februar 2023
Statt Elfchen:
Fünfchen und Neunchen
Komisch, dass nicht schon jemand auf die Idee kam … Elfchen werden in Schreibgruppen mit Anfänger:innen gern genutzt. Mancher Schreiblehrerin hängen sie schon länger zum Hals heraus. Mir jedenfalls ging es so. So habe ich im letzten Jahr kurzerhand Fünfchen schreiben lassen – und brachte so vor allem für mich frischen Wind ins Kurzlyrikschreiben. Ein Fünfchen sieht so aus (jedenfalls das, welches ich erfunden habe):
Wort 1
Wort 2 Wort 3 Wort 4
Wort 5
Denkbar sind natürlich auch Sechschen oder Neunchen … Ein Neunchen würde ich so aussehen lassen wie einen Schneeball:
Wort 1
Wort 2 Wort 3
Wort 4 Wort 5 Wort 6
Wort 7 Wort 8
Wort 9
Oder so:
Wort 1
Wort 2 Wort 3
Wort 4 Wort 5
Wort 6 Wort 7 Wort 8
Wort 9
Ein Zwölfchen ist übrigens schon erfunden, es ist ein Elfchen mit Überschrift.
6. Februar 2023
Schreibimpulse
Wie du sie dir selbst geben kannst II
Am 9. Januar, also genau vor vier Wochen, postete ich bereits ein paar Ideen, wie du dir selbst fürs tägliche Schreiben Impulse geben kannst, damit du nicht nur in der wöchentlichen oder vierzehntägigen Schreibwerkstatt ins Schreiben kommst. Heute will ich die Ideenliste ergänzen mit drei weiteren Varianten:
Variante 1: Du kannst Freund:innen bitten, dir kleine Impulse auf zusammengefalteten Zetteln zu schenken, die du in einem Behältnis sammelst, um dann bei Bedarf einen Impuls zu ziehen.
Variante 2: Du nimmst einen Rechtschreib-Duden und stichst jeden Tag (oder immer, wenn du schreiben willst) mit dem Finger hinein; das Wort, das dein Finger trifft, ist dein Schreibimpuls.
Variante 3: Eine meiner Schreibwerkstattteilnehmerinnen verriet mir letzte Woche, dass sie die Wörter aus meinem Jahresprojekt „Blütenlese 2021“ als tägliche Losschick-Impulse nutzt – danke für den Tipp, Mimi. Interessierte finden diese Wörter hier.
9. Januar 2023
Schreibimpulse
Wie du sie dir selbst geben kannst
Vor drei Jahren habe ich den Vorfrühlings-Adventskalender erfunden, in dem sich 24 Impulse befanden, die ich in den 24 Tagen vor dem 21. März an alle Schreibinteressierten in meinem Verteiler schickte. Diese Mini-Impulse fürs tägliche Schreiben kamen sehr gut an – seiher gibt es den Schreibimpuls-Kalender in der Adventszeit, allerdings mittlerweile kostenpflichtig …
Nun, der Advent ist ja gerade vorbei. Wenn du nicht warten willst auf Impulse, schenk dir einfach selbst welche. Schreib Wörter oder Sätze auf kleine Zettel und schneid Bilder und Schlagzeilen aus Zeitschriften aus. Falte alle zusammen und wirf sie in eine Kiste, einen Topf, einen Hut. Nun ziehst du, ohne hinzuschauen, jeden Tag einen Impuls für dich heraus und schreibst eine Zeitlang. (Gut ist es, die tägliche oder wöchentliche Schreibzeit mit dir selbst zu vereinbaren, und auch festzulegen, wie lange du dann, wenn du den Impuls ziehst, schreiben willst.)
Die Idee zum Selbstmachen von Schreibimpulse habe ich entwickeln dürfen aus einer Anregung von Barbara S., die ich am vergangenen Wochenende in meinem Kurs Anfänge … auf der Burg Fürsteneck kennen gelernt habe. Danke, Barbara!
26. Dezember 2022
12 Rauhnächte
Zeit zum Besinnen
Die Zeit ,zwischen den Jahren’ gilt seit alters her als eine besondere. Den zwölf Rauhnächten um den Jahreswechsel zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar wird eine spezielle Kraft zugesprochen. Mannigfaltige Rituale sind überliefert. Ihren Ursprung hat die Heraushebung von zwölf Nächten in der Differenz zwischen Mond- und Sonnenjahr: Während ein Mondjahr 354 Tage hat, hat das Sonnenjahr 365 (oder alle vier Jahre 366).
Unabhängig davon, ob man sich mit spirituellen Ritualen verbinden möchte: Die Zeit zwischen den Jahren empfinden viele von uns als eine, die herausfällt aus allem – sie gehört nicht zum alten und auch noch nicht zum neuen Jahr, wir lassen das Vergangene Revue passieren, bereiten uns (z. B. mittels der berühmt-berüchtigten guten Vorsätze) auf das Kommende vor.
Die Rauhnächte sind also eine ideale Zeit, um zu schreiben: zur Besinnung, zur Selbstreflexion, zur Reinigung, zum Abschließen, zum Neu-Beginnen. Heute, zur zweiten Rauhnacht (26./27. 12.), möchte ich dir folgende Schreibanregung geben:
Erzähl eine Geschichte aus dem vergangenen Jahr, die du erzählen willst!
1. Schritt
Variante A: Erzähl DIE Geschichte des Jahres, die bewahrt werden will, weil sie großen (symbolischen) Wert hat.
Variante B: Erzähl eine Geschichte, die noch einmal erzählt und dann ZUR SEITE gelegt werden will, weil sie etwas enthält, das dich gehemmt oder ausgebremst hat.
Variante C: Erinnere dich an die Geschichten zu den Rauhnächten, die du früher gehört hast, von Großmüttern oder anderen älteren Menschen, die davon handeln, warum in diesen Tagen die Wäsche nicht rausgehängt werden darf, was sich hinter der Wilden Jagd verbirgt usw.
STOPP: Erst nach dem Schreiben hier weiterlesen.
2. Schritt
Lass deine Geschichte liegen, mach etwas Anderes, mindestens eine halbe Stunde lang, schlaf, spül, geh spazieren ... Dann lies dir die Geschichte noch einmal durch und finde einen Essenzsatz oder vervollständige drei Mal den Satzanfang: „Ich erkenne ...“.
5. Dezember 2022
Altruistisches Fegen
Advents-Kurz-Impuls
(Schreibimpulsadventskalender, in Kooperation mit der vhs Region Kassel), immer nur ein Wort, ein Bild, ein kurzer Text … Heute, am 5. 12., habe ich anlässlich des Internationalen UNO-Tag des Ehrenamtes folgenden Impuls verschickt, den ich jetzt auch hier zur Verfügung stelle:
Fege jemandes Regenbogen (und deinen eigenen).
Schreib ein paar Minuten – vielleicht hast du eine Person vor Augen, deren Regenbogen zu gern fegen würdest.
28. November 2022
Ja, Nein oder doch …
Eine Übungssequenz
Vor einigen Tagen war ich eingeladen, an einer Schreibübungssequenz teilzunehmen, die eine meiner Student:innen entwickelt hatte und mit jemandem ausprobieren wollte, bevor sie sie in einer Gruppe einsetzt. Die Sequenz ist dem Kontext des therapeutischen/heilsamen Schreibens zuzurechnen.
Janina K. lud mich ein, folgende Schritte zu gehen (es ist am besten, Schritt für Schritt vorzugehen und nicht alle Schritte im Vorhinein zu kennen):
Schritt 1: Schreib eine Liste zur Frage: Wozu sage ich Ja? (5–10 Min.)
Schritt 2: Schreib eine Liste zur Frage: Wozu sage ich Nein? (5–10 Min.)
Schritt 3: Wähl einen Punkt aus der Nein-Liste, an/zu dem du ggf. doch gern Ja sagen würdest, und schreib einen freien Text. (10–15 Min.) Variante: Du kannst auch einen Punkt aus der Ja-Liste wählen, an/zu dem du ggf. doch gern Nein sagen würdest.
Schritt 4: Nimm etwas Wesentliches heraus aus deinem Text aus Schritt 3 und schreib eine Verdichtung (das kann ein Elfchen, ein Positiver Vierzeiler oder einfach ein Essenzsatz sein).
14. November 2022
TRANSFORMATION
Anagrammieren zu diversen Zwecken
Das Motto der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel für 2023 ist Transformation. Bitter nötig ist sie, eine Transformation. Nicht nur in der kulturellen Bildung und den entsprechenden Bildungsinstitutionen. Insbesondere auch eine innere – bei allen. Weiter so – das war noch nie mein Motto, jetzt aber wird es immer gefährlicher, so zu denken.
Schreibend können wir uns Möglichkeitsräume eröffnen – und diese mit Visionen füllen. Heute möchte ich zum Anagrammieren anregen, also zum Spiel mit dem Wort TRANSFORMATION.
Es gibt echte und unechte Anagramme. Bei echten Anagrammen werden alle Buchstaben eines Wortes bzw. einer Zeile verwendet, alle und in genau der Anzahl, in der sie vorkommen. Beispiel: TRANSFORMATION – FORMATIONSTRAN. Bei unechten Anagrammen entstehen aus dem Buchstabenmaterial eines Wortes neue Wörter, die dann zu einem Text gefügt werden; aus TRANSFORMATION kann man ARM, NATION, MAMA, RATTAN, NOTAT und Dutzende Wörter mehr bilden, aus denen dann ein Text gestaltet wird.
7. November 2022
Von Abstract bis Zeevenaar
Mit Stilübungen den Stil üben
Das Experiment von Raymond Quenaeu ist vielen wahrscheinlich bekannt: Der französische Schriftsteller, Verleger und Mitgründer der Gruppe OuLiPo hat eine kleine Großstadtszenerie 99fach variiert. Auf diesem Verfahren beruht die heutige Schreibanregung.
Such aus einem Literaturlexikon so viele Textsorten heraus, wie du möchtest – oder wähl die, die du üben möchtest, und schreib diese einzeln auf kleine Zettel, die in eine Kiste kommen. Am End ist die Kiste gefüllt mit: Abstract, Beipackzettel, Cinquain, Definition, Essay, Fabel, Ghasel, …, Kochrezept, Liste, Märchen, Nachruf, Ode, Predigt, …, Tagebucheintrag, Unfallbericht, Verhör, Wahlkampfrede, …, Zeevenaar.
Dann notier ein paar Stichworte zu einem Erlebnis der vergangenen Woche oder zu einem Thema, das dich beschäftigt. Zieh eine der Textsorten aus der Loskiste und schreib im Stil der gelosten Textsorte. Du kannst die Kiste natürlich auch nur mit den Textsorten füllen, die du üben willst (für die Uni vielleicht).
Raymond Queneau: Stilübungen. 1947 im Original auf Französisch, 1961 erstmals auf Deutsch erschienen.
24. Oktober 2022
Ich erinnere mich …
Ein positives Schreiberlebnis
Am Freitag und Samstag unterrichtete ich zwei ganze Tage an der Uni in Kassel, das Seminar, das ich dort einmal im Jahr leite, heißt „Schreiben lernt man durch Schreiben“. Es geht vor allem um das Freiwerden und die Erlaubnis, ungewöhnliche Schreibwege zu beschreiten, darum, Texte zu schreiben oder Verfahren anzuwenden, die erst auf den zweiten Blick nutzbringend für die akademischen oder wissenschaftlichen Schreibprojekte sind, die im Studium anstehen. Und es geht natürlich auch darum, das Vertrauen in die eigenen Schreibfähigkeiten und die intrinsische Motivation zu stärken. Eine Schreibaufgabe zu diesem Zwecke ist die, mit der wir den zweiten Tag abgeschlossen haben, und diese möchte ich dir wärmstens ans Herz legen – nicht zuletzt, weil mein Herz am Samstagnachmittag gewärmt wurde von 13 wunderbaren positiven biografischen Schreiblerlebnissen, die in der Seminarrunde vorgelesen wurden.
Schreib über ein positives Schreiberlebnis in deinem Leben, eins aus der Kindheit oder Jugend oder aus jüngerer Zeit. Beginn mit der Formel „Ich erinnere mich …“ und nimm das Sinnliche mit hinein – wie lag der Stift in der Hand, welche Rolle spielte der Ort, welche Worte sprach die Lehrerin … Belass es eher beim Erzählen, das Reflektieren und Schlussfolgern kann an anderer Stelle stattfinden.
10. Oktober 2022
Anagramm-Tandem
Geschichten aus dem Zwischenraum
Von Gianni Rodari stammt die Verfahrens-Idee des Fantastischen Binoms – so ungefähr funktioniert auch die des Anagramm-Tandems. Du wählst eins aus der folgenden Liste (oder bildest selbst welche), schließt die Augen und lässt das Bild aus dem aufgeladenen Raum zwischen den beiden Begriffen aufsteigen. Dieses Bild notierst du dir zunächst als Stichwort. Nun assoziierst du zu deinem Bild weitere 10 Begriffe, ganz frei, ohne Zensur. Mit Hilfe des so entstandenen Pools von Bild und Assoziationen gestaltet sich eine Geschichte fast ganz von selbst …
Anagramm-Tandems – die Liste
rot – Tor
Knie – kein
Raben – Narbe
Natur – Unrat
abgehen – behagen
Hasen – Sahne
Lampe – Palme
Abend – Bande
Regen – gerne
kalben – Balken
Reifen – feiern
Bart – Trab
Betrug – Geburt
Achsel – Schale
Bärin – binär
Kreation – Reaktion
26. September 2022
Das Kurz-Rondell
Eine alte, neu entdeckte Gedichtform
Letzte Woche habe ich von der uralten Poetik in Stichworten berichtet. In dieser fand ich so viel, was ich nicht kannte (zur ,Entschuldigung‘ sei gesagt, dass ich nie Germansitik, Sprach- oder Literaturwissenschaft oder etwas Verwandtes studiert habe), und ich fand Dinge, die ich kannte, aber nicht einzuordnen gewusst hatte, wie z. B. das Kurz-Rondell. Der deutsche Dichter Georg Trakl hat eins seiner Gedichte so benannt. Es ist ein fünfzeiliges Rondell mit dem Reimschema ABbBA, das etwas von einem Kreisgebilde hat, denn die Zeilen 1 und 5 reimen sich nicht nur, sondern sind komplett identisch, ebenso die Zeilen 2 und 4.
Ich habe dieses Kurz-Rondell bisher als Verdichtungsmöglichkeit in meinen Kursen verwendet. Die Aufgabe war dann, zwei besonders bedeutsame Zeilen/Satzstücke aus einem eigenen Text herauszusuchen, sie als 1. und 5. bzw. 2. und 4. Zeile aufzuschreiben und die 3. mittlere Zeile als Verbindung neu zu schreiben.
Nun also kannst du so verfahren, wie eben beschrieben. Oder du machst ein Rondell ohne bereits vorhandene Fragmente. Ein passendes Thema könnte der Jahreskreis sein.
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5. September 2022
Mach Listen
Manche Listen machen gute Laune
Mach heute mal eine Liste, die dich aufbaut, nämlich:
10 Dinge, in denen ich wirklich gut bin
1. Listen schreiben
2. …
3. …
4. …
5. …
6. …
7. …
8. …
9. …
10. …
Posts zum Listenschreiben gibt es außerdem in diesem Blog unter folgenden Daten: 5. 12. 2016, 27. 3. 2017, 10. 4. 2017, 31. 7. 2017, 23. 10. 2017, 16. 12. 2019, 7. 6. 2021, 31. 1. 2022, 14. 2. 2022
29. August 2022
Oulipotische Contraintes V
Unendliche Dehnung
Das Verfahren, das ich hier beschreibe, habe ich schon in Schreibwerkstätten angewendet, als ich von OuLiPo noch nie etwas gehört hatte. Ein Beispiel dafür, dass ein konzeptionelles Prinzip der Oulipot:innen aufging: Die Verfahren, die die Gruppe erdachte und erdenkt (auf der offiziellen Website sind derzeit 149 beschrieben), sollten und sollen sofort vergesellschaftet werden.
Hier möchte ich nun ein Verfahren vorstellen und zur Anwendung empfehlen, das allein und auch zu zweit durchgeführt werden kann. Es heißt DEHNUNG.
Ein erster Text besteht aus zwei Sätzen, der erste ist der Anfangssatz und bleibt es bis zum Schluss, der zweite ist der Schlusssatz und bleibt es ebenfalls bis zum Schluss. Nun wird zwischen die beiden ein neuer Satz geschrieben, der sie miteinander verbindet, anschließend zwei neue zwischen den ersten und den mittleren sowie den mittleren und den letzten, anschließend vier neue zwischen die nun fünf existierenden, anschließend acht zwischen die nun neun existierenden usw.
Quelle: Mathews, Harry / Brotchie, Alastair (Hg.) (2005): OULIPO COMPENDIUM. 2. revidierte und aktualisierte Auflage. London/Los Angeles: Atlas Press/Make Now Press
15. August 2022
Etüdensommerpausenintermezzo
Eine kleine leichte Anregung aus Kolleginnen-Blogs
Durch das kollektive Documenta-Tagebuch lerne ich interessante neue Menschen kennen, vor allem auch wundervolle Schreiber:innen und Blogger:innen, so wie Katharina Kanzan eine ist. Ihr Beitrag zum Tagebuch ist am 6. August entstanden. Als ich in ihrem Blog stöberte, fand ich den Eintrag vom 17. Juli 2022 besonders anregend für die heiße Sommerszeit – und mit freundlicher Erlaubnis von Katharina Kanzan darf ich die dort gefundene Schreibanregung (die wiederum auf eine die Idee von Christiane S. zurückgeht, nun hier in leicht abgwandelter Fassung posten.
abc.etüden
Die Aufgabe besteht darin, mindestens 7 der 12 angegebenen Wörter zu verwenden sowie den Satz: „Wie wenig wir uns doch kennen.“
Was Katharina aus der Anregung gemacht hat, kann an Ort und Stelle nachgelesen werden.
1. August 2022
Händen und Bildern folgen
Eine Sequenz aus wildem Pantschen und Schreiben
Am vierten Tag der Kurswoche Grenzüberschreitungen (siehe Blogeintrag vom 25. Juli) – traditionell der sogenannte ,Kitzeltag‘ – arbeitete ich in einer Kleingruppe zum Thema „Fließen und Kontraste“.
Die Aufgabe war, mit Acrylfarbe ein Blatt im DIN A2-Format komplett zu füllen – wir hatten jede nur Schwarz und eine helle Farbe zur Verfügung – und als Werkzeug ausschließlich unsere Hände! Nach dieser wilden Pantscherei wechselten wir zum Schreibstift und schrieben 20 Minuten einen automatischen Text, in den die Erfahrung und das Entstandene sowie die Farben und unabsichtlich entstandenen Formen mit einfließen konnten – aber vor allem ging es darum, sich dem wilden Bilderstrom vor dem inneren Auge hinzugeben. In einem dritten Schritt fügte jede eine kurze Sequenz aus dem Text in das Bild – mit schwarzer Akrylfarbe und Pinsel. Und zum Schluss verfasste jede aus drei für sie bedeutsamen Wörtern einen affirmativer Satz.
Die Idee dieser Art des Kitzelns ist insofern aufgegangen, als alle Kleingruppenmitgliedern aus ihrer üblichen Gestaltungs- und ihrer üblichen Schreibweise herausgerissen worden sind und eine Idee bekamen, wie sie in Zukunft aus sich kraftvolle und/oder ungewöhnliche Bilder schöpfen könnten.
4. Juli 2022
OuLiPotische Contraintes IV
S+n kreativ variiert
Letzten Montagabend habe ich in einer meiner Schreibgruppen eine Variante der Contrainte S+n versucht. Nachdem wir zuerst alle einen kurzen frei fließenden Text zum Thema Unsinn verfasst hatten, tauschten wir in einem zweiten Schritt jeweils die Nomen unseres Textes mit denen aus dem Gedicht Die Ameisen von Joachim Ringelnatz. Hier sind sie – für den Sebstversuch: Ameisen, Hamburg, Ameisen, Australien, Altona, Chaussee, Beine, Teil, Reise, Verzicht.
Falls du dich nicht vorher beeinflussen lassen willst, kannst du auch jeden anderen Text nehmen und die Nomen (oder Verben oder Adjaktive etc. gehen auch) aus einem deiner Texte mit denen aus dem gewählten tauschen. Witzig ist das Verfahren besonders in der Gruppe, wenn alle ihre Nomen mit denen aus dem gleichen tauschen.
27. Juni 2022
OuLiPotische Contraintes III
Altes neu entdeckt: S+n
Zurzeit bereite ich meine nächsten Veröffentlichungen in meiner Reihe 26+4 vor, eins der nächsten Hefte wird sich mit dem Thema OuLiPo befassen. So also habe ich wieder einmal die zahlreichen Verfahrensvereinbarungen hervorgeholt und das Verfahren bzw. die Contrainte S+n noch einmal ausprobiert. Um zu machen. Und um zu staunen: über die außergewöhnlichen literarischen Zufallsbilder, die entstehen, auf die ich ohne dieses Verfahren niemals gekommen wäre.
Das Verfahren – ich wähle S+7 – funktioniert folgendermaßen: Du nimmst einen deiner Texte und tauschst die Nomen (oder die Verben oder die Abjektive) mit jeweils dem Nomen, das im Rechtschreibduden an 7. Stelle nach deinem steht. Wenn du also das Nomen Krise in deinem Text stehen hast, ersetzt du es durch das Nomen Kristallisation, weil es an 7. Stelle hinter Krise steht.
6. Juni 2022
Neue Contraintes II
Und noch mehr OuLiPotisches
Wenn man einen Titel mit einer (römischen) I setzt, muss auch einer mit einer II kommen, mindestens. Voilà, hier ist die zweite neu entdeckte Verfahrensvereinbarung.
Die Gefangene
Um das seltene Papier zu sparen (hinter der Wand bei Marlen Haushofer z. B.), willst du, die Gefangene, die Schriftzeilen so eng wie möglich halten, also möglichst viele auf ein Blatt bekommen. Zu diesem Zweck verwendest du nur die Buchstaben, die die Zeile oben oder unten nicht überschreiten (d. h. solche ohne Ober- und Unterlängen). Du hast also noch ein halbes Alphabet. Ausschließlich erlaubt sind der Gefangenen:
a ä à c e é è i m n o ö r s u ü v w x z (und weitere Akzentbuchstaben wie ç)
Noch sparsamer ist, dass eine zweite Gefangene sich sogar nur Buchstaben ohne Punkten oder Akzente erlaubt. So verwendet nur:
a c e m n o r s u v w x z
30. Mai 2022
Neue Contraintes I
Das OuLiPo-,Fieber‘ hält an
So ist es in der Tat: Das OuLiPo-,Fieber‘, meine Begeisterung für das Schreiben mit seltsamen Regeln, die Freude beim Schreiben und an den Ergebnissen halten an. Vor Jahren habe ich mir mal ein französischsprachiges Bilderbuch gekauft: Le Petit Oulipo. Einige Contraintes (Verfahrensvereinbarungen) kannte ich natürlich, Lipogramm,. Tautogramm, Monovokalismus usw. Ein paar habe ich mir trotz nur rudimentärer Französischkenntnisse erschließen können, aber für die meisten reichte das nicht aus. Nun habe ich am Wochenende die Erklärungen abgetippt und in eine Übersetzungsmaschine eingegeben. Und siehe da – ich fühle mich beschenkt! Neue Contraintes zum Ausprobieren. Die, die mich am meisten begeistert hat unter den Neuentdeckungen, möchte ich hier zum Ausprobieren vorschlagen:
Homosyntaxismus
Schreib Texte mit folgender festgelegter Reihenfolge von Namen, Verben und Adjektiven: NVNVANVAANNNVNNNVVNVNAVVNNNNN. Entliehen ist die Reihenfolge dem Beginn der Fabel Die Zikade und die Ameise des Jean de la Fontaine. (Ob du dir Artikel und Bindewörter zusätzlich erlaubst, entscheidest du selbst.)
23. Mai 2022
Hashtag-Reihung
Öffnung von Bedeutungsräumen I
#DIESDAS III ist ein Text von Franziska Holzheimer, der mit der fantasievollen Verschlagwortung in virtuellen Netzwerken spielt. Scheinbar wahllos reiht sie (mögliche? reale?) Hashtags aneinander – liest du den Text, am besten mehrmals und laut, öffnet sich ein reicher Bedeutungsraum. Als Funde-Collage gehört es in die Abteilung dessen, was Kenneth Goldsmith Uncreative Writing nennt.
Zur Nachahmung empfohlen.
Quelle: Franziska Holzheimer: #DIESDAS III. In: Die Poetry Slam Fibel (hg. von Bas Böttcher und Wolf Hogekamp), Satyr Verlag, 2015, S. 110
15. Mai 2022
Akrostrophe
Jenseits des Üblichen
Es ist gut, immer wieder einmal gut, aus dem gewohnten Schreiben herausgewiesen zu werden, aus dem Üblichen kreativ heraustreten zu dürfen. Im Grunde finde ich doch dadurch, dass ich mich in verschiedenen Stilen, in ungwohnten Räumen schreibend bewege, zu dem, was vielleicht das Eigene genannt werden kann. Diesem Prinzip folgt, was ich neulich als Akrostrophe kennen gelernt habe.
Du nimmst ein Buch aus deinem Regal, schlägst es irgendwo auf, liest nicht, was dort steht, sondern schreibst alle ersten Wörter, Zeile für Zeile, ab, setzt diese Wörter untereinander an den Rand deines Blattes. Auf einem linierten Collegeblock sind 30 Linien, du hättest also 30 Zeilenanfänge dort hinzuschreiben. Und dann schreibst du einen Text, bei dem die Zeilenanfänge nun schon vorgegeben sind. Ob eine zusammenhängende Erzählung, ein eher surrealistischer Text oder noch etwas ganz Anderes entsteht, entscheidest du selbst (oder es entscheidet sich durch dir Wörter).
Wenn du nur schlecht von dem absehen kannst, was du in einem Buch vorfindest, lass dir die ersten Wörter eines Textes, den du nicht kennst, von einer anderen Person geben.
25. April 2022
100 Tage | 100 Leute | 100 Texte
Ein kollektives Documenta-Tagebuch
Der Verein Nordhessischer Autorenpreis e.V. initiiert (in Kooperation mit Wortwechsel Kaufungen) nach sieben Schreibwettbewerben, die zwischen 2004 und 2019 durchgeführt und mit Preisverleihungen und Anthologien abgeschlossen wurden, in diesem Jahr ein literarisches Schreibprojekt, das ohne die Konkurrenzsituation eines Wettbewerbs auskommt: Zur documenta fifteen sollen 100 Menschen zum Schreiben auf und über die Weltkunstausstellung animiert werden.
100 Tage | 100 Leute | 100 Texte. Der Plan! An den 100 Tagen der documenta fifteen zwischen dem 18. Juni und dem 25. September schreibt jeden Tag ein anderer Mensch einen Tagebuchtext, der auf der Website des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V. erscheint. Am Mitwirken Interessierte müssen an einem Tag vor Ort auf der Documenta sein und noch am gleichen Abend ihren Text an den initiierenden Verein schicken. Es gibt keinerlei Genre-Beschränkungen, eingereicht werden können mäandernd-umkreisende Reflexionen, Prosa, Lyrik, Essays und experimentelle Texte aller Art. Abzugeben sind die Texte digital – sie können maschinell oder auch handschriftlich verfasst (und eingescannt) sein; eine Alternative ist eine Audio-Datei. Die Länge einer DIN A4-Seite (schriftlich) bzw. von 3 Minuten (akustisch) darf nicht überschritten werden. Wie in einem Tagebuch üblich, sind die Texte frisch, bleiben Rohtexte, sind persönliche Momentaufnahmen, zeigen Ausschnitte aus individuellen Blickwinkeln … Und so erscheinen sie dann auf der Website des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V. Ein spezieller kollektiver Documenta-Katalog mit 100 Seiten entsteht, sukzessive und nachhaltig …
100 Tage | 100 Leute | 100 Texte. Das Schreiben! Sich schreibend einer Sache zuzuwenden, ist etwas Anderes, als ,nur‘ zu schauen und zu lesen. Wenn ich schreibe, sehe ich mit den Augen einer Schrei¬benden, ich verweile möglicherweise länger bei einem Objekt, fokussiere meine Aufmerksamkeit, ver¬tiefe meine Auseinandersetzung beim Schreiben, generiere Erkenntnisse im umkreisenden Mäandern, schaffe mir einen persönlich-selbstbedeutsamen Zugang (und ein ebensolches Ergebnis) zu Gegen¬wartskunst. Nicht zuletzt ist Schreiben auch eine künstlerische Ausdrucksform, so also ruft der Verein dazu auf, im eigenen literarisch-künstlerischen Tun der bildenden Kunst zu begegnen.
100 Tage | 100 Leute | 100 Texte. Die Bewerbung! Interessierte wenden sich an Kirsten Alers, geben zwei oder drei Tage an, an denen sie vor Ort in Kassel sein und schreiben könnten, und erhalten dann die Bestätigung für ,ihren‘ Documenta-Schreibtag.
Kontakt: info@nordhessischer-autorenpreis.de
Kontaktperson: Kirsten Alers, 05605/926271
18. April 2022
Somnambules Schreiben
Automatisches Schreiben ausprobieren
Probiere es mal aus, das Automatische Schreiben, folge deinem Kopfkino, lass dich ein auf das somnambule, schlafähnliche Tun.
Die berühmt gewordene Anleitung zum Automatischen Schreiben stammt von André Breton, einem Protagonisten des Surrealismus, der das Automatische Schreiben, das zuerst bereits um 1900 als psychiatrische (Behandlungs-)Methode verwendet worden war, für die Bildende Kunst und das Schreiben entdeckt und nutzbar gemacht hat: auf der Suche nach dem unbekannten Leben, nach den inneren Bildern, nach den Schnittstellen zwischen Traum und Realität. Die Anleitung zur écriture automatique aus dem Surrealistischen Manifest von 1924 lautet folgendermaßen:
„Beschaffen Sie sich Schreibzeug, setzen Sie sich an einen Platz, wo Sie sich möglichst ungestört in sich selbst versenken können, entspannen Sie sich völlig, seien Sie ganz passiv und so hinnehmend und aufnahmebereit wie möglich! Lassen Sie sich nicht durch den Gedanken an Ihre etwaige Genialität beirren!
Sehen Sie von Ihren eigenen und den Talenten aller anderen Menschen ab!
Sagen Sie sich eindringlich, daß die Schriftstellerei der trübseligste Weg ist, der zu allem führt! Schreiben Sie rasch nieder, was Ihnen einfällt, und besinnen Sie sich gar nicht auf ein Thema! Schreiben Sie so schnell, daß Sie sich überhaupt nicht versucht fühlen, vom schon Geschriebenen etwas behalten zu wollen oder es noch einmal durchzulesen!
Der erste Satz kommt Ihnen ganz von selbst. Wie es mit dem zweiten geht, läßt sich zwar schon schwerer sagen ... Doch machen Sie sich darüber keine Sorgen!
Schreiben Sie einfach unentwegt weiter!
Verlassen Sie sich ganz auf die Unerschöpflichkeit des Wisperns, Raunens und Murmelns in Ihnen!
Und wenn dies doch einmal zu verstummen droht, etwa weil Sie über einen Schreibfehler stolpern ... oder ein Wort, das Sie schrieben, Ihnen äußerst befremdlich vorkommt, dann schreiben Sie einfach irgendeinen Anfangsbuchstaben, z. B. ein L, gerade immer nur ein L, und stellen die anfängliche Willkürlichkeit dadurch wieder her, dass Sie dieses L dem beliebigen Wort, was Ihnen sogleich in die Feder fließen wird, als Anfangsbuchstaben aufnötigen ...“ (Breton 1924 in Nadeau 1986: 64).
Quelle: Breton, André (1924): Manifeste du Surréalisme. In: Nadeau, Maurice (1986): Geschichte des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
11. April 2022
Wortfigur
Anregung nach Gabriele Rico
Lange Jahre schon hatte ich dazu immer wieder einmal in meinen Schreibwerkstättem angeregt: frei und gegenstandslos kritzeln und Wörter kommen lassen. Durch eine bayerische Kollegin erfuhr ich, dass es dafür einen Namen gibt: „Wortfigur“. Erfunden oder zumindest doch ausführlich beschrieben hat das Wortfigur-Verfahren Gabriele Rico (bekannt durch ihr wunderbares Buch zur Cluster-Methode: Garantiert schreiben lernen). Wie eine Wortfigur entsteht und was daraus werden kann, erklärt sie in ihrem Buch Von der Seele schreiben (1999 erschienen bei Junfermann, Paderborn, das es leider nur noch antiquarisch gibt). Hier nun die Kurzfassung bzw. die Art, wie ich das Verfahren anleite:
Nimm dir ein großes Blatt und einen leicht laufenden Stift, beginn zu ,kritzeln‘, werde nicht gegenständlich und belass den Stift die ganze Zeit auf dem Papier, lass dich von Hand und Stift führen, schalte das Wollen sow eit es geht aus, du kannst auch die Augen schließen. Irgendwann im Laufe dieses tendenziell meditativen ,Kritzelns‘ stellt sich ein Wort ein (oder mehrere), lass den Stift auf dem Papier, schreib das Wort in dein ,Gekritzel‘ hinein, da wo es gerade hingesetzt werden will. Dieses Wort ist dein Saatwort, aus diesem heraus entsteht nun ein Text. Du kannst einen Freien Text gestalten oder in ein Freewriting oder Automatisches Schreiben einsteigen, wie es für dich passt. Lass die Saat keimen und wachsen und Früchte tragen.
28. März 2022
Auf der Ohrenweide
Hören, hinhören, zuhören
Ich bin auf Sylt. Es rauscht, braust, pfeift, raschelt, plätschert, grollt, sirrt … Ich bin unterwegs. Versuche einmal, nicht zu sehen, nicht hinzusehen, nicht zuzusehen, sondern zu hören, hinzuhören, zuzuhören, mich auf der Ohrenweide satt zu hören. Und genauer zu hören. Mehr. Differenzierter. Hierarchiebefreit. Wie unterscheidet sich das Rauschen der Wellen bei Flut von dem bei Ebbe, wie das Rauschen des Windes in der Kiefer an der Akademie von dem im Wäldchen zwischen Jugendseeheim und Lister Straße?
Geh nach draußen. Begib dich auf die Ohrenweide. Mach dir Notizen, notier die O-Töne auf deinem Weg, verharre schließlich an einem sehr stillen Ort, an dem die wahrnehmbaren Geräusche sehr zart sind, verharre dann an einem Ort, an dem die Geräusche sich überlagern und du dich anstrengen musst, die voneinander zu unterscheiden. Schreib einen Text, vielleicht einen mit Fragmenten, die alle beginnen mit „Ich höre …“.
14. März 2022
mир
Drei Wünsche frei
Stell dir vor, die hättest drei Wünsche frei – ein altbekanntes Märchenmotiv. Und wer hat sich nicht schon einmal vorgestellt, diesen Ring der Fee zu bekommen und ihn dreimal drehen zu dürfen? Was würdest du dir wünschen, hättest du drei Wünsche frei?
Übrigens bedeutet das Wort in den Überschrift Frieden auf Ukrainisch. In Lautschrift schreibt man es myr, ausgesprochen wird es in etwa meuir.
14. Februar 2022
Und noch einmal
Listen 2/2022
In Vorbereitung zu einer neuen Reihe von Veröffentlichungen zum Kreativen Schreiben (dazu demnächst mehr) befasse ich mich intensiv mit Listen. Und finde immer mehr Und immer neue Varianten. Und meine Begeisterung wächst. Heute möchte ich einen Listentext von einem der Meister des Listenschreibens empfehlen nachzuahmen.
Der Meister ist der Oulipot Georges Perec. In dem bezaubernden Bändchen Denken/Ordnen, das sehr anregend fürs eigene Schreiben ist, heißt ein Text „Zwölf Seitenblicke“. Die – natürlich – zwölf Textchen unter dieser Überschrift zeigen in Kürze Blicke auf Seitliches, auf nicht um Zentrum Stehendes, auf dennoch Merk-Würdiges. Und bleiben Fragmente. Und wirken im Zusammenklang, vielleicht wie ein Kaleidoskop.
Quelle: Georges Perec: Denken/Ordnen. Zürich/Berlin: diaphanes 2015/1985
31. Januar 2022
Wieder einmal
Listen 1/2022
Nach wie vor finde ich das Listen- und das serielle Schreiben einfach genial! Zum Anfangen und Reinkommen, zum Ordnen und Merken, als Denkhilfe und Experimentier-Folie. Also stelle ich einmal mehr ein Verfahren aus dem großen Pool vor, das ich neulich auf der Suche nach etwas ganz Anderem (wieder)gefunden habe.
In seinem Duden-Ratgeber-Bändchen Mit dem Schreiben anfangen empfiehlt Hanns-Josef Ortheil das Verfahren „Der feste Posten“. Du suchst dir einen Platz an einem Fenster, aus dem du einen bestimmten Ausschnitt der Welt siehst. Dort schreibst du, jeden Tag, immer den gleichen Ausschnitt vor Augen. Ortheil formuliert die Schreibaufgabe so: „Schreiben Sie kurze Aufzeichnungen von Fensterblicken, in denen sie immer nur auf ein einziges Detail (Person, Gegenstand, Szene) fokussieren. | Schreiben Sie diese Auszeichnungen täglich, in einem bestimmten Zeitraum (mindestens aber einen Monat lang). Beobachten und notieren Sie, welche ,Geschichten‘ sich in diesem Zeitraum herausbilden. | Denken Sie darüber nach, wie diese Geschichten in einer Erzählung zusammenzufügen wären“ (Ortheil 2017: 120).
Wer mehr mit Listen und seriellen Texten arbeiten möchte, kann in diesem Blog zu folgenden Daten Anregungen finden, die meisten unter der Rubrik „Schreibanregungen“:
5. 12. 2016, 27. 3. 2017, 10. 4. 2017, 31. 7. 2017, 23. 10. 2017, 16. 12. 2019
20. Dezember 2021
Das Maus-Prinzip
Adaption des Lexikonspiels II
Im Blogeintrag vom 29. November regte ich dazu an, das bekannte Lexikonspiel zu adaptieren und eine Definition eines zunächst unbekannten, eventuell ausgestorbenen Wortes zu verfassen. Heute nun möchte ich dazu anregen, solch ein ausgestorbenes oder sehr ungebräuchliches Wort zu erklären – und zwar für die Sendung mit der Maus. In dieser werden Tätigkeiten oder Dinge oder eben Begriffe (so meine Idee) kindgerecht vorgestellt. Christoph stellt etwas vor, Armin erklärt und kommentiert aus dem Off. Ein Beispieltext von einer meiner Schreibschülerinnen aus der Frauenschreibwerkstatt am Donnerstagmorgen, Sanne H.:
Federkauen
Als das Wünschen noch geholfen hat, schrieben die Menschen noch nicht mit Kuli oder Computer. Die gab‘s da noch gar nicht. Die Leute hatten Federn, mit denen sie schrieben – so wie Christoph – der zeigt uns das mal.
Christoph hat heute seinen grünen Pullover nicht an, stattdessen ist er angezogen wie die Leute damals: [Bilder von Frauen und Männern durch die Zeiten werden gezeigt/imaginiert] Hier seht ihr, wie sie angezogen waren: auf jeden Fall mit Hüten, Frauen mit Rock-bis-zum-Boden, Männer manchmal mit Pluderhosen bis zum Knie und Strumpfhosen oder mit einer Jacke, die auch ein bisschen wie ein Rock aussieht. Also: Die Leute sahen anders aus, haben sich anders angezogen.
Es gab auch keine Autos und keine Telefone oder Computer. Wenn die Leute sich etwas mitteilen wollten, konnten sie nicht einfach anrufen oder SMS schicken oder mailen. Sie konnten sich noch nicht mal ins Auto setzen oder in den Zug oder ins Flugzeug, um die andere Person zu treffen und ihr direkt zu sagen, was los ist. Wie ging das dann?
Angenommen: Christoph will seiner Freundin Nola mitteilen, wie es ihm geht und was er heute erlebt hat. Dafür braucht er Papier. Kennt ihr alle: Ihr malt darauf, Bücher sind aus Papier und die Brötchentüte auch (es sei denn, ihr geht mit einem Stoffbeutel zur Bäckerin). Das Papier aus der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, ist ein bisschen anders – aber das erklären wir euch ein andermal …
Christoph will also auf dem Papier einen Brief an Nola schreiben. Was nimmt er als Schreibgerät? Füller und Kuli nicht und Computer nicht und Filzstift nicht – das gab es alles noch nicht (haben wir schon gesagt). Was gab‘s denn dann?
Christoph – was nimmst du?
Eine Feder …
Ja doch, wirklich: eine Feder. Such dir mal eine.
Nee ja, so eine kleine ist wunderbar weich und flauschig, aber zum Schreiben zu labberig. Such mal weiter.
Eine Taubenfeder oder eine Möwenfeder– ja, das ist schon besser. Hier ist eine Gänsefeder, oder ein ‚Gänsekiel‘ (wie man es nennt) – versuch‘s mal mit der.
Äh ja – aber wie soll ich jetzt schreiben?
Christoph – du brauchst natürlich auch noch Farbe, Tinte.
Du hast jetzt also Papier, eine Feder und ein kleines Glas mit Tinte (das Glas nennt man übrigens Tintenfass, obwohl es so klein ist).
Jetzt tunkst du die Feder vorsichtig … Halt, Christoph, nicht das weiße fiederige Ende, das dicke stipperige Ende. Das musst du noch eben anschneiden, schräg, so dass eine Spitze entsteht, ja – genau so eine schräge Spitze wie bei deinen Lieblingsnudeln – den Penne. Mit der Spitze kannst du auf dem Papier Linien ziehen und zeichnen.
Christoph, tunk doch nochmal ein – ganz langsam, damit wir gut zugucken können.
Jetzt seht ihr: Die Feder ist innen hohl. Wenn Christoph die Feder in das Tintenfass stippert, läuft ein bisschen Tinte in die hohle Feder …
Versuch mal zu schreiben …
Oh, das kleckst ganz schön, also üb noch ein bisschen: Kreise und Kringel, Rechtecke und Schleifen und Striche und Punkte … Hejejej – und immer Klekse …
Das ist nicht so ganz einfach.
Versuch‘s noch mal. Na – geht doch schon ganz gut
Was wolltest du eigentlich? Wolltest du nicht einen Brief an Nola schreiben?
Du kannst loslegen. [Christoph sitzt da und kaut an der Feder.]
Christoph, was ist? Weißt du nicht mehr, was du schreiben wolltest? Hej, du bist ja ein Federkauer!
Du musst dich beeilen, die Postkutsche nimmt den Brief mit; aber sie wartet nicht. Und wenn du die Postkutsche verpasst – die nächste fährt erst in einer Woche …
- Anm. Laut Wikipedia gab es ‚Bleistifte‘ schon im antiken Ägypten; ab Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dann Metallfedern.
Du kannst z. B. forkeln nehmen, es meint aufspießen, wie der Hirsch es mit seinem Geweih im Kampf macht. Du kannst auch mappieren nehmen, es meint eine Landkarte erstellen.
29. November 2021
Die überzeugendste Definition
Adaption des Lexikonspiels
Vielleicht hast du früher auf Familienfeiern auch so gern das Lexikonspiel gespielt. Das geht so: Reihum sucht eine Person aus einem Fremdwörterlexikon einen Begriff heraus, den möglichts niemand kennt; alle schreiben eine Fantasiedefinition, die, die allen überzeugendsten erscheint, ,gewinnt‘.
Hier geht es ja nicht ums Gewinnen, sondern ums lustvolle Kreative Schreiben – und manchmal macht es einfach Spaß, etwas vollkommen Ersponnenes zu Papier zu bringen. Schreib also – als Adaption des Lexikonspiels sozusagen – eine Definition wie in einem Fremdwörterlexikon oder auch gern umfangreicher von einem der folgenden Begriffe: mappieren, kaudern, aushosen oder heunen.
Die Begriffe stammen aus dem Grimm’schen Wörterbuch, das Jacob und Wilhelm Grimm 1838 begonnen haben und das 1961 als vollendet erklärt wurde.
Wenn du die Definitionen geschrieben hast, kannst du die tatsächliche Bedeutung natürlich nachschauen; ich werde sie im Eintrag am 6. Dezember 2021 ebenfalls liefern.
8. November 2021
Schreibaufruf
zum kollektiven Tagebuch 2021
Sehr gern annonciere ich hier den Schreibaufruf des Tagebuch- und Erinnerungsarchivs Berlin:
In vielen Ländern der Welt wird schon über viele Jahre ein Großmuttertag als Ehren- und Gedenktag begangen. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird seit dem Mauerfall jährlich am 12. November ein Oma-Opa-Tag gefeiert. Dieser hatte in der DDR bereits Tradition und geht zurück auf eine Initiative der Kinderzeitschrift „Bummi“.
Neben Eltern und Geschwistern gehören Großeltern oft zu den wichtigsten Bezugspersonen für Kinder. Wir alle haben Großeltern. Welche Erinnerungen haben wir an sie? Welche Erlebnisse sind uns in Erinnerung geblieben? Oder hat dieser Feiertag vielleicht auch gar keine besondere Bedeutung für uns?
Wir haben uns als neues Team des Tagebuch- und Erinnerungsarchivs Berlin e.V. diesen Tag herausgesucht und bitten Sie darum, Ihre Gedanken an diesem Datum auf Papier zu bringen und uns zuzusenden.
Das „Kollektive Tagebuch“ ist eine besondere Form des individuellen Tagebuchschreibens. Alle interessierten Diaristen schreiben an einem bestimmten, vorgegebenen Tag ihre Gedanken und Reflexionen auf. So sind seit 2003 bereits acht kollektive Tagebücher in gebundener Form entstanden und werden immer wieder gerne gelesen. Wir greifen mit Freude die Tradition von Karin Manke-Hengsbach auf, die diese Art des gemeinsamen Tagebuchschreibens berlinweit ins Leben gerufen hat.
Der auserwählte Schreibtag ist nun der offizielle Oma-Opa-Tag, der 12. November 2021.
Bitte senden Sie uns Ihren Text bis zum 12. 12. 2021 per E-Mail an
vorstand@tea-berlin.de
oder per Brief an
Tagebuch- und Erinnerungsarchiv Berlin e.V. c/o Sabine Musial, Güldenauer Weg 44, 12555 Berlin
1. November 2021
Die alte Leier – und die Erde schreit
Schreib eine Rede an den UNO-Klimagipfel
Vielleicht hast du es noch im Ohr: Beim UNO-Klimagipfel in New York 2019 hat Greta Thunberg PolitikerInnen aus aller Welt eklatantes Versagen vorgeworfen. „Menschen leiden. Menschen sterben. Wir befinden uns am Anfang eines Massen-Aussterbens, und alles, woran ihr denken könnt, sind Geld und Märchen von ewigem Wachstum. Wie könnt ihr es wagen!“, sagte sie, damals noch 16, voller Wut und Überzeugungskraft. Zurzeit sitzen wieder hunderte Mächtige der Welt zusammen, um – ja, um was?
Das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen, ist utopisch, es geht immer noch vorrangig um Geld und Wachstum rund um den Globus, der Regenwald wird immer noch abgeholzt, der Plastikteppich im Meer wächst weiter, AKWs gelten neuerdings (wieder) als saubere Energie – schreiben möchte ich … oder vor dem derzeit in Glasgow stattfindenden UNO-Klimagipfel reden! Der Papst hat es schon getan und die Delegierten aufgefordert, den „Schrei der Erde“ zu tun (den Papst habe ich noch nie zitiert, mit diesem Zitat ist es vertretbar).
Schreib eine Rede, die du gern dort halten würdest – vielleicht schickst du sie an die deutsche Delegation in Glasgow.
11. Oktober 2021
Das Gendern …
… und die Ästhetik
Heute Morgen bin ich vorm Weckerklingeln um kurz nach fünf aufgewacht und fast sofort auch aufgestanden – um nach dem Morgenseitenschreiben einen Stapel von Beiträgen aus alten Ausgaben der ZEIT zu lesen, zu überfliegen, gegebenenfalls auszusortieren. Dabei fiel mir auch eine Kolumne von Sophie Passmann aus dem ZEIT MAGAZIN No. 30 vom 22. Juli 2021 (abermals) in die Hände. Darin plädiert sie fürs Gendern. Ich zitiere: „Das Gemeine an dieser Lagerbildung in der Debatte ist, dass so getan wird, als sei Gendern automatisch nicht schön, als sei das bereits entschieden, als hätten selbst die Befürworter*innen sich das eingestanden und würden faktenbewusst nur noch für das Gute und nicht für die Schönheit des Gendern einstehen. […] Das Sternchen ist ein wirklich äußerst ansehnliches Satzzeichen im Gegensatz zum restlichen Kram: - . ; , «.“ Ich halte die gesamte Kolumne für lesenswert. Man kann sie über ein digitales Probeabo lesen, aber hier möge das Zitat als Schreibanregung dienen: Wie hältst du es mit dem Gendern und der Ästhetik? Darf die Ästhetik ein Argument gegen eine geschlechtergerechte Sprache sein? Mussten wir uns nicht auch im Laufe der Sprachentwicklungsgeschichte an alle Satzzeichen erst gewöhnen? Sind ästhetische Argumentationen von daher nicht per se ahistorisch? Welche Interessen werden mit den Ästhetikargumenten verschleiert?
6. September 2021
Myzel
Die Magie der Wörter
Wörter, die immer wieder auftauchen, sich in die Texte schleichen, zumindest eine Zeitlang, hat jedeR. Sie lösen Assoziationsketten aus, sie lösen manchmal auch eine körperliche Reaktion aus. Gib dich der Magie eines Wortes hin, koste es, nimm es in den Mund, lass es sich in den Backentaschen bequem machen, lass es über die Zunge rollen, lass es den Rücken hinauf- und hinunterkrabbeln, lass es deine Strümpfe sein, deine Mütze, dein Unterhemd, lass das Wort sich an dich schmiegen – und lass es deinen Text dominieren, wiederhole es, nimm es auseinander und setz es wieder zusammen, geh nah heran und in Distanz, spür hinein und horch, was es dir zuflüstert, geh mit ihm spazieren, sprich mit ihm und koste es also schreibend aus.
Ein Wort, das für dich magisch, das dir vielleicht gar heilig ist, ist es nicht unbedingt allein wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seines Klangs, seines Aussehens, wenn du es auf dein Blatt schreibst. Bei mir ist es derzeit zumindest Myzel, gleich danach aber fallen, üben, wiederholen und kantaper. Einige halten sich länger, andere sind kurzfristige Begleiter, Tröster, Erheber, Energielieferanten.
Wörter sind auch körperlich verankert – so also können wir uns selbst sehr nah sein, wenn wir schreibend die Magie intensivieren.
23. August 2021
Poesie unterwegs
Schreibwettbewerb des NVV
Gern unterstütze ich den Schreibwettbewerb, den der Nordhessische Verkehrsverbund ausgeschrieben hat. Bis zum 30. September können Texte zum Thema „Verbindungen“ eingereicht werden. Die Teilnahmebedingungen findest du hier.
Leider, so viel sei verraten, können sich nur Menschen beteiligen, die im Einzugsgebiet des NVV leben. Und noch etwas sei verraten: Ich bin als Mitglied der Jury berufen worden.
9. August 2021
Glashaar-Widertonmoos
Gehen, Sehen, Schreiben – z. B. über Moos
Wenn ich so durch die Gegend laufe, vor allem, wenn ich durch eine nicht alltägliche Gegend laufe, sehe ich oftmals Facetten unter einer Überschrift. So sehe ich beispielsweise Rundes oder Zugewuchertes oder Verfallenes oder Essbares oder Weggeworfenes. Sehr oft sehe ich tatsächlich Facetten unter einer Farbüberschrift, also Rotes, Blaues, Falbes … oder Pflanzenarten. Daraus erwächst die heutige Schreibanregung. Und natürlich aus dem gedichtartigen Gebilde, das hier als Anregung zur Nachahmung dienen möge:
Marion Poschmann: Moosgarten ein ready-made
(1. Strophe von 10; aus: #poesie, 2018)
Nickendes Pohlmoos
Gemeines Quellmoos
Glashaar-Widertonmoos
Einseitswendiges Torfmoos
Dreilappiges Peitschenmoos
Nacktmundmoos
Flaschenmoos
Breitringmoos
Vielfruchtmoos
Gewelltes Plattmoos
26. Juli 2021
13/26 Minuten
Grenzüberschreitungen de luxe
Eine großartige kreative Woche liegt hinter mir, hinter uns. Meine Kollegin Yara Semmler (pieceofpie.de) und ich haben zum fünften mal die Grenzen zwischen Kreativem Schreiben und künstlerischem Gestalten abgetastet, aufgeweicht und überschritten. Mit wundervollen Teilnehmerinnen. In meinen Räumen, auf meinem Gelände in Kaufungen. Immer wieder setze dann auch ich mich herausfordernden Aktivitäten aus – Acrylfarbe ohne Pinsel.
Jetzt aber zur (Schreib-)Anregung:
Jeder Tag (mit acht Unterrichtseinheiten) begann mit einem von uns so genannten Kreativimpuls (eine Unterrichtseinheit). Meinen Lieblingskreativimpuls vom fünften Tag lege ich dir ans Herz, an den Stift.
Leg dir zwei DIN A3-Bögen Papier zurecht. Wähl dir einen Stift, mit dem du sowohl fließend schreiben als auch zeichnen kannst. Nun zeichnest du eine Linie, 13 Minuten lang, ohne den Stift abzusetzen, machst du Linien, Kringel, Schleifen, Gekritzel usw. auf dem Papier, die Linie darf kreuz und quer laufen, die einzige Regel ist wirklich: Lass den Stift auf dem Papier. Auf dem zweiten Bogen schreibst du 13 einen einzigen Satz, der also erst ganz am Ende einen einzigen Punkt bekommt. (Wenn du eine zusätzliche Herausforderung suchst, zu der wir unsere grenzüberschreitungsfreudigen Teilnehmerinnen motivieren konnten: Schreib den Satz ohne Satzzeichen, also verbinde alle Teile – Hauptsätze, Satzteile – mit „und“ oder „oder“, sodass keine Satzzeichen nötig sind. Das ist ein oulipotisches Verfahren.)
5. Juli 2021
Der 5. Juli
Was könnte ich denn mal …
War nicht sehr kreativ, war nicht sehr einfallsreich, war nicht sehr lustvoll, war nicht sehr flüssig, war nicht sehr von allem – Fa schaute ich einfach mal im Netz nach dem 5. Juli, dem Tag des heutigem Posts. Und fand (auf Wikepedia): Der 5. Juli ist der 186. Tag des gregorinischen Kalenders. Es bleiben also noch 179 Tage bis zum Ende dieses Jahres. Um diesen 5. Juli herum befindet sich die Erde an ihrem sonnenfernsten Punkt auf der Umlaufbahn, genannt Aphel (so nennt meine Enkelin Nina einen Apfel). Außerdem erklärte Algerien am 5. Juli seine Unabhängigkeit von Frankreich (1962), Nelson Mandela wurde zum südafrikanischen Präsidenten gewählt (1991), Maria Callas verabschiedete sich von der Opernbühne (1965). Geboren wurde am 5. Juli die Freiheitskämpferin Clara Zetkin (1857), die Schriftstellerin Barbara Frischmuth (1941) und die Fußballerin Megan Rapinoe (1985).
So, und was mache ich jetzt, was machst du jetzt mit diesen Informationen? Schreib vielleicht einfach drauflos, ob zur Callas, zum Fußball oder zu deinem persönlichen 5. Juli (mein persönlicher 5. Juli ist Tag 1 nach der Hochzeit meiner Eltern (1959) …
21. Juni 2021
Mittsommer
Was war, was kommt – und das Jetzt
Heute zwischen 5 und 6 Uhr hat der Sommer begonnen. Mir geht es immer so: Erst ist es sooo lange Winter, dann ist es sooo lange noch nicht warm genug (die beiden letzten Jahre lasse ich mal außer Acht), um draußen zu lesen, zu essen, Schreibwerkstatt zu machen. Und dann ist plötzlich Sommer und die Hälfte des Jahres schon vorbei … Dieses Jahr ist ein besonderes, wie auch schon das letzte. So kannst du, wie sonst vielleicht immer zur Wintersonnenwende, einmal Bilanz ziehen, heute, am Tag des Sonnenhöchststandes: Was war, was kommt (oder möge kommen) – und das Jetzt (der Moment).
Zwei Varianten:
- Vervollständige jeweils zum Satz: Gestern … | Heute … | Morgen …. Du kannst das dreimal oder noch öfter machen, sodass also quasi Strophen entstehen.
- Schreib einen Text über das Heute, das Jetzt, im Präsenz. Such den zentralen Satz heraus, starte damit einen Text über das Gestern, etwas in der Vergangenheit, im Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt. Such aus diesem Text ein Wort heraus, nutz es als Überschrift für einen Text über das Morgen, die Zukunft, im Futur I und II.
31. Mai 2021
Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen
Wettbewerb der Brückner-Kühner-Stiftung
Den 100. Geburtstages der Kasselerin Christine Brückner nimmt die in Kassel ansässige Brückner-Kühner-Stiftung zum Anlass, zu einem Wettstreit von Rednerinnen einzuladen:
„Wir laden alle Frauen ein, sich mit einer ungehaltenen Rede zu bewerben, um als eine von sechs Rednerinnen am 10. Dezember 2021 im Rahmen des 100. Geburtstages der Schriftstellerin Christine Brückner und am Tag der Menschenrechte das Wort ergreifen zu können. Die Reden werden im Kasseler Rathaus vor Publikum gehalten und vom Hessischen Rundfunk aufgezeichnet und gesendet. Einsendeschluss ist der 31. Juli 2021. Auf „ungehalten.net“ finden Sie Informationen und Aktuelles zum Projekt, den Zugang zur Teilnahme und später auch eine Auswahl von ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen.“
Vorbild ist das wunderbare Buch Christine Brückners: Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen. In diesem schlüpft sie in elf historische Frauenpersönlichkeiten von Sappho über Katharina Luther bis zu Gudrun Ensslin und hält in deren Namen Reden, genauer gesagt schreibst sie diese in einem der historischen Zeit nachempfundenen Sprachduktus. Immer wieder nehme ich das Buch zur Hand, seit ich es 1996 erworben habe. Und nun diese wunderbare Idee der Stiftung, deren Aufruf zum Redenschreiben und -halten ich sehr gern unterstütze.
24. Mai 2021
Einladung zum …
Automatischen Schreiben
Am 2. Mai ist dieser Blig sieben Jahre alt geworden – und ich habe tatsächlich noch kein einziges Mal empfohlen, das Automatische Schreiben zu praktizieren. Das muss nachgeholt werden. Jetzt. Automatisch zu schreiben bedeutet, eine passive Schreibhaltung einzunehmen, die Kontrolle, die Steuerung aus der Hand zu geben, etwas, es schreiben zu lassen, nichts zu wollen, dem Bewiusstseinsstrom, dem Kopfkino zu folgen, zu protokollieren, was sich zeigt, was ich höre, was ich sehe … Der Schriftsteller und konkrete Poet Franz Mon, der am 6. Mai 95 Jahre alt geworden ist, hat einmal über das Automatische Schreiben gesagt (meine Mitschrift in einem Workshop 2003), es sei:
„Traumhaft somnambul gelöstes Tun.
Bewusstsein ohne einzugreifen dabei.
Es ist eine Schreibhaltung.
Eine Sprache, die mich hat.
Die mich hat kommen lassen.
Und ein Geschenk zum Anzapfen.
Oder auch ein Steinbruch.“
Als eine Art Impuls möge André Bretons Anleitung zur écriture automatique aus dem Surrealistischen Manifest (1924) dienen:
„Beschaffen Sie sich Schreibzeug, setzen Sie sich an einen Platz, wo Sie sich möglichst ungestört in sich selbst versenken können, entspannen Sie sich völlig, seien Sie ganz passiv und so hinnehmend und aufnahmebereit wie möglich! Lassen Sie sich nicht durch den Gedanken an Ihre etwaige Genialität beirren!
Sehen Sie von Ihren eigenen und den Talenten aller anderen Menschen ab!
Sagen Sie sich eindringlich, dass die Schriftstellerei der trübseligste Weg ist, der zu allem führt! Schreiben Sie rasch nieder, was Ihnen einfällt, und besinnen Sie sich gar nicht auf ein Thema! Schreiben Sie so schnell, dass Sie sich überhaupt nicht versucht fühlen, vom schon Geschriebenen etwas behalten zu wollen oder es noch einmal durchzulesen!
Der erste Satz kommt Ihnen ganz von selbst. Wie es mit dem zweiten geht, lässt sich zwar schon schwerer sagen … Doch machen Sie sich darüber keine Sorgen!
Schreiben Sie einfach unentwegt weiter!
Verlassen Sie sich ganz auf die Unerschöpflichkeit des Wisperns, Raunens und Murmelns in Ihnen!
Und wenn dies doch einmal zu verstummen droht, etwa weil Sie über einen Schreibfehler stolpern … oder ein Wort, das Sie schrieben, Ihnen äußerst befremdlich vorkommt, dann schreiben Sie einfach irgendeinen Anfangsbuchstaben, z. B. ein L, gerade immer nur ein L, und stellen die anfängliche Willkürlichkeit dadurch wieder her, dass Sie dieses L dem beliebigen Wort, was Ihnen sogleich in die Feder fließen wird, als Anfangsbuchstaben aufnötigen“ (Breton 1924 in Nadeau 1986, S. 64).
Breton, André (1924): Manifeste du Surréalisme. In: Nadeau, Maurice (1986): Geschichte des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
29. März 2021
Daumenkino
Schreiben Richtung innen
Nimm ein Buch aus deinem Regal, das du noch nicht gelesen hast oder an dessen Inhalt du dich nicht mehr erinnerst (der Rechtschreibduden ist auch eine gute Möglichkeit). Du lässt die Seiten des Buches mit dem Daumen durchrauschen, ohne dass du Wörter bewusst erkennen kannst. Mach das einmal, höchstens zweimal. Anschließend entsteht ein Text, spontan, schnell, ohne bewusst aktivierten Gestaltungswillen.
Die Daumenkino-Schreibanregung stammt von meiner Regensburger Kollegin Sabine Rädisch. Sie aktiviert unser Vor-/Unter-/Unbewusstes.
15. März 2021
One-Minute-Paper
Freewriting-Variante
„Dichten ist für mich … eine zu klein geratene Praline, Energieverschwendung de luxe, nicht das, was ich routinemäßig tue – mal abgesehen vom Haiku-Schreiben (aber ob das Gedichte sind …).“ So der Wortlaut meines One-Minute-Papers aus einem Workshop Ende Februar. Der Impuls hieß: Dichten ist für mich …
Ein kurzes Innehalten, eine kurze Reflexion, ein fokussierter Schreibsprint – One-Minute-Papers kann man in vielen Situationen verfassen. Um sich kurz einmal herauszunehmen aus der Situation, um schreibbasiert nachzudenken oder um etwas auf den Punkt zu bringen. Es ist wichtig, eben nicht nur ein paar Stichworte aufzuschreiben, sondern dem Gedankenstrom zu folgen, wie beim klassischen Freewriting.
Trotzdem ist ein One-Minute-Paper wiederum kein klassisches Freewriting – weil nach einer Minute schon Schluss ist. In didaktischen Unterrichtsempfehlungen wird dieses Verfahren auch verwendet, um den Lernstand abzufragen oder ein Feedback einzuholen. Hier soll es aber empfohlen werden wie oben beschrieben, als selbstwirksames Mini-Verfahren.
15. Februar 2021
Zettelgeschichten
Kostenlose Mitbringsel vom Einkaufen
Da, ein handbeschriebener, weißer Zettel auf dem weißen Schneeberg – ich hebe ihn auf. „Milch (2 l), Reiswaffeln, Käse, Zahnpasta, Bananen, Schokolade (zb), Chips“ lese ich. Eine schöne Schrift, ausladend, wahrscheinlich von einer Frau. Ein Bild taucht in meinem Inneren auf: Eine Frau, Mitte 70, Kurzhaarschnitt, blau-türkise, wollige Oberbekleidung, sitzt in einem Sessel und schaut den Tatort, in ihrem unteren Rücken eine Wärmflasche, auf ihrem Schoß ein Teller mit Häppchen: Reiswaffeln mit Cheddarkäse, Bananenscheibchen, vier Stückchen Zartbitterschokolade, ein kleiner Berg Paprika-Curry-Chips, in der Hand hält die Frau eine große Tasse mit Kakao. Ich sehe diese Frau nicht nur, ich fühle sie auch, ,weiß‘, welchen Beruf sie einst hatte, warum sie Tatort schaut und warum niemand außer ihr da ist.
Immer wieder bleiben Einkaufszettel im Einkaufswagen zurück oder fallen aus der Jackentasche und landen im Schnee. Wenn du das nächste Mal beim Einkaufen einen solchen findest, nimm ihn mit nach Hause und lass ein Bild in dir auftauchen, das dich dann zu einer Figur oder einer Szene führt.
Der Buchtipp zur Schreibanregung: Kathrin Pläcking: Zettelgeschichten. Freiburger Verlag 2009
11. Januar 2021
Nimm 2
Erhellendes durch ,Überlistungen’
Den Namen fand ich schon als Kind genial: „nimm2" stand (und steht) auf der Tüte, erlaubt war es also, gleich zwei auf einmal zu nehmen, das war sonst nie erlaubt! Aber was nützt es mir, die gedruckte Erlaubnis zu bekommen? Gar nichts! Ich fand diese Bonbons mit der glibberig-cremigen Füllung, die auch noch nach Frucht schmeckten, widerlich. Also blieb ich bei Lakritz – eine Tüte Katjas reicht echt lange, wenn man immer nur eins nimmt und lutscht!
Über Süßigkeiten der Kindheit und die die familiären Verzehrregeln könnte auch geschrieben werden – ein anderes Mal! Die Idee, die sich hinter der Überschrift "Nimm 2" verbirgt, ist folgende:
Wähl zwei Begriffe, die weit voneinander entfernt liegen. Du kannst z. B. MONTAG und FLUTLICHT wählen. Zu diesen beiden Begriffen machst du jeweils ein Akrostichon in der Kryptichon-Satz-Variante. Hier zwei Beispiele von mir (zu SONNTAG und CORONA):
S onderbar
O bertonreich
N agen
N ebensächliche
T hemen
A m
G enerellen
C lusterartig
O perieren
R espektlose
O rganisationen
N eben
A rtverwandten
Nun soll aus diesen beiden ,Vortextchen’ (die aber natürlich auch schon zufriedenstellend sein können) ein Text entstehen – entsprechend des Versprechens in der Unterüberschrift dieses Posts.
- Du kannst das erste Wort aus dem ersten und das letzte Wort aus dem zweiten Akrostichon als Impulse nehmen, hier also: Sonderbar / Artverwandten.
- Du kannst die jeweils dritten Wörter nehmen, hier also: Nagen / Respektlose.
- Du kannst aus beiden das jeweils längste (oder kürzeste) Wort nehmen, hier also: Nebensächliche / Organisationen (Am / Neben).
- Du kannst auch einfach die beiden Kryptischen-Sätze als ganze mit in deinem Text verarbeiten, hier also: Sonderbar obertonreich nagen nebensächliche Themen am Generellen. / Clusterartig operieren respektlose Organisationen neben artverwandten.
4. Januar 2021
Ins Neue starten …
… mit leichter Hand
In diesen Tagen telefonieren wir wahrscheinlich mehr als üblich – wir wünschen unseren Liebsten ein gutes neues Jahr und außerdem ist Lockdown und wir können uns nicht im Café oder in Küchen zum Neujahrsplausch treffen … Wenn du auch zu den Menschen gehörst, die während des Telefonierens kritzeln, schreib doch einfach zwischendurch mal ein paar Wörter mit, die aus dem, was die andere Person sagt, hervorleuchten. Und wenn ihr dann euer Telefonat beendet habt, machst du ein Elfchen – mit leichter Hand. Dieses kannst du dann der Person (vielleicht gar auf Papier mit der echten Post) zukommen lassen. Ein Elfchen besteht aus 11 Wörtern in 5 Zeilen (1, 2, 3, 4, 1 Wörter), beginnt klassisch mit einer Farbe und endet klassisch mit einer Quintessenz oder einem noch andere Räume öffnenden Begriff. Gestern habe ich aus Texten einer Kollegin, die ich hören durfte, ein paar Wörter und Halbsätze notiert – und in einem Elfchen verarbeitet.
Elfchen für Sabine
blassrosa
mit Salbei
betrittst du Räume
springst in heißen Brei
atmest
7. Dezember 2020
Geschenke
auch zum Advent
Über meine Leipziger Kollegin wurde ich eingeladen, an einer Adventskalenderaktion mitzumachen. Ich habe also 24 gleiche Päckchen gepackt (übrigens mit meinen sechs Lieblingsschreibanregungen darin) und selbst letzte Woche dann einen Adventskalender bekommen – mit 24 Päckchen von Menschen, die ich gar nicht kenne. Ohhh, wir lange ich keinen Adventskalender mehr hatte! Und wie schwer es ist, immer nur ein Päckchen auszupacken …
Und dann bekomme ich plötzlich noch einen: Meine Schreibfreundin Nicole O. aus Kaufungen schickt mir jeden Tag fünf bis sieben Zeilen eines in Kassel spielenden Kurzkrimis. Es ist eine ganz schön große Herausforderung, nicht weiterlesen zu können, weil es doch täglich spannender wird …
Und ebenso plötzlich bekomme ich einen dritten Adventskalender: tägliche Schreibimpulse, die meine Schreibfreundin Barbara R. aus München an ihre MitbewohnerInnen in der Hausgemeinschaft jeden Morgen verschickt – und an mich! Ohhh, wie großartig es doch ist, diese Schreibimpulse zu bekommen, die ich mir nicht selbst ausgedacht habe! (Danke, Barbara!) Aus Barbaras Kalender nehme ich den Impuls vom 5. 12., die mir sehr gut in diese Zeit zu passen scheint, aber möglicherweise auch mannigfaltige Assoziationen auslöst: Im Lotterbett lümmeln.
P.S. Und wenn du gern tägliche Schreibanregungen bis zum 24. 12. von mir bekommen möchtest: Schau einfach in den Post von letzter Woche!
30. November 2020
Adventskalender
24 Schreibimpulse kostenlos
Was macht eine Schreibpädagogin, deren Schwerpunkt auf der Leitung kreativ schreibender Erwachsenen-Gruppen liegt, wenn deren Arbeit wegen einer Pandemie untersagt ist, wenn sie aber trotzdem nicht anders kann (und will), als an ihre allein an ihren Schreibtischen sitzenden SchreibschülerInnen und -freundInnen (die alle Gartenarbeit erledigt haben und sich auch nicht in den Weihnachtstrubel in der Stadt stürzen wollen) zu denken und sich zu fragen, wie sie ihnen kleine Schreiberlebnisse bescheren kann? Ah, bescheren … Haben wir nicht Advent, und freuen sich nicht auch Erwachsene über einen Adventskalender?!
Morgen, am 1. Dezember, starte ich eine kostenlose Aktion: den exklusiven Schreibimpuls-Adventskalender! Es gibt jeden Tag per Mail einen winzigen Schreibimpuls. Immer nur ein Wort, einen Satz, ein Verslein, ein Bild. Keine Formvorgaben. Du nimmst das Angebot als Impuls, lässt es in dich hineinsinken, gehst damit in Resonanz und schreibst. 3 Minuten, 14 Minuten, 37 Minuten …
Alle, die regelmäßig meinen Newsletter bekommen, erhalten die Impulse automatisch. Wenn du, die du das hier liest, noch nicht im Verteiler bist, melde dich gern per Mail bei mir, dann bist du dabei! Und du kannst das Angebot bzw. die täglichen Impulse auch sehr gern weitergeben. Interessierte schreiben mir einfach eine Mail und werden mit ,versorgt‘.
16. November 2020
Martinssommer
mitten im Totenmonat
Bis ich letzte Woche im Wetterbericht einer Nachrichtensendung den Begriff hörte, war er mir vollkommen unbekannt: Martinssommer. Um St. Martin herum scheint es immer wieder einmal ein letztes Aufbäumen des Sommers zu geben – in diesem Jahr ist es in jedem Fall so. Dieses Wetterphänomen wird Martinssommer genannt und ist quasi das Pendant zu den Eisheiligen Mitte Mai. Der November also ist nicht nur ein Totenmonat. Vielleicht eine gerade jetzt passende Schreibanregung, zur Lichtsymbolik des Martinsfestes und zum Sommer im November zu schreiben – draußen!
12. Oktober 2020
Farbe sein und …
Farbe schreiben
Schritt 1: Wäre ich eine Farbe, wäre ich heute? Beantworte zuerst diese Frage.
Schritt 2: Wenn du das gemacht hast, nimm Notizheft und Stift und geh nach draußen. Such nach Dingen und Gedanken, die dir in deiner (heutigen) Farbe entgegen treten. Bleib 20 Minuten draußen, geh um den Blog, durch den Garten, notier sinnlich Erfahrbares (vielleicht riecht oder schmeckt ja etwas purpur oder gelb) und auch Gedankliches.
Schritt 3: Wieder zuhause lass dich von deinen Notizen zu einem Text anregen. Dieser könnte von einer Farbwanderung handeln, er könnte von dir handeln, er könnte aber auch – die Notizen nutzend – assoziativ wo auch immer hinführen …
28. September 2020
Zum 60. Jahrestag
Ein Tag im Jahr
1960 rief die Moskauer Zeitung Iswestija SchriftstellerInnen in aller Welt dazu auf, den 27. September 1960 zu genau wie möglich zu porträtieren. Bereits 1935 hatte einmal Maxim Gorki KollegInnen aufgerufen, Einen Tag der Welt zu dokumentieren.
Viele folgten 1960 dem Aufruf aus Moskau, aber nur eine (soweit ich weiß) porträtierte von da an jedes Jahr den 27. September, daraus sind zwei Veröffentlichungen entstanden: Ein Tag im Jahr: 1960–2000 und 2001–2011: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. Zwei wirklich lesenswerte Bücher, die 51 Jahre deutsche Geschichte auf sehr persönliche Art und Weise zeigen.
Ich habe Christa Wolfs Idee aufgegriffen: Seit 2004 dokumentiere ich jedes Jahr ,meinen‘ 8. März. Nun möchte ich aufgrund des 60. Jahrestages der Aktion (gestern) dazu einladen, ebenfalls einen Tag zu dokumentieren, den heutigen oder den 4. Oktober oder einen, der mit persönlicher Bedeutung aufgeladen ist (wie bei mir der 8. März als Internationaler Frauentag). Und das jedes Jahr an diesem einen Tag wieder zu tun. Wenn ich meine Einträge jetzt lese – es sind mittlerweile ja 17 – spüre ich zumindest eine sprachliche und auch an mancher Stelle eine persönliche Entwicklung. Erfreulich und spannend.
10. August 2020
Vom Hölzchen …
Schreibanregung von Jutta Reichelt
Letzte Woche gönnte ich mir eine wunderbare Weiterbildung: „Buchexperimente: Notiz von der Natur“ bei und mit Odine Lang auf der Freudenburg in Bassum. Parallel zu unserem Kurs fand eine Schreibwoche statt, geleitet wurde sie von der Kollegin Jutta Reichelt aus Bremen. So wie Odine an einem Nachmittag den Schreiberlingen ein paar einfache Buchfaltungen zeigte, so schenkte uns Jutta drei Schreibanregungen. Eine kannte ich noch nicht und finde sie ziemlich gut – jedenfalls möchte ich dazu einladen, sie auszuprobieren.
Die Schreibanregung heißt „Vom Hölzchen aufs Stöckchen“. Die Idee ist, von einem physischen Gegenstand (z. B. ein Hölzchen vom Wegesrand) auszugehen, ihn möglichst genau zu beschreiben und sich dann nach einer Zeit wegzubewegen, um ganz woanders zu landen oder auch wieder in der Nähe.
Die Schreibanregung knüpft wunderbar auch an die aus der letzten Woche an. So wie diese fokussiert und schärft sie gleichermaßen die Wahrnehmung, lässt Details lebendig werden, die wiederum Texte beleben.
3. August 2020
Und dann spricht sie mit mir
Beschreibung und Perspektivenwechsel
Geh nach draußen, nimm Papier und Stift mit. Lass dich in der Nähe einer Pflanze, die dich aus irgendeinem Grund anspricht, nieder.
Schritt 1: Beschreib die Pflanze möglichst genau, geh nah heran, nutz all deine Sinne, riech an der Pfanze, berühr sie.
Schritt 2: Lass die Pflanze zu dir sprechen. Was sagt sie dir, wie sagt sie es dir, welche Wörter benutzt sie, welchen Tonfall?
Variante: Falls dir nach Spielen ist: Schreib deinen Namen rückwärts als Überschrift auf dein Blatt (bei mir stünde dann dort: Netsrik). Nun stell dir vor, wie eine Pflanze aussehen, riechen, schmecken könnte, die so heißt: Was für eine Pflanze also ist ein/e Netsrik? Und nun schreib einen Lexikoneintrag.
20. Juli 2020
Schonung
Ein Wort schreiben nach Karl Kraus
Es ist Sommer. Ich brauche Schonung. Nach diesen herausfordernden Monaten. Ich lade dazu ein, ein Wort, das du magst, das für dich nah Verschnaufpause riecht oder schmeckt, schreibend zu erkunden, einfach mal so … Und dann kommt es näher, rückt weiter weg, verändertseinen Klang, seinen eruch und Geschmack, sein Aussehen …
Karl Kraus ist der Urheber dieser Schreibanregung, mit seinem Satz „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück“ fordert er geradezu zum Schreiben auf.
Mein Verschnaufpausen-Wort ist SCHONUNG.
22. Juni 2020
Wenn …
Was wir alles dem Zufall verdanken
Von einer meiner StudentInnen bekomme ich jeden Tag, seit das Virus uns beschäftigt, eine Mail mit einem Gedicht, einem Sinnspruch oder einem kurzen Auszug aus einem philosophischen Text. (Auch das empfehle ich zur Nachahmung.) Letzte Woche bekam ich mehrere Gedichte von der polnischen Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin (1996) Wisława Szymborska.
Das folgende Gedicht möge dich zu einem freien Text inspirieren oder zur Nachahmung.
Abwesenheit
(Wisława Szymborska)
Es fehlte nicht viel,
und meine Mutter hätte Herrn Zbigniew B.
aus ZduńskaWola geheiratet.
Hätten sie eine Tochter gehabt, wäre das nicht ich gewesen.
Vielleicht eine mit besserem Gedächtnis für Namen und Gesichter
und jede auch nur einmal gehörte Melodie.
Fehlerlos im Erkennen, welcher Vogel welcher ist.
Mit hervorragenden Noten in Physik und Chemie
und schlechteren in Polnisch,
doch heimlich Gedichte schreibend,
auf Anhieb viel interessanter als meine.
Es fehlte nicht viel,
und mein Vater hätte zur gleichen Zeit
Fräulein Jadwiga R. aus Zakopane geheiratet.
Hätten sie eine Tochter gehabt, wäre das nicht ich gewesen.
Vielleicht eine, die sturer auf ihrer Meinung beharrt.
Ohne Angst ins tiefe Wasser springt.
Geneigt ist, kollektiven Emotionen nachzugeben.
Die ständig an mehreren Orten zugleich zu sehen ist
aber selten über einem Buch, häufiger im Hof,
wie sie mit den Jungen Fußball spielt.
Vielleicht hätten die beiden sich gar
in derselben Schule getroffen, derselben Klasse.
Aber kein Paar,
keine Verwandtschaft
und auf dem Gruppenbild weit auseinander.
Mädchen, stellt euch hierhin,
hätte der Fotograf gerufen,
die kleineren vorn, die größeren dahinter.
Und bitte schön lächeln, wenn ich das Zeichen gebe.
Aber zählt noch mal durch,
ob ihr alle da seid?
Ja, Herr Lehrer, wir sind alle da.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Aus: Glückliche Liebe und andere Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012
8. Juni 2020
Verschwörungstheorien –
Schreib dir eine!
Das autorencafé im Soziokulturzentrum Werkstatt Kassel e.V. ruft dazu alle VerehrerInnen der literarischen Künste dazu auf, kreativ schreibend eine Verschwörungstheorie zu erdenken. Ich unterstütze diesen Aufruf gern, hier ist er:
Literatur-Preisausschreiben: „Neue Corona-Verschwörungstheorien“
Auch ein flüchtiger Blick in die Medien zeigt: Corona-Zeit ist Verschwörungstheorie-Zeit. Gelegentlich hat man sogar den Eindruck, dass der Wahrheitsgehalt einer Mitteilung für ansprüchlich oder gar lästig gehalten wird. Nun gut, das können wir auch! Deshalb loben wir einen kleinen Preis für eine literarisch-satirische Corona-Verschwörungstheorie aus. Dieser wird unter den Einsendungen ausgewählt (der Rechtsweg ist ausgeschlossen). Zusätzlich werden wir 10 bis 15 gelungene Zusendungen im Außenbereich öffentlich präsentieren. Dafür stehen unsere Werkstatt-Säulen zur Verfügung.
Einsendeschluss: 15. Juli 2020
Umfang: Max. 2 DIN A4-Seiten
Einsende-Adresse: Werkstatt Kassel e.V. – Schreibwettbewerb, Friedrich-Ebert-Straße 175, 34119 Kassel
Bei Zusendung beachten: Bitte zweifache Ausfertigung des Textes ohne Namensnennung. Adresse extra mit in den Umschlag stecken, damit die Texte anonymisiert ausgewählt werden können. Wir bitten um Angabe, ob die anonyme Präsentation gewünscht ist.
1. Juni 2020
Das Strahlende oder das Schreckliche
Visionen schreiben
Es ist Frühsommer, der Mairegen ist vorbei! Ich lade dich zu einem Draußenschreibexperiment ein.
Heute ist Pfingstmontag. An Pfingsten wird das Verstehen gefeiert, trotz verschiedener Sprachen können Menschen miteinander kommunizieren. Derzeit ist die Kommunikation mit allen Menschen auf der Erde vielleicht notwendiger denn je zuvor. Um herauszufinden, wie wir leben wollen, was uns wichtig ist, was getan werden muss, damit niemand das Nachsehen hat. Deshalb will ich heute dazu anregen, das folgende Zitat als Impuls zu verwenden, schreibend probezuhandeln.
„Ich glaube, das Virus hat uns an eine Zeitenwende gebracht. Beides ist jetzt möglich, das Strahlende und das Schreckliche“, sagt Ferdinand von Schirach in einem seiner Gespräche mit Alexander Kluge, die sie kurz nach dem Shutdown Ende März geführt haben und das unter dem Titel Trotzdem erschienen ist.
Quelle: Schirach, Ferdinand von / Kluge, Alexander (2020): Trotzdem. München: Luchterhand: 58
25. Mai 2020
Wer spricht denn da?
Perspektivenwechsel
Es ist Frühsommer, der Mairegen ist vorbei! Ich lade dich zu einem Draußenschreibexperiment ein.
Schritt 1: Geh in den Garten, den Park, den Wald, nimm deinen Schreibblock mit. Setz oder hock oder stll dich vor eine Pflanze, ein kleines Detail einer Pflanze. Beschreib sie oder es. Lass deine Bewerungen, deine Gedanken ganz beiseite, bleib bei der Beschreibung, nutz all deine Sinne: ie sieht die Pflanze aus, wie riecht sie, wie schmeckt sie, wie fühlt sie sich an, was hörst du, wenn der Wind hineinfährt?
Schritt 2: Wechsel die Perspektive: Nun spricht die Pflanze zu dir. Was sagt sie? Wie sagt sie es? Schreib, wie der Pflanze der Schnabel gewachsen ist.
4. Mai 2020
Erst sprechen, dann schreiben
Nonnen- oder Mönchsgang
Du willst etwas klären und kommst mit Freewritings und nächtlichem Grüblen nicht mehr weiter? Das Verfahren, das ich vorschlagen möchte, heißt Mönchs- bzw. Nonnengang und ist sehr einfach zu praktizieren – und dennoch nach meiner Erfahrung sehr effektvoll:
Du tust dich mit einer Person zusammen, die – wie du – ebenfalls für sich etwas klären möchte. Zu zweit verabredet ihr eine Stunde, in der ihr spazieren geht. Es sollte ein Weg sein, den eine der gehenden Personen kennt, damit er quasi austomatisch gegangen werden kann, und es sollte ein Rundweg sein, der etwa eine Stunde normalen Gehens erfordert. Vor dem Losgehen legt ihr euch Schreibzeug bereit an eurem Ausgangsort (ob der bei einer der beiden ist, in einem Auto auf einem Waldparkplatz oder auf einer Bank) und ihr verabrede, wer beginnt.
Die erste Person darf 25 Minuten sprechen oder schweigen oder schreien oder sprechen und schweigen im Wechsel; die andere Person hört nur zu, fragt nicht nach (außer bei akustistischen Problemen), sie gibt keine Kommentare, auch keine zustimmenden/aufmunternden wie „Tatsächlich!?“, „Aha“ oder „Hmm“. Und die sprechende Person macht sich zwischendurch keine Notizen.
Nach den 25 Minuten (die zuhörende Person achtet auf die Uhrzeit) schweigen beide 5 Minuten, vielleicht auf einer Bank oder einfach im Weitergehen. Dann werden die Rollen gewechselt. Wenn die 25 Minuten der zweiten Person um sind, schweigen beide wiederum 5 Minuten (oder bis zur Rückkehr zum Ausgangsort).
Dort greifen nun beide schweigend nach ihrem Schreibzeug und schreiben – was und in welcher Form auch immer. Dafür nehmt euch mindestens 30 Minuten Zeit.
Später könnt ihr noch ein wechselseitiges Feedback (ob mündlich oder schriftlich) verabreden.
27. April 2020
Aus gegebenem Anlass
Maskentexte schreiben
Ab heute müssen wir alle in Läden Masken tragen. Ja, und Abstand halten eh. Und so weiter. Mehr muss hier dazu ja nicht gesagt werden. Außer: Lachen ist auch unter der Maske möglich. Und Schreiben ist selbstverständlich immer möglich. Mit Maske und ohne und zum Thema und vielleicht nach einem dieser Impulse (die Fotos hat meine Schwester Imke Alers gemacht).
P.S. Und zu meinem Blog-Eintrag von letzter Woche noch ein ergänzender Link. Schon den Titel des Aufsatzes von Miriam M. Reinhard finde ich sehr ansprechend: Habt Angst füreinander.
13. April 2020
24 Zettel füllen
Statt Osterspaziergang
Ein Experiment schlage ich dir vor. Du musst dafür etwa eine Stunde Zeit einplanen. Lies und befolg bitte diese vier Schritte:
Schritt 1: Du schneidest dir aus vier DIN A4-Blättern jeweils 6 annähernd quadratische Stücke (Blatt längs einmal und quer zweimal falten, dann hast du schon sechs Gefache, sie müssen nicht exakt gleich groß sein).
Schritt 2: Du gehst mit diesen 24 Blättchen an einen anderen Ort als den, an dem du sonst immer schreibst, nach draußen, auf den Balkon, in den Keller …
Schritt 3: Dort füllst du die Blättchen innerhalb von 45 Minuten. Auf jedem Blättchen sollen mindestens 6 Zeilen stehen. Es geht ums schnelle Machen. Es geht nicht darum, jetzt 24 ,fertige‘ Textchen oder eine Geschichte mit 24 Kleinstkapiteln zu schreiben, sondern darum, schnell die 24 Blättchen zu füllen. Nummerier sie am besten.
Schritt 4: Schreib auf Zettel Nr. 20 bereits vor dem Platzwechsel das Wort „trotzdem“.
Jetzt starte. Wenn du einen Impuls zum Starten brauchst, hier kommt er: „parallel“.
P.S. Später, wenn du mit den Zetteln wieder an deinem Schreibplatz bist: Nun hast du 24 Zettel auf einem Stapel vor dir liegen. Breite sie aus. Du kannst jetzt mit dem Material unterschiedlich verfahren, z. B. so: a) Nimm eine Zeile von jedem Zettel und mach eine Collage. b) Nimm drei oder vier Zettel, die für dich irgendwie zusammengehören und füg sie zu einem Gedicht oder einer Prosaminiatur.
5. April 2020
Wer hier sitzt …
Schreiben in den Ferien
Es sind Osterferien, viele sitzen mehr als je zuhause, Verreisen geht nicht, FreundInnen treffen ist schwierig, Ausflüge machen, Museen oder Bibliotheken besuchen, Eisessen gehen – alles schwierig, und irgendwann sind auch Frühjahrsputz in Haus und Garten erledigt. Schreiben aber geht! Deshalb heute mal zwei Schreibanregungen:
1. Schreib einen freien Text und beginne mit: „Wer hier sitzt …“
2. Schreib einen Text zum Thema „Was ich jetzt machen kann“, der mit dem Prinzip des Seriellen arbeitet. Du kannst entweder jeden Satz mit der Floskel „Ich kann jetzt …“ beginnen oder einen aufzählenden Text schreiben, der z. B. so beginnt: „Ich kann jetzt … Spinnweben fegen, Stuhllehnen putzen, den Dachboden sortieren, ein Bild abhängen, Radieschen säen, die Füße hochlegen, die Fugen auskratzen, einen Stuhl bereitstellen […]“ (Simone R.-H.).
Und wer angestochen ist und mehr Schreib-Anregungen will: Ein Einstieg in mein Online-Format OsterSchreibVergnügen ist noch möglich (siehe Newsletter).
16. März 2020
Schreiben in den Zwangsferien
Und dann ab in den Garten
Heute ist der erste Tag, an dem viele von uns tendeziell verordnet zuhause bleiben – außer wir arbeiten in infrastrukturerhaltenden oder Gesundheitsberufen. Sprachaffine Menschen neigen nicht dazu, zunächst jedenfalls nicht, sich eingesperrt zu fühlen, wenn sie nicht in die Disco, nicht ins Kino etc. dürfen. Endlich Zeit zum Lesen, für den Garten (oder die Fenster, oje) oder eben fürs Schreiben.
Für Familien mit Kindern empfehle ich Stadt-Land-Fluss-, Gefüllte Kalbsbrust- und Akrostichon-Sessions. Für Alleineschreibende empfehle ich einen freien Text, in dem folgende fünf Wörter vorkommen: Krönung, Krise, Klopapier, Kurve, Kritik.
Und dann ab in den Garten, Boccia oder Wikingerschach spielen, Giersch und Brennnesseln für den Salat ernten, alte Äste zersägen …
9. März 2020
Erfindungsrezeptchen
51 Arten, (Schrift-)Sprache zu dehnen
Auf Sylt stellte ich am zweiten Schreibtag die Aufgabe, mitgebrachte Gegenstände zu untersuchen. Ich hatte ein türkisblaues Gummiband mitgebracht, untersuchte es zuerst anagrammatisch, um mich dann mit dem Dehnungsvermögen zu befassen – auf Sprache bezogen. Hrausgekommen sind 51 Arten, (Schrift-)Sprache zu dehnen.
- Du könntest Verben erfinden.
- Du kannst eine Zukunft erfinden oder zwei.
- Aaaaaabeeer, das, also dahas kann man auch gaaaaaanz anders, vollkommen anders oder nur ein bisschen anders sehen – sag dir und Anderen das immer mal.
- Buchstabier: S.P.R.A.C.H.E. D.E.H.N.E.N.
- Im Plusquamperfekt werden alle Sätze länger, am besten ist es, noch das Passiv zu wählen – schreib seitenweise im Plusquamperfekt Passiv.
- Du kannst Wörter ausleihen und nutzen, türkische, mongolische oder nordfriesische – wie sjüün oder tuanbeenk.
- Schreib mit Links, von links nach rechts und dann von rechts nach links.
- Schreib alles dreimal.
- Wiederhol richtige, wichtige, gute, gewagte, mutige, befreiende Wörter täglich.
- Schreib mit der Hand.
- Fremdwörterbücher sind wunderbare Sprachdehnungshelfer, füg 13 Fremdwörter in deinen nächsten Text.
- Schneid deinen Text längs durch und schreib erst die rechte, dann die linke Seite neu (das geht auch wunderbar im Tausch mit einer anderen Person).
- Schreib mit Wachsmalstiften.
- Geh in eine katholische Kirche, knie dich in eine Bank und füll in 45 Minuten 34 Zettel à 10 x 10 cm mit jeweils mindestens sieben Zeilen.
- Und täglich grüßt das Murmeltier – das Zyklische könnte hilfreich sein, Wiederholungen, Rapporte, Rhythmen statt Schneller-Höher-Weiter, vielleicht mit Gertrude Stein als Hilfe.
- Du kannst Anagramme machen – das dauert!
- Erfinde dir neue Vergangenheiten, ein gelebtes Leben im Zaubergarten am Zaubertausee.
- Schreib Briefe auf Englisch oder Französisch oder Türkisch oder Finnisch oder Suaheli oder Runyoro.
- Zerschneide Wörter wie nimmermehr und übermorgen und setz sie zu neuen zusammen, wie nimmermorgen, übermehr oder mehrmorgen.
- Du könntest einmal ein ganzes Blatt mit einem Wort füllen, z. B. mit Gummiband.
- Du darfst Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik einmal außer Acht lassen und wild werden.
- Du könntest ein Gedicht machen über etwas, über das noch nie jemand ein Gedicht gemacht hat, z. B. über ein türkisblaues Gummiband.
- Du darfst Fische mit Zitronen vergleichen und mit Met beträufeln.
- Schreib über den Geschmack von Tiefkühlerbsen am 1. 3. Im Jugendseeheim auf Sylt (oder wo du gerade am 1. 3. bist oder am 16. 9.).
- Lass dir Wörter schenken, jeden Tag eins wie z. B. Sternencluster oder Ärgerspirale.
- In Schubladen und Regalen lagern alte Texte, sie können überschrieben werden.
- Nutz das generische Femininum.
- Sei Wörtergärtnerin: Blumen wachsen genauso gut, wenn sie, aus der Krone des Kirschbaums betrachtet, das Wort Bienchen oder das Wort Frieden.
- Mäh Botschaften an die Menschheit oder an die Nachbarschaft in das Brachland nebenan.
- Du darfst ein Transparent für Fridays for Future machen, mit deinem Herzensspruch, z. B.: Es gibt Fortschritt ohne Wachstum.
- Kauf dir die Stilübungen von Raymond Queneau, mach in den 99 Tagen nach diesem unvermeidbaren Einkauf täglich eine Stilübung à la Queneau.
- Du könntest Texte schreiben wir Friederike Mayröcker mit Akeleien und rosa Walen und M.
- Schreib Texte, wie Frida Kahlo oder Salvatore Dalí Bilder gemacht haben, mit Käfigen aus Bäumen oder Schlangen und fliegenden Tigern.
- Wenn ein Kamel ein Wüstenschiff ist, welche Metapher könnte eine sein, die du der Welt schenkst für Wattwürmer?
- Geh mit einer Freundin, einem Freund in den Wald, sucht zusammen Wörter für die besondere Rosettenform der Flechten, die Oberbekleidung der Pilze und eure Freundschaft.
- Mach Schlagzeilen-Collagen (und überhaupt Collagen aus Texten).
- Das Futur II wird arg vernachlässigt, du darfst es inflationär auskosten.
- Auf Spaziergängen darfst du laut mit dem Reiher und deinen Dämonen sprechen – notier ihre Antworten.
- Fahr Straßenbahn, Notizbuch nicht vergessen, Kopfhörer zuhause lassen.
- Im Deutschen können Nomen zusammengesetzt werden, so können Wörter entstehen wie Kartoffelrosenknospen oder Spülsaumabbruchkantenmuschelfund.
- Nimm einen deiner Texte aus der letzten Woche und streich alle Adjektive, mal so zur Probe.
- Schreib in Lila, Wörter klein, alle Buchstaben groß, im Binärcode oder Morsealphabet.
- Manche deiner FreundInnen brauchen Wochen, um eine Rede zum 80. Des Schwiegervaters oder eine Postkarte zu schreiben – erweis ihnen einen Freundschaftsdienst.
- Du könntest auf einen Einkaufszettel solche Dinge schreiben wie Winterschlaf, Wunder, Wut, Wendehammer usw.
- Wenn du etwas selbstverständlich immer Verwendetes weglässt, wie z. B. Verben oder den Buchstaben E oder Nebensätze, werden sich die Nebel heben und neue Blicke freigeben.
- Bilde feminine Formen zu maskulinen Wörtern und umgekehrt, z. B. der Mond – die Mondäne, die Mandarine – der Mandarin.
- Spiel Göttin (gern auch mit einer Gehilfin oder mehreren) und mach ein Schöpfungs-ABCdarium: Alabaster-Affe, Baldrian-Bienchen usw.
- Ändere oder tausch Präfixe und Suffixe, z. B. dranbleiben/durcharbeiten – dranarbeiten/durchbleiben, Blindheit/endlich – blindlich/Endheit.
- Erfinde Wörter durch Vokalvertauschungen nach Art der Schüttelreime, so wird z. B. aus Gummiband Gammibund.
- Notier die Sprache der Ameisen, der Blindschleichen, des Strandhafers, der Kartoffelrose, des rundgeschliffenen Holzes, das letzte Nacht aus dem Meer kam.
- Du darfst hundertmal schreiben: Ein Anfang ist ein Anfang ist ein Anfang ist ein Anfang ist …
24. Februar 2020
Hinter der Maske: Ich bin …
Schreiben am Rosenmontag
Nach dem Impuls „Hinter der Maske: Ich bin …“ haben wir heute Morgen in der Montagsfrauenschreibgruppe geschrieben. Der Kursschwerpunkt ist ein autobiografischer – aber es sind durchaus auch fiktive Texte entstanden. Das Thema Masken ist so vielfältig! Entlastung, Scham, Spiel, Tarnung – nimm den Stift und forsch in dir nach dem, was Masken für dich bedeuten.
20. Januar 2020
Fang es an
Fang es heimlich oder endlich an
Das Bild von Paul Klee mit dem Titel „Anfang eines Gedichts“ (1938) ist und bleibt aktuell, es kann jedes Jahr, jeden Tag als Impuls dienen – und besonders das Wort „heimlich“ ... usw. ...
13. Januar 2020
Das Jahr ist eine Schlange
Schlangengedichte schreiben
Ein Tag reiht sich an den nächsten, immer stoßen die Tage aneinander, 24 Uhr ist 0 Uhr. In einem Schlangegedicht ist es so ähnlich. In Meret Oppenheims 2. Schlangengedicht von 1974 beginnt jedes Wort mit dem Buchstaben, mit dem das Wort davor aufgehört hat. Spannender finde ich (optisch, akustisch und vom Sog her, auf den ich mich beim Schreiben einlassen muss) die Variante, in der jeder Satz mit dem letzten Wort des Satzes davor beginnen muss.
Ein kurzes Beispiel: Wir gehen zum Rudern. Rudern ist wie das Leben. Leben heißt auch, nicht zwischen rückwärts und vorwärts unterscheiden zu können. Können wir überhaupt etwas erkennen?
6. Januar 2020
Am Anfang ...
... arbeitete Anna, aber Axel atmete
Das Jahr 2020 ist noch frisch – vielleicht lastet es auch noch nicht so schwer auf den Schultern, sodass ein Spielchen möglich ist. Zum Beispiel ein tautogrammatischer Text auf A. Das geht so: Du erzählst eine Geschichte, in der (im Idealfall) jedes Wort mit A beginnt.
Mein großes Vorbild in Sachen Tautogrammtexte ist einer der NestorInnen der Konkreten Poesie Franz Mon, hier deshalb ein Beispieltext von ihm vom 19. 2. 2003 (die Form des Textes mit den untereinander stehenden Wörtern ist nicht Bestandteil eines Tautogramms):
seltsamerweise
strauchelte
saumselig
sisyphos von
steinschlag
standspur
speiseresten
satt
separiert
sekundenlang
sobald ihm das
stichwort
stuhlbein durchs
stöpselherz
strich.
sah
stolpernd
seine
spasmische
staubspur im
sechseck.
stotterte
seismisch
skrupulös
statt den
salzigen
strunk im
stiefel zu
substituieren
23. Dezember 2019
Nur das Beste in f
Fluffige Feiertage
Ich wünsche: freudvolle, friedliche, fantastische, furchtlose, fließende, freundschaftliche, funkelnde, frustfreie, famose, federleichte, faltenfreie, frohgemute, fulminante, forderungsarme, fokussierende, festliche, funklochige, fröhliche, feierliche, findige, fluffige Feiertage!
Und immer schön schreiben, z. B. auch mal einen tautogrammatischen Text wie obigen. (Bei einem tautogrammatischen Text beginnen alle Wörter mit dem gleichen Buchstaben.)
16. Dezember 2019
Die Kleinigkeiten wahrnehmen
Listentexte schreiben
Als ich heute durch Niederkaufungen spazierte, fielen mir die unterschiedlichsten Arten auf, wie ein Baum, ein Strauch kahl sein kann, wie die letzten Blätter sich festklammern, dass da noch schwarze, braune, gelbe und rote Früchte in den dürren, knorrig wirkenden Astgäbelchen oder an den zarten äußersten Enden der Ästchen hängen. Ich schrieb eine Liste unterwegs mit dem Titel: Wie Niederkaufunger Bäume und Sträucher kahl sein können. Inspiriert hat mich dazu die längst verstorbene japanische Schriftstellerin Sei Shonagon (sie lebte um 1000 in Japan), deren Textstücke, Fragmente, Gedichte und Listen in einem Büchlein – Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon – zusammengefasst sind. Der Klappentext erläutert: „Zui-Hitsu, ,aus dem Pinsel geflossen’, nennen die Japaner jene Literaturgattung, deren Kunst darin besteht, Einfälle, Erlebnisse und Stimmungen plaudernd, improvsierend und gleichsam mühelos zu Papier zu bringen.“
Als Inspiration (vielleicht zum Festhalten von Winterimpressionen in dieser derzeitigen doch farbreduzierten Draußenwelt) hier der Listentext Was vornehm ist.
Was vornehm ist
Schnee auf Pflaumenblüten.
Glyzinienblüten.
Ein bildschönes Kind, das Erdbeeren isst.
Eine weiße Jacke auf hellvioletter Weste.
Entenküken.
Ein Rosenkranz aus Bergkristall.
Zum Listenschreiben empfehle ich auch, zum Blog-Eintrag vom 31. Juli 2017 zurückzuspringen.
2. Dezember 2019
Erste Sätze
So beginnen PreisträgerInnentexte
Am Freitag ist der 7. Nordhessische Autorenpreis im Offenen Kanal Kassel verliehen worden. Es wurden vier PreisträgerInnen durch ein Abstimmungsverfahren mit Publikumsbeteiligung ermittelt. Die ersten Sätze aus den vier gekürten Texten mögen als Schreibanregung dienen – veröffentlicht sind die Geschichten noch nicht. Möglicherweise wird 2020 eine Anthologie erscheinen.
Hab ein Feuerwerk vor deinem Haus gezündet. [...] (Lisa Neumann (Gudensberg), 1. Preis mit: Brausepulver).
Da verpuppt sich was. [...] (Patricia Malcher (Lüdinghausen), 2. Preis mit: Nachkoloriert).
Hautschnitt eins: du hattest einen Satz gesagt, der vom Ende sprach, von etwas, das uns vertrauter schien als Ewigkeit [...]. (Raoul Eisele (Wien), 3. Preis mit: sektion).
Es wird noch drei Minuten regnen, also wartet Frank Olbrich unter dem Vordach und sieht sich währenddessen seine Einkaufsliste in dem kleinen Tagebuch an. [...] (Jörg Ho (Kassel), 3. Preis mit: Erinnerungen an die Zukunft).
4. November 2019
Tod und Stille
Schreiben im November
Der November ist der Monat mit den Totenfesten, Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag. Nichts ist mehr da vom Gold, das noch vor Tagen draußen leuchtete. Kaum ein Vogel ist mehr zu hören. Usw. usw. usw. JedeR hat ein eigenes Verhältnis zum November, eine eigene Geschichte mit diesem Monat. Und da es nicht mehr sehr spaßig ist, draußen zu sein, kann man ebensogut im Haus bleiben – und schreiben. Als Impuls möchte ich das folgende Gedicht anbieten, es lädt auch ein, sich zu erinnern an die, die schon gegangen sind.
Mascha Kaléko
Memento
Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?
Allein im Nebel tast’ ich todentlang
und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.
Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr –
und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur;
doch mit dem Tod der andern muss man leben.
28. Oktober 2019
Schrift und Bild 2
(Kunst?)Werk aus Fundstücken
Machen – das empfahl ich im Blogeintrag vom 2. 9. 2019. Machen ist auch heute ein Motto: etwas machen aus Herausgefallenem, Herabgefallenem, Weggeworfenem, Abgeworfenem, Verworfenem ... Man nehme: Schnipsel aus der Altpapierkiste (mit Text und ohne), Herbstblätter (oder was man sonst so mehr oder weniger Flaches findet); alles wird aufgeklebt, collagiert, geschichtet ... Und dann braucht das Werk noch einen Titel. Fertig. Und falls sich jemand fragt, was denn nun das Schreibkreative dabei ist: die Titelfindung natürlich. (Und wenn das nicht reicht: Weitere Betextungen sind selbstverständlich nicht untersagt!)
14. Oktober 2019
Tanz das Blau
Das Bauhaus schreiben 2
In den ersten Jahren war das Bauhaus noch nicht so sehr auf Architektur und Produktion ausgerichtet, das gesellschaftliche Experiment, die Entwicklung der einzelnen (KünstlerIn-)Persönlichkeit war zentral. Diese Idee wirkte sich auch auf den Fächerkanon aus, so gab es z. B. Gartenbau und auch Tanz.
1919 kam Gertrud Grunow mit fast 50 Jahren ans Bauhaus, das sie mit „ihrem ganzheitlich orientierten philosophischen Entwurf und den konkreten rhythmisch-musikalischen Übungen ihres Unterrichts“ (Müller 2016: 27) stark beeinflusste. Ihre Praktische Harmonisierungslehre „bestand in einer Wahrnehmungs- und Ausdruckssculung, die der Sensibilisierung, Wiedererweckung und Reintegration vernachlässigter Sinnesorgane und dem ,Heilwerden’ des Menschen dienen sollte“ (ebd.: 28). Gertrud Grunow, die die einzige Formmeisterin am Bauhaus war, soll ihre SchülerInnen zu außergewöhnlichem körperlichen Ausdruck ermutigt haben, u. a. durch solche Aufforderungen wie: „Und nun tanzen Sie die Farbe Blau!“ (ebd.: 32).
Diese Aufforderung möchte ich aufs Schreiben übertragen: Und nun schreiben Sie die Farbe Blau!
Konkrete Tipps: Wähl eine Farbe (Wachskreide, Buntstift oder gar Wasserfarbe) – es muss nicht Blau sein – und nimm ein großes Blatt (mindestens DIN A3). Kritzel das Blatt voll, ausufernd, deckend oder luftig – lass dich vom Moment ziehen. Wenn du meinst, dass es genug ist, hör auf. Und dann schreib.
Schreib die Farbe! Variante 1: Benutz die Bezeichnung für die gewählte Farbe (also Blau oder Orange etc.) so oft, wie es sich gut anfühlt. Variante 2: Schreib die Farbe, ohne die Bezeichnung auch nur einmal zu benutzen – am Ende sollte für eine Leserin deutlich sein, um welche Farbe es sich handelt.
Quelle: Müller, Ulrike (2016): Bauhaus-Frauen. Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Design. 3. Auflage. München: Elisabeth Sandmann im Insel Verlag (LESENSWERT!)
7. Oktober 2019
Text-Gewebe
Das Bauhaus schreiben 1
Von Sonntag bis Dienstag weilte ich auf einer privaten (Weiterbildungs-)Reise in Dessau. Die Faszination, die das Bauhaus-Konzept auf mich ausübt, hat jetzt etwas Handfestes bekommen. Drei Faktoren werden mich nachhaltig begleiten: Erstens ist da das historische Ensemble der Schule selbst: Wir übernachteten in den Zimmern, in denen einst die SchülerInnen und JungmeisterInnen auch wohnten. So viel Licht, so viel Platz, so viel Transparenz – atmen kann man dort und kreativ werden. Zweitens ist da das neue Bauhaus-Museum – alles da, was man aus Büchern kennt: Stühle, Lampen, Zeichnungen ... und Gewebe. Drittens faszinierte mich insbesondere die Idee des Vorkurses, erfunden von Johannes Itten in Weimar (1919–1923), in Weimar und ab 1925 in Dessau fortgeführt von Laszlo Moholy-Nagy (1923–1928) und später noch Josef Albers (1928–1933); solch einen Vorkurs einmal für das Kreative Schreiben entwickeln, dachte ich ... Dazu einmal an anderer Stelle.
Um das, was die Frauen leisteten, nämlich mit den Erzeugnissen der Weberei sowohl Designvorstellungen bis heute zu prägen als auch durch den Schritt zu auf die Industrie (Stichwort: Serienfertigung von Stoffen und Teppichen) das wirtschaftliche Überleben des Bauhauses in Dessau entscheidend zu sichern, in den Vordergrund zu stellen, lade ich dazu ein, zu einem Teppich von Anni Albers zu schreiben. Sich von den Mustern, vom Gleichbleibenden und sich Wandelnden, vom Seriellen und den Variationen anregen lassen zu einem einem Text (textur = lat. Gewebe), etwas Inneres mit etwas Äußerem verweben ...
30. September 2019
200 Jahre Bremer Stadtmusikanten
Kreativer Umgang mit Märchen 2
1819 wurde das Märchen Die Bremer Stadtmusikanten erstmalig in den Kinder- und Hausmärchen der Grimms veröffentlicht – also genau vor 200 Jahren. Diesen ,Geburtstag’ möchte ich zum Anlass nehmen, zur Adaption des Märchens einzuladen. Nimm dir ein Märchenbuch aus dem Regal (oder such im WWW), lies das Märchen und versetz die Geschichte in die heutige Zeit.
„Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ – dieser berühmte Satz des Esels im Märchen lässt natürlich sofort an die Millionen Menschen denken, die weltweit auf der Flucht sind, vor Hunger, Diskriminierung, Verfolgung, Folter etc. Aber auch andere Assoziationen sind möglich. Wenn du dich anregen lassen möchtest, empfehle ich dir ein Buch aus meinem Verlag, das textlich und in der künstlerischen Gestaltung eine wunderbare Adaption des Märchens darstellt (siehe auch Blog-Eintrag vom 18. April 2016):
Yara Leonie Semmler
FischWolfVogelEidechse
Verlag Wortwechsel
ISBN 978-3-935663-29-8
13,90 Euro
23. September 2019
Wenn Rotkäppchen mit Rapunzel ...
Kreativer Umgang mit Märchen 1
Am vergangenen Dienstag besuchte ich mit einer Gruppe schreibender Menschen eine besondere Einrichtung im Landkreis Kassel, die der Kunst und den Märchen gewidmet ist: die Märchenwache in Schauenburg-Breitenbach. Wir hatten dort einen so vergnüglichen Abend, dass ich wieder (mehr) Lust auf Märchen(schreiben) bekommen habe und dazu augenblicklich also auch anstiften will.
Ich lade dazu ein, zwei oder drei dir bekannte Märchenfiguren auszuwählen (z. B. Rotkäppchen, Rapunzel und Hans im Glück), sie sich begegnen, miteinander sprechen und neue märchenhafte Abenteuer erleben zu lassen.
16. September 2019
CONNEX I/O – mitmachen!
Kollaboratives Schreiben 4.0
Donnerstag, 12. 9., es ist 19.07 Uhr, Schummerlicht, die Laptops und Tablets summen, Angelika und Klaus klappen ihre Laptops auf, Sabine setzt sich mit ihrem Schreibheft etwas abseits, ich bekomme eine kurze Einführung in ein Tablet, drei weitere Menschen haben sich uns gegenüber an die Laptops im Untergeschoss des Kunsttempels gesetzt. Ich bin ein bisschen aufgeregt.
„Der Kunsttempel wird in diesem Jahr 20 Jahre alt. Und wir feiern die Sprache“, sagt Friedrich Block, Vorsitzender des Vereins Literatur und Kunst, der auch für die aktuelle Ausstellung Poeisis – Sprachkunst verantwortlich zeichnet. „Kollaboratives Schreiben war vor 20 Jahren auch schon ein wesentlicher Punkt digitaler Kunst.“
Kollaboratives Schreiben ist das Stichwort für Sascha Pogacar. Mit Matze Schmidt hat er dazu eingeladen, an diesem Donnerstagabend Texte zu mischen, zu samplen. Eingeladen sind wir, uns an CONNEX I/O zu beteiligen, einer offen zugänglichen Plattform, auf der in 100 ,Schreibzimmern’ unbeschränkt, unzensiert und gleichzeitig Menschen schreiben, löschen und ergänzen können. Löschen?
Nur drei aus der Donnerstagsschreibwerkstatt haben sich auf dieses Experiment einlassen können, insbesondere die Möglichkeit, dass Störungen, Überschreibungen, Hineinschreibungen und eben auch Löschungen dem eigenen Text ,zugefügt’ werden können, hat wohl einige abgeschreckt. „Das Verfahren verflüssigt das Monolitische, das Texte oft haben“, sagt Sascha. Matze lacht und sagt: Manchmal entstehen battles, ich mag das!“
Ich habe schon längst begonnen, habe mich in Zimmer Nr. 54 eingeloggt, dann gehe ich zu Nr. 11, 007, 085. Äh, Momnent mal, wer mischt denn da mit, also, ich kann nicht richtig schreiben, da setzt jemand immer wieder Wörter in meinen Text, wer das ist, weiß ich nicht, Pokerfaces, ich denke an die battles, will ich nicht, logge mich aus, atme durch. Im Vorfeld hatte ich mir überlegt (nach einer Konzept-Idee von Aneke, die sich 100 Fragen ausdachte und in jedes der Schreibzimmer eine davon positionierte), mal Nomen durch andere Nomen zu ersetzen, mal Subtextsätze hinter jeden vorhandenen Satz zu schreiben, mal alle Adjektive zu streichen – dazu komme ich gar nicht, meine konzeptionellen Überlegungen werden torpediert. Ich muss umdisponieren.
Man kann sehen, in welchem Zimmer in diesem Moment wie viele Personen aktiv sind, ich wähle das mit den meisten Aktiven, will mitmischen, mischen, samplen, battlen vielleicht gar ... In Nr. 21 sind drei aktiv, ich logge mich ein. Lese Anekes Eingangsfrage, lasse mich leiten, ziehen von dem, was ich finde, assoziiere, wiederhole, assoziiere, gehe in Resonanz, spiele, mische mit ... Heute, am Sonntag, den 15. 9., schaue ich nach, was dort jetzt steht, wieder ist es 19.07 Uhr, ich finde Folgendes:
Was formt sich in Dir?
Eine meiner Ankündigungen setzt Sprache und Schrift in ein rosa Spannungsfeld.
, decollage, Stempeldruck, Fotografie bis zu computerprogrammen. In Form von text-Bild-Partituren sind auch Verbindungen zur akustischen dich-tung und musik gegeben. gerade in einer Zeit der Bilderflut und der Mens ist es von Interesse, text-Bild-Verbindungen ungerührt zu erforschen, kritisch zu feiern, poetisch zu erproben und spielerisch auszukotzen
eine heiratsfähige Frau
eine Tür
eine Kampfarena
ein Teekessel
Ein Glas Wasser
eine Straße
eine verschlossene Tür
ein nicht-heiratsfähiger Mann
Collagen
collagen
also, assoziazohnen sind gefährliche
Dinge? gerechte dinge genormte dinge bekloppte behaemmerte bediente besorgte betende blasse dinge bruenftige dinge blendende beruehrende balabala balabala dinge buersten borsten bier bor bass bratpfanne baeren beeren becken boden balken barren
Assoziazonen – was geschieht wohl in diesen Gebieten? Sie sind wohl extrem gefährlich ...
Und in Zimmer Nr. 85 steht heute Abend Folgendes:
Was von Deinen Träumen läßt sich jetzt umsetzen?
die r-ä-u-m-e dazwischen
Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen ihren Formen verboten.
lose enden rote und blaue faeden und enden faeden und gewebe und texturen und vergebliche versuche alleine zu weben wollte ich nicht immer eine egalitare tafelrunde ohne artus und ohne ritter und ohne koenige wollte wollte will will und ein gewebe mit vielen die sich verbinden im vergleichlosland ohne leibeigenschaft ohne sklavenhandel 400 jahre 400 4000 40000 jahre patriarchat und und und und ohne tafelrunden und gewebtes gewebe
Ich habe einige Leerzeilen und Steuerzeichen gelöscht, sonst nichts geändert. Morgen ist mein Text (jeweils in Orange) – noch ist er da – vielleicht nicht mehr da ...
CONNEX I/O gibt es schon seit 1997, in dieser Form des offenen experimentellen Forums ist es noch bis Ende Oktober nutzbar. Ich rufe auf zum Mitmachen, die Erfahrung ist eine spannende. Hier geht’s lang.
2. September 2019
Schrift und Bild 1
Machen
Im April 2016 leitete ich zum ersten Mal mit meiner Kollegin (Kommunikationsdesignerin) Yara Semmler den Workshop Kreatives Schreiben und künstlerisches Gestalten. Und war angestochen. Bin bis heute angestochen. Kritzle, male, klebe, stemple, reiße, knicke – und schreibe. Und füge alles irgendwie zusammen, ohne System und ohne Sinn (also ohne den, der muss, der immer gefordert wird, vor dem Machen). Dann und wann gerate ich in einen Rausch, manchmal kommt sogar etwas heraus, bei dessen Betrachtung ich entzückt bin, Abendgedanken meistens, wenn das Tagewerk getan ist und ich einfach dasitze und MACHE. Es ist so befriedigend, dass ich dieses materialgestützte Machen empfehlen möchte – ganz ohne, dass es Handlettering oder Aquarellieren etc. heißt. Also: Nimm etwas aus der Zeitung oder aus dem Papierkorb, reiß ein Teil heraus, kleb es auf, schreib etwas hinein, den ersten Gedanken, der da ist ... Ein Beispiel:
22. Juli 2019
Zufallsfunde
Impulse von einem Spaziergang
Geht einfach spazieren, etwas springt ins Auge, da liegt eine leere Packung Gitanes, ein frühes rotes Blatt, ein Stein mit einer Ader, wie es sie eigentlich nur am Rhein gibt ... Ein paar Dinge wirst du finden, ein paar Dinge wird deinE SpazierpartnerIn finden. Ihr geht den gleichen Weg und seht doch vollkommen Anderes ... (Man kann auch einen Weg gehen, und Eine schaut nur nach links, Einer nur nach rechts.)
Wenn ihr wieder zuhause seid (oder irgendwo auf halbem Weg auf einer Bank, dann müsst ihr Schreibsachen mitnehmen), gebt der/dem jeweils Anderen einen Fund – das ist die Schreibanregung. (Oder erst wird wild gemalt und erst danach geschrieben. In jedem Fall sollte vorher eine Zeit vereinbart werden.)
(Die Idee stammt von Angelika Loewe, danke.)
15. Juli 2019
FFFFFFFFFFFFF
Tautogramm-Texte schreiben
Nach der Gruppe OuLiPo (siehe auch Blog-Eintrag vom 27. 8. 2018) schlage ich heute vor, einen Tautogramm-Text zu verfassen (oder mehrere). Ein solcher zeichnet sich dadurch aus, dass alle Wörter mit dem gleichen Buchstaben beginnen. Es ist hilfreich, erst einmal eine Sammlung anzulegen, vielleicht sogar nach Wortarten getrennt, also eine Liste mit Verben (die sind am wichtigesten), eine mit Nomen, eine mit Bindewörtern usw.
Als Starthilfe hier meine Liste an Verben mit F vom 13. Juli: fallen, frieren, falten, finden, fischen, forschen, flattern, fasten, fertigen, flicken, fordern, fördern, futtern, füttern, fliegen, flechten, flüchten, färben, fahren, festhalten, fortsetzen, fluchen, fragen, fürchten ...
Man kann auch einen Text schreiben, in dem jeder Satz aus Wörtern mit dem gleichen Anfangsbuchstaben besteht, einmal durch das ganze ABC.
Abends aßen alle Ananas auf Apfelpfannekuchen.
Bevor Britta bitter bereute, brannte beinahe Bodos Bretterbude.
Chrissi chillte chancenlos chamäleonlike.
D...
1. Juli 2019
Epiphora
Auf etwas zu oder: Endverstärkungen
Epiphora ist ein Stilmittel und meint, dass jede Zeile bzw. jeder Satz mit dem gleichen Wort oder der gleichen Wortgruppe endet. Ich möchte einladen zum Schreiben eines Textes, der sich das Stilmittel Epiphora zunutze macht. Das Beispiel von Eugen Gomringer kann als Listentext oder als Gedicht verstanden/gelesen werden. Das Stilmittel so einzusetzen, ist eine Variante; ich empfehle sie heute, auch in Ergänzung zur Schreibanregung vom 24. 6. 2019 (wenn das gleiche Wort oder die gleiche Wortgruppe am Satzanfang steht, heißt das Anapher).
Eugen Gomringer: entropie
(Auszug)
entropie ist schön
das gegenteil ist schön
fortpflanzung ist schön
metabolismus ist schön
determination ist schön
schicksal ist schön
das gegenteil ist schön
struktur ist schön
chaos ist schön
information ist schön
redundanz ist schön
das gegenteil ist schön
...
24. Juni 2019
Was ich bin und was nicht
Identitätssuche mit Peter Handke
Immer schon wandle ich außergewöhnliche Texte bekannter AutorInnen in Schreibaufgaben um, so auch einige von Peter Handke. Es ist so heiß in diesen Tagen – da ist es vielleicht schon zu viel, einen Vierzeiler zu verfassen. Aber einfach ein paar Sätze mit einem oder zwei Wörtern ergänzen – möglicherweise geht das; ich empfehle die Ergänzungen der Sätze von Peter Handke:
Was ich nicht bin, nicht habe, nicht will, nicht möchte – und was ich möchte, was ich habe und was ich bin (Satzbiografie)
Was ich nicht bin:
Was ich erstens, zweitens und drittens nicht bin:
Was ich nicht bin:
Was ich leider nicht bin:
Was ich Gottseidank nicht bin:
Was ich schließlich nicht bin:
Was ich zwar nicht bin, aber auch nicht bin:
Was ich weder noch bin:
Was ich nicht habe:
Was ich nicht will:
Was ich nicht will, aber:
Was ich nicht will, aber auch nicht will:
Was ich nicht möchte:
Was ich möchte:
Was ich will:
Was ich gewollt habe:
Was ich gehabt habe:
Was ich habe:
Was ich bin:
Was ich auch noch bin:
Was ich auch manchmal bin, aber dann wieder:
Was ich bin:
Möglich ist auch, die Ergänzungen einmal vorzunehmen und nächste Woche und im September usw. jeweils noch einmal, ohne die vorigen anzuschauen natürlich – um sie dann später zu vergleichen.
Quelle: Handke, Peter (1969): Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt/Main: edition suhrkamp: S. 23ff.
17. Juni 2019
Und täglich grüßt die Gegenwart
7. Nordhessischer Autorenpreis ausgeschrieben
15 Jahre besteht er schon, der Nordhessische Autorenpreis, zehn Jahre als Verein. Und immer noch bin ich dabei – dreimal schon wollte ich aussteigen, aber meine Kinder kann ich so schlecht los- oder unterversorgt lassen ...
Jedenfalls gibt es also einen 7. Literaturwettbewerb. Ausgeschrieben ist er unter dem Titel Und täglich grüßt die Gegenwart. Kurzprosa und natürlich Lyrik und Experimentelles ist gewünscht. Einsendeschluss ist der 31. August 2019. Eine inhaltliche Auffächerung und die Teilnahmebedingungen sind zu finden auf der Website des Nordhessischen Autorenpreises.
Die Initiativgruppe, zu der außer mir noch Jacqueline Engelke, Jana Ißleib und Klaus Henning gehören, werden die Texte sichten und der Jury (wie in den sechs Durchgängen vorher) eine Auswahl übergeben. Die literarisch fachkundige Jury – Nicole Braun (Helsa, Autorin), Martin Piekar (Bad Soden, Autor und Preisträger beim 6. Autorenpreis), Jörg Robbert (Kassel, Buchhändler), Isa Rühling (Kassel, Autorin), Alexandra Serjogin (Kassel, Literaturwissenschaftlerin) – wählt zehn Texte aus, die am 29. November im Offenen Kanal von den AutorInnen gelesen werden. Am gleichen Abend entscheiden die Jury, die Mitglieder der Initiativgruppe sowie das Publikum über die drei PreisträgerInnen. Damit geht der Verein neue Wege gegenüber den vorherigen Preisverleihungen.
Aber erst mal geht es ums Schreiben! Legt los! Ich freue mich auf eure Einsendungen.
© uli ahrend, satzmanfaktur.net
20. Mai 2019
Spiele mit dem Konjunktiv (3)
... dass es wahr wäre ...
Anschließend an die Blog-Einträge vom 8. April und 13. Mai 2019 und möchte ich noch einmal zum Spielen mit dem Konjunktiv aufrufen und als Beispiel zum lustvollen Nachahmen einen (berühmten) Satz von Heinrich von Kleist (1777–1811) aus dem ersten Kapitel seiner Novelle Die Marquise von O... zitieren: „Der Graf setzte sich, indem er die Hand der Dame fahren ließ, nieder, und sagte, dass er, durch die Umstände gezwungen, sich sehr kurz fassen müsse; dass er, tödlich durch die Brust geschossen, nach P... gebracht worden wäre; dass er mehrere Monate daselbst an seinem Leben verzweifelt hätte; dass während dessen die Frau Marquise sein einziger Gedanke gewesen wäre; dass er die Lust und den Schmerz nicht beschreiben könnte, die sich in dieser Vorstellung umarmt hätten; dass er endlich, nach seiner Wiederherstellung, wieder zur Armee gegangen wäre; dass er daselbst die lebhafteste Unruhe empfunden hätte; dass er mehrere Male die Feder ergriffen, um in einem Briefe, an den Herrn Obristen und die Frau Marquise, seinem Herzen Luft zu machen; dass er plötzlich mit Depeschen nach Neapel geschickt worden wäre; dass er nicht wisse, ob er nicht von dort weiter nach Konstantinopel werde abgeordert werden; dass er vielleicht gar nach St. Petersburg werde gehen müssen; dass ihm inzwischen unmöglich wäre, länger zu leben, ohne über eine notwendige Forderung seiner Seele ins Reine zu sein; dass er dem Drang bei seiner Durchreise durch M..., einige Schritte zu diesem Zweck zu tun, nicht habe widerstehen können; kurz, dass er den Wunsch hege, mit der Hand der Frau Marquise beglückt zu werden, und dass er auf das ehrfurchtsvollste, inständigste und dringendste bitte, sich ihm hierüber gütig zu erklären.“
Der Konjunktiv ist eine wunderbare grammatische Form – mit ihm lassen sich Möglichkeit und/oder Unwahrscheinlichkeit ausdrücken. Aus der mündlichen Kommunikation ist er weitgehend verschwunden bzw. werden meistens die Konjunktivformen der Verben durch das Wörtchen würde (auch ein Konjunktiv, nämlich von werden) ersetzt, oder es wird einfach der Indikativ (vor allem in der indirekten Rede) benutzt. Nun, das ist ja nicht schlimm, es zeugt auch nicht von Ungebildetsein – es zeugt erst einmal nur von der Veränderung von alltagssprachlicher Kommunikation. Im Schriftsprachlichen allerdings hat der Konjunktiv durchaus seine Funktion (zu haben).
Ich vertrete die Ansicht, dass Schreibende die Reichtümer der Sprache und ihre konventionelle Verwendung kennen sollten, um die Chance zu haben, Nuancen auszudrücken. So kann beispielsweise eine Verwendung des Konjunktivs in der wörtlichen Rede einer Figur in einer Erzählung à la von Kleist sehr viel über den Charakter oder die Herkunft etc. dieser Figur zum Ausdruck bringen, ohne dass explizit gesagt werden muss, dass diese Figur z. B. ein Altphilologe ist.
Quelle und Literaturtipp:
Steinfeld, Thomas (2010): Der Sprachverführer. Die deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann. München: Carl Hanser Verlag
13. Mai 2019
Spiele mit dem Konjunktiv (2)
Hätte, könnte, wäre, dann ...
Mit dem Konjunktiv, dem Modus der Möglichkeit (oder Unwahrscheinlichkeit), zu spielen, kann sehr befriedigend sein. Ein Beispiel ist meine unten zu lesende Geschichte (oder sollte ich schreiben: Liste?).
Es gibt den Konjunktiv 1 und den Konjunktiv 2. In der Geschichte kommt der Konjunktiv 2 des Verbs können zum Einsatz: (Ich) könnte. Der Konjunktiv 1 des Verbs können hieße könne.
Ungeschriebene Geschichten (1)
Ich könnte eine Geschichte schreiben, die in einem Ballon spielt, der über eine Blumenwiese fliegt und dabei von einem Mädchen, das aus dem Zugfenster schaut, beobachtet wird, ohne dass das Mädchen weiß, welch dramatische Szene sich über der Blumenwiese in diesem Ballon ereignet.
Ich könnte eine Geschichte schreiben über einen Biber, der zur Dammeinweihung ein Dreizehenfaultier, eine Katze mit nur einem Auge und, weil sie nun einmal gerade da sind, 187 Kraniche einlädt.
Ich könnte eine Geschichte schreiben, in der Herr Trump und Herr Putin und Herr Erdogan in einem Flugzeug sitzen, das sich gerade auf das legendäre Bermudadreieck zubewegt.
Ich könnte eine Geschichte schreiben, die von einem Selbstgespräch auf einem Gang um den See und dessen Auswirkungen auf den globalen neoliberalen Kapitalismus erzählt.
Ich könnte eine Geschichte schreiben über eine U-30-Party an einem gelben Strand an einem blauen Meer, an dem zu Zeiten der Kommune 1 schon ganz andere Partys stattgefunden haben, von denen die alten Männer mit Bärten erzählen, während sie jungen Mädchen ihre Hände auf die Oberschenkel legen, wie damals.
Ich könnte eine Geschichte schreiben von Menschen in Schneegegenden, die auf alle mit Armbrüsten schießen, die sich zu ihnen durchgeschlagen haben, um Eishockeyspieler zu rekrutieren.
22. April 2019
Ostern schreiben
So oder anders
Am Gründonnerstag hatten wir Besuch von Roman. Als wir im Garten Springseilwettbewerbe austrugen, fragte er mich: „Glaubst du an Gott?“ Ich verneinte und er sagte: „Ich auch nicht, aber an Jesus, den gab’s ja echt, ne?! Und der ist ja wieder lebendig geworden. Und deshalb freu ich mich total auf Ostern, da geht’s nämlich um Auferstehung, und dann wird Adrian vielleicht wieder lebendig.“ Adrian war sein Bruder, der mit einer schweren Behindung auf die Welt kam. Nun, Adrian wird sicherlich nicht in dieser Weise wieder lebendig, wie Roman es sich wünscht ... Ich suchte nach Worten, nach tröstlichen und erklärenden. Zum Glück ging es Sekunden später um Radschlagen und ob ich das könne.
Ostern als Schreibanlass.
Variante 1: Was habe ich früher gefühlt, gedacht, von Ostern erwartet, an Ostern erlebt – und was heute?
Variante 2: Oder etwas weniger autobiografisch: Schreibimpuls könnte auch folgendes Foto sein, das mit vor neun Jahren mein Bruder schickte – keine Ahnung, wo er es her hatte ...
11. März 2019
Was so alles passieren kann
Interventionsschreiben 1
Von Donnerstag bis heute weilte ich auf der Jahrestagung des Segeberger Kreises. Drei Tage Schreiben und Austausch mit über 50 KollegInnen – ein jährlich wiederkehrendes Geschenk (das ich mir dieses Jahr zum 18. Mal gönnte). Wir trafen uns im Kloster Berg Schönstatt (Vallendar) in der Nähe von Koblenz. Meine Kleingruppe arbeitete unter dem Titel „Vom Kerben zum Tippen“ an der Frage, ob und inwiefern die Materialität die schreibende Person, den Textproduktionsprozess und das Produkt beeinflusst. Konkret: Was passiert, wenn ich mit der Hand, mit einem Pinsel, auf eine Luftschlange oder eine Serviette schreibe?
Unsere erste Übung möchte ich zur Nachahmung empfehlen. Sie ist vor allem gut mit einer Person oder einer Gruppe durchzuführen – denn der Effekt lebt auch von der Überraschung.
Schreib drei Mal direkt hintereinander eine kurze Zeit, z. B. drei Mal drei Minuten. Es soll (also in z. B. neun Minuten) ein einziger Text zu einem vorher gewählten Thema entstehen, z. B. über ein kleines Ereignis des Tages. Schreib mit der Hand, mit einem Stift, schreib los, schreib drei Minuten! STOPP, erst nach den drei Minuten weiterlesen!
Nach drei Minuten erfolgt die erste Intervention: Schreib deinen Text weiter, nun aber soll jeweils der letzte Buchstabe eines jeden Wortes groß geschrieben werden. Schreib los, schreib drei Minuten! STOPP, erst nach den drei Minuten weiterlesen!
Nun wechselst du die Schreibhand. Behalt die Regel mit den Großbuchstaben bei. Schreib los, schreib drei Minuten!
Nach diesen neun Minuten wirst du eine Schreiberfahrung gemacht haben – du kannst sie reflektierend festhalten, wenn das wichtig für dich erscheint.
18. Februar 2019
Friesisch für AnfängerInnen
Fantasien Richtung Norden
Wie letzte Woche geschrieben: Ich bin auf Sylt. Dort sprechen die Einheimischen Söl’ring, das ist der Sylter Dialekt des Nordfriesischen. Es gibt zehn Dialekte dieser kleinen Sprache, die nur noch ein paar tausend Menschen wirklich beherrschen und im Alltag verwenden – so geht es ja vielen kleinen Sprachen überall auf der Welt: Sie sterben langsam aus. Nun will und kann ich nicht dazu auffordern, Söl’ring zu lernen, aber ich kann empfehlen, einmal diese Wörter ins sich hineinsinken zu lassen und zu fantasieren, was sie wohl bedeuten mögen, oder sie einfach zu verwenden, in welcher Bedeutung auch immer. Es gibt also zwei Möglichkeiten:
- Schreib eine Lexikondefinition zu einem der folgenden Wörter: kiming, rüm, sjüün, heef, swark, tuanbeenk.
- Bau ein Wort oder mehrere Wörter in eine Geschichte ein, was auch immer du ihnen dann für eine Bedeutung zusprichst – der Klang wird dich leiten. Nächste Woche gibt es die Auflösung/Übersetzung.
4. Februar 2019
Die große Welle
In Vorfreude auf eine Schreibreise
Die große Welle – so heißt das berühmte Bild von Katsushika Hokusai. Meine Assoziationen will ich an dieser Stelle wohlweislich verschwiegen, denn ich möchte das Bild als Schreibimpuls vorschlagen, in Vorfreude auf meine Schreibreise nach Sylt, die ich am kommenden Sonntag antrete. Das 14. Mal reise ich zum Schreiben auf diese Insel, die so viel mehr ist als Millionenvillen und Sansibarhype. Im Listland schreiben – es bleibt ein Geschenk, das ich auch mir selber mache, jedes Jahr.
11. Februar 2019
AMVK-Vibrationen
Nach einem Ausstellungsbesuch
Noch bis zum 24. Februar zu sehen ist die Ausstellung AMVK (Anne-Mie Van Kerckhoven, belgische Künstlerin, geboren 1951) im Fridericianum Kassel. Ich bin einfach hingegangen, spontan am letzten Donnerstag. Wollte sehen, wollte wissen – warum gerade diese Ausstellung? Ich wusste es nicht, irgendetwas zog mich an, hin ... Jetzt weiß ich es. Es ist zweierlei: Zum Einen ist es der feministische Blick auf die Welt, der sich in so vielen Werken spiegelt. Zum Anderen ist es das Verständnis von Kunst-Machen, das meinem ähnelt: als Akt, zu demonstrieren und zu dekonstruieren, radikal aufzudecken und auf den Dialog zu hoffen, als Versuch, Perspektiven zu verstehen und Menschlichkeit zu gestalten, als Forschung auch. „Die Forschung ist kein exklusives Privileg derer, die wissen, sondern ist die Domäne derer, die nicht wissen“, so Robert Felliou (Dichter und Künstler, zit. nach der Begleitzeitung des Fridericianums).
Besonders fasziniert haben mich (was wahrscheinlich nicht verwunderlich ist) die Werke, in denen auch Wörter, in denen Sprache eine Rolle spielen. Wörter wie BASIC, DEEPER, ENDLESS EMOTIONS, INDEPENDENCE, SUPPORT, VIBRATIONS. Oder die Ausdrücke/Sätze „Variation als Prinzip”, „Die Wahrheit hat keinen Stil”. Zur Nachahmung angeregt haben mich Vam Kerckhovens Verwendungen von alten Teppich-, Stoff- und Tapetenkatalogseiten, die sie mit Akrylfarbe und Lackstiften (oder Lebensmittelfarbe?) bearbeitet hat.
Auch ansprechend fand ich die mathematisch inspirierten Experimente, ein Beispiel: Kunst verhält sich zur Politik wie die Zeit zur Philosophie.
Und dann ist da noch der Rausch der Variation, hunderte Zeichnungen, einige wenige Themen mit Variationen. Nicht das EINE große Werk, sondern das Kaleidoskop, das dann irgendwann das Werk ist, eigentlich aber Blicke zeigt, Augenblicke in Augenblicken des Gewahrwerdens, der Auffindungen, der Erkenntnis, aber auch des wieder und wieder das gleiche sagen, zeigen müssen, vertiefter, komplexer, immer wieder. Analog und digital, körperlich und abstrakt, mit Zeichnungen, Collagen, Installationen, Filmen, mit und ohne Wörter. Versuche, Wiederholungen, Umkreisungen, Grabungen. Lebenslang. Hier bin ich in innigster Verbindung mit AMVK.
21. Januar 2019
Anfänge – und am Ende ...
ist es vielleicht ein Gedicht
Folgende Zeilenanfänge mögen zum Ergänzen einladen. Vielleicht auch mehrmals hintereinander.
Ohne ...
Genug ...
Und ich bekam ...
Ich sah ...
Ich genoss ...
Ich las ...
Ich machte ...
Sie stammen aus einem tatsächlich existierenden Gedicht von Bertolt Brecht, es heißt „1954, erste Hälfte“. Erst selber schreiben, dann erst im Netz danach suchen ☺
7. Januar 2019
Verbindungswege zwischen Wörtern
Ein Schreibspiel aus dem Biedermeier
Wie es Allzeitlieblingsbücher gibt, gibt es auch Allzeitlieblingsschreibübungen. Eine davon ist die von Walter Benjamin soganannte Schnitzeljagd: „Brezel, Feder, Pause, Klage, Firlefanz: Dergleichen Wörter, ohne Bindung und Zusammenhang, sind Ausgangspunkte eines Spielsm das im Biedermeier hoch im Ansehen stand. Aufgabe eines jeden war, sie derart in einen bündigen zusammenhang zu bringen, daß ihre Reihenfolge nicht verändert wurde. Je kürzer dieser war, je weniger vermittelnde Elemente er enthielt, desto beachtenswerter war die Lösung. Zumal bei Kindern fördert dieses Spiele die schönsten Funde. Ihnen nämlich sind Wörter noch wie Höhlen, zwischen denen sie seltsame Verbindungswege kennen. [...]“ (zit. nach Andreas Thalmayr: Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, S. 72).
Nun schreib einen Text. Nimm die fünf Wörter – Brezel, Feder, Pause, Klage, Firlefanz – und verwende sie in genau dieser Reihenfolge (oder in einer anderen, ich will ja nicht kleinlich sein, und um die strenge Einhaltung irgendeiner Regel geht es ja auch nicht). Es ist wirklich erstaunlich, welche unterirdischen Gänge zwischen den Wörterhöhlen oder Höhlenwörtern sich zeigen.
Was für ein schönes Bild Benjamin da gefunden hat. Und dieses Buch von Thalmayr, aus dem ich zitiert habe – ohne Zweifel gehört es zu meinen Allzeitlieblingsbüchern! Leider ist es nur noch antiquarisch zu bekommen.
Und wenn es Spaß gemacht hat und Erstaunliches zutage getreten ist, dann lass dir fünf Wörter von jemandem in deiner Nähe schenken oder fisch nach dem Zufallsprinzip (mit dem Finger hineinstechend) fünf Wörter aus dem Duden.
Und: Frohes, inspirierendes neues Schreibjahr wünsche ich allen Schreibenden (und allen Anderen auch, aber die lesen das hier ja wahrscheinlich gar nicht)!
10. Dezember 2018
Weihnachtsstressvermeidung
Ein Vierzeiler zu Weihnachten
Um mich herum stöhnen Menschen wegen Weihnachtsstress, machen lange Listen und stöhnen noch mehr, wissen nicht, was sie schenken sollen, schimpfen auf die Post, sagen Schreibwerkstätten ab ... Geld kann man spenden, die Post kann man entlasten – und sich selbst auch. Mein Tipp:
An Herzensmenschen zu denken und ihnen etwas, weil es eben so Tradition ist und fast niemand so tun kann, als wären die Tage vom 24. bis 26. Dezember ganz normale wie z. B. die vom 24. bis 26. Februar, auch wenn Gott und Jesus und der Weihnachtsmann sowieso keine Rolle (mehr) spielen, also an Herzensmenschen zu denken und sie zu beschenken, ist vielen ein Bedürfnis. Hierzu ein Tipp: Warum nicht zuhause bleiben, Weihnachtsmärkte und Kaufhäuser (und Online-Läden sowieso) meiden und dichten? F., ein Schreibfreund, wünschte sich kürzlich zu seinem 80. Geburtstag von jedem Gast einen Vierzeiler. Warum also nicht jedem Herzensmenschen einen Vierzeiler dichten, mit aller vorhandener Gestaltungsfähigkeit auf ein schönes Papier bringen – fertig ist das Geschenk, gemacht mit Hirn und Herz und Hand.
3. Dezember 2018
Selbstmotivation
Brief an ein gelungenes Schreibprodukt
Weil sie wieder einmal so gut war, weil sie zu so erstaunlichen Erkenntnissen führt, weil sie so eine einfache Methode ist: Vorletzten Samstag schloss mein Workshop an der Uni Kassel (Schreiben lernt man durch Schreiben, am Institut für Romanistik) mit einer Übung, die eine der teilnehmenden Studentinnen anleitete und die alle Teilnehmerinnen und mich beflügelte, obwohl wir schon sechs Stunden Workshop hinter uns hatten. Hier nun möchte ich zu dieser Übung einladen:
Schreib einen Dankesbrief an ein abgeschlossenes (und vielleicht auch gelungenes) Schreibprodukt, an deine Diplomarbeit, dein Essay von vor vier Jahren, deine letzte Kurzgeschichte. Lass den Prozess hin zum Produkt Revue passierten, erinnere dich an Höhen und Tiefen beim Schreiben. Bedanke dich für Erkenntnisse und andere Geschenke. Beginne mit: „Liebe Diplomarbeit ...“
So ähnlich zu finden ist die Übung in:
Wolfsberger, Judith (2009): Frei geschrieben. Mut, Freiheit & Strategie für wissenschaftliche Abschlussarbeiten. 2. Auflage. Wien/Köln/Weimar: Böhlau/UTB
Ursprünglich stammt die Idee aber von der Schreibforscherin und -didaktikerin Gabriela Ruhmann, Gründerin des Schreibzentrums an der Ruhr-Universität Bochum.
12. November 2018
Ein nie gemachtes Foto
Erinnerungen im Totenmonat
Der November ist mit Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag und Volkstrauertag der Totenmonat schlechthin. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie die Menschen auf der Südhalbkugel, die ja auch diese christlichen Gedanktage begehen, das Erinnern, das Totengedenken mit dem Frühling in Einklang bringen, der dieser Tage bei ihnen einzieht – der Herbst, grau, regnerisch, usselig (wie wir früher zu sagen pflegten), passt doch besser ... Aber vielleicht ist es auch genau andersherum: Im Sonnenschein die Frühlingsblüher auf das Grab zu pflanzen, das neue Leben sprießen zu sehen, vielleicht entsteht so im Innern ein guter Gegenpol zur Trauer oder die Erinnerungen werden hell eingefärbt ...
Jedenfalls ist der November gut als Erinnerungs- und Schreibmonat geeignet. Also eine Erinnerungsschreibanregung für heute:
Nimm ein Fotoalbum aus dem Regal. Blätter darin herum. Und lass dich einfangen von einer Zeit in deinem Leben (vielleicht mit einem deiner Toten, der damals noch lebendig war). Stell dir eine Situation mit den Menschen aus dieser Zeit vor – und lass vor deinem inneren Auge ein Foto entstehen, das nie gemacht wurde. Beschreib dieses Bild. Du kannst es aus der Perspektive der Person hinter der Kamera oder aus der einer der Personen auf dem Foto beschreiben.
8. Oktober 2018
Wütend, traurig oder was?
Gefühle zum Ausdruck bringen
(Eine Art Reportage mit persönlichem Fokus)
Gefühle in Texten zum Ausdruck zu bringen, ohne sie explizit zu nennen, ist gar nicht so einfach. In der Schreibszene wird immer mal der Ratschlag „Show, don’t tell“ gegeben, der meint: Zeige etwas so, dass in der Leserin, im Leser ein Gefühl entsteht. Du schreibst also eher nicht: „Klara ist nervös“, sondern „Klara kaute wie früher vor den Klassenarbeiten an ihren Nägeln“.
Dieser Ratschlag ist eigentlich nicht schlecht – wobei es natürlich immer auf den Stil und den Ton des Gesamttextes ankommt, ob man so verfährt oder nicht. Gefühle explizit zu nennen, macht also einen Text nicht automatisch schlecht; gut ist es allerdings immer, so genau wie möglich zu sein, also z. B. nicht einfach „nervös“ zu schreiben, sondern die Art des Nervösseins genau zu fassen.
Text 1: Schließ die Augen, lass Bilder der vergangenen Tage aufsteigen. Und dann mach die Augen wieder auf und schreib einen Text, in dem du vor allem auch die Gefühle zu den Bildern (oder zu einem Bild) versuchst sprachlich zu fassen. Manchmal ist das eben (wie gesagt) gar nicht so einfach ...
Text 2: Nimm eins der eher belastenden Bilder aus dem ersten Text. Nun schreibst du einen Text mit mehreren Abschnitten (oder Strophen), die folgendermaßen überschrieben sind:
Ich bin wütend
Ich bin traurig
Ich bin sauer
Ich bin frustriert
Ich bin enttäuscht
Ich bin verärgert
Ich bin hilflos
Ich wünsche mir
Hier werden dann die Gefühle als Abschnitts- oder Strophenanfang natürlich explizit genannt – vielleicht findest du durch diese Methode aber auch zu einem sprachlichem Ausdruck, der diese Gefühle dann z. B. bildhaft illustriert.
P. S. Die Abschnittsüberschriften stammen aus: Sibel Kekilli: Was der Fall Özil mit mir macht. Das Schubladendenken muss aufhören. Über meine Erfahrungen mit Rassismus, bei Deutschen und Türken. In: DIE ZEIT, 2. 8. 2018, S. 35
27. August 2018
Zwischen Ton und Not
Palindrom-Geschichte
Palindrome sind Wörter, Sätze oder Verse, die von vorne und von hinten zu lesen sind. Eine andere Bezeichnung ist auch Krebsgedicht. Es gibt echte Palindrome wie z. B. RENTNER oder ANNA oder OTTO – auch von rechts nach links gelesen, liest man bei diesen RENTNER oder ANNA oder OTTO. Berühmt sind auch LAGERREGAL, RELIEFPFEILER oder DIENSTMANNAMTSEID. Und es gibt unechte Palindrome wie z. B. SARG/GRAS.
Der französische Experimentalschriftsteller (und Mitglied der Gruppe OuLiPo) George Perec hat einen ganzen Roman (mit 9691 Wörtern) als Palindrom-Text geschrieben. Das kann man machen, wenn man gerade Lust auf ,Basteln’ hat und sich selbst überraschen will – weil dieses Basteln ganz neue Inhalte zutage fördert, palindromatisch erzwungene sozusagen.
Allerdings kann man auch eine Geschichte schreiben zwischen zwei Palindromwörter, also z. B. zwischen SARG und GRAS, wobei dann SARG das allererste Wort des Textes und GRAS das allerletzte wäre (oder umgekehrt). Die Geschichte dazwischen würde sich dann (ganz ohne weiterhin an das Palindrom-Verfahren zu denken oder es zu verfolgen) von dem einen Inhalt/Begriff zum anderen entwickeln, vielleicht gar genau in der Mitte inhaltlich kippen.
Weitere Möglichkeiten: NOT/TON, RETTEN/NETTER, LEBEN/NEBEL.
Und auch ein Gedicht zu verfassen zwischen Palindrom-Wörter ist natürlich eine Möglichkeit.
Buchtipp: Kuhne, Bernd / Boehncke, Heiner (1993): Anstiftung zur Poesie. Theorie und Praxis von Oulipo. Bremen: manholt verlag
23. Juli 2018
Eine Frage
Eine Antwort
Das vorletzte Wochenende verbrachte ich mit dem 12. Jahrgang Biografisches und Kreatives Schreiben zur Präsenzlehre an der Alice Salomon Hochschule. Dort konnte ich an der Präsentation einer Vielzahl spannender Schreib(gruppen)konzepte partizipieren, die alle in die Welt wollen und sollten. Was für ein Potenzial!
Eine der Studierenden (Helen P.) stellte ihr Projekt vor, und am Ende bat sie uns, ihre kollegialen BeraterInnen, vor dem Einstieg in die Debatte eine Frage zu beantworten, eine von Pablo Neruda aus seinem Buch der Fragen (siehe auch meine Blog-Einträge vom 14. und 18. Juli 2014 und vom 7. Dezember 2015).
Die Frage: „Wie schmeckt das Gerücht des Himmels, wenn das Blau des Wasser singt?“
Deine Antwort: ....................................
Mit diesem kurzen, dem leicht träge machenden Dauersommer angemessenen Impuls verabschiede ich mich bis zum 20. August und wünsche noch einen wunderbaren zweiten Sommerteil mit Regen und Abkühlung bei Nacht!
9. Juli 2018
Stilkopie 2
Einen Schreib-Stil nachahmen
Und immer noch ist eine meiner Lieblingsschreibaufgaben die, einen ,fremden’ Stil nachzuahmen. Es macht einfach erst mal Spaß und ist außerdem sehr erhellend: Ich erfahre im Mich-,Unterwerfen’, wie ein Stil meinen Inhalt, meine Aussageintention beeinflusst. Und ich erfahre über das Abgebremstwerden – ich kann eben nicht einfach so schreiben, wie ich schreibe, wenn ich einfach einen Impuls bekomme –, was ich sonst tue, was es mit meiner Schreibstimme auf sich hat.
Am 5. 3. 2018 hatte ich empfohlen, Sudabeh Mohafez zu kopieren, am 19. 3. 2018, Fingerübungen à la Friederike Mayröcker zu unternehmen. Heute möchte ich empfehlen, Ror Wolf zu imitieren bzw. den folgenden Text ohne Titel:
Eines Tages fiel ein Mann vom Stuhl. Er saß, wie berichtet wurde, auf die gewöhnlichste Weise auf einem Stuhl und fiel plötzlich herunter. Als er am Boden lag, sah er plötzlich auch einen anderen Mann, den er zuvor gar nicht beachtet hatte, vom Stuhl fallen und kurz darauf einen bisher noch nicht in Erscheinung getretenen dritten Mann. Als alle am Boden lagen, begann die Sache erst richtig: plötzlich fiel auch ein vierter Mann vom Stuhl. Aber das war noch nichts im Vergleich zu dem, was später passierte.
Quelle: Ror Wolf (2010): (Eines Tages fiel ein Mann vom Stuhl). In: Reclam Kürzestgeschichten.
18. Juni 2018
Irgendwas ist immer
Wörterspenden – jede Woche drei neue
Ein anregender Blog einer Kollegin (also auch einer Bloggerin in Sachen Kreatives Schreiben). Ich kenne sie nicht persönlich, aber ihre Idee finde ich klasse.
Jede Woche postet Christiane S. aus Hamburg auf ihrem Blog Irgendwas ist immer unter dem Titel abc.etüden drei Wörter, die ihr von anderen Menschen zur Verfügung gestellt werden. Mit diesen Wörtern kann man machen, was man will. Sätze halt. Oder einen am Tag. Oder mehrere. Oder einen ganzen Text. Oder nur drei Wörter in einem Bild ... Die verlinkt werden können/sollen. Natürlich mit Irgendwas ist immer, hier zu finden:
Die Wörter, die Frau Myriade für die Woche 25/18 gespendet hat, lauten:
Ödipuskomplex
giftgrün
voltigieren
Also, schreiben. Was auch sonst?!
4. Juni 2018
Stilkopie 2
Einen Stil nachahmen
Bereits am 5. 3. habe ich empfohlen, sich einmal auf einen ,fremden’ Stil einzulassen, schreibend darin zu spüren, zu erforschen, wie die eigenen Inhalte sich formen, wenn der üblicherweise ,automatisch’ gewählte Stil oder Ausdruck einmal bewusst vermieden wird.
Heute also Lydia Davis. Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Englischen, der Stil ist allerdings so eindeutig, dass ich dieses Stückchen Literatur gewählt habe.
Lydia Davis: Der Ausflug (aus: Reise über die stille Seite. Storys, 2016)
Ein Zornesausbruch neben der Straße, eine Weigerung, auf dem Fußpfad zu sprechen, ein Schweigen im Kiefernwald, ein Schweigen beim Überqueren der alten Eisenbahnbrücke, ein Versuch, im Wasser freundlich zu sein, eine Weigerung, den Streit auf den flachen Steinen zu beenden, ein wütender Aufschrei auf dem steilen lehmigen Ufer, ein Weinen unter den Büschen.
28. Mai 2018
Schreiben im Mai
mit Else Lasker-Schüler
Ach, Else, ein Seufzen, immer ein Seufzen in mir, wenn ich Gedichte von Else Lasker-Schüler lese. Genährt, das Seufzen, von ihrem Ton, diesen Wort-Bildern, den großartigen, ihrer Melancholie, die meine Erinnerungen wach rufen, Erinnerungen an Wuppertal, an die Suche nach der Liebe, nach dem, was lange geträumt. Und jetzt, in diesem Hochsommer-Mai ... Vielleicht darf ich noch im Maienregen gnädig werden gegenüber meinem Sehnen, den unerfüllten Träumen – oder ich schreibe einfach. Als Schreibimpuls also heute ein Maienregen in Wörtern von ihr: Else Lasker-Schüler (1869–1945).
Maienregen
Du hast deine warme Seele
Um mein verwittertes Herz geschlungen,
Und all seine dunklen Töne
Sind wie ferner Donner verklungen.
Aber es kann nicht mehr jauchzen
Mit seiner wilden Wunde,
Und wunschlos in deinem Arme
Liegt mein Mund auf deinem Munde.
Und ich höre dich leise weinen,
Und es ist – die Nacht bewegt sich kaum –
Als fiele ein Maienregen
Auf meinen greisen Traum.
30. April 2018
Walpurgis
Dichten nach Luisa Francia
Vielleicht gefällt es ihr, wenn ich sie eine Hexe nenne, eine Zaunreiterin. Gern würde ich ihr einmal begegnen: Luisa Francia.
Wenn Walpurgis ist (so wie heute), denke ich an Frauen, die Geburtstag haben: Jutta, Alina, Malika. An die kleine Hexe (des Otfried Preußler), die nicht eingeladen wurde zum Walpurgisfest auf dem Blocksberg. An den Kölner Frauenbuchladen Hagazussa, einer meiner liebsten Orte in meiner frühen Erwachsenenzeit (wie scheu ich ihn betrat, wie viel Geld ich dort ließ für Bücher von Simone de Beauvoir, Marilyn French, Cora Stephan, Marge Piercy, Luise Pusch ...). Komischerweise denke ich nur selten an diesem Tag an die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit (und der Postmoderne, dazu aber an anderer Stelle), sehr wohl aber manchmal an den Goetheschen Zauberlehrling und immer an Luisa Francia. Deshalb also heute eine kleine Schreibanregung zu ihren Ehren.
Lass dich inspirieren von ihrem magischen Gedichtchen – zu eigenen, die Energien beschwörenden Reimen oder zu einem Text über einen Keim in dir, einen hexischen womöglich.
Ein Reim
(von Luisa Francia)
Ein Reim
ist ein Keim,
holt hervor,
wird zum Tor,
öffnet Wege,
geschickt und rege,
ruft herbei,
wie es sei,
schafft Raum
für den Traum.
16. April 2018
Schreib was mit A
Oulipotische Aufforderung von Ulrike Arabella
Alle Studierenden in ,meinem’ Masterstudiengang an der Alice Salomon Hochschule müssen in einem Modul in ihrem 1. Semester einen Blog kreieren und regelmäßig etwas posten. Da zeigt sich ein Potenzial, das mich juchzen lässt! Nun hat eine der Studierenden aus dem 11. Jahrgang einen Aufruf gestartet, den ich gern unterstütze:
„Willkommen zur Blogparade mit dem Thema: April, April, der weiß nicht, was er will! Alle Schreiblustigen aus unserem Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Scheiben an der ASH Berlin [...] sind herzlich eingeladen, ebenso wie alle anderen schreibfreudigen Bloggerinnen und Blogger.
Ihr dürft das Thema frei interpretieren – als Gedicht, Kurzgeschichte, Collage u.a. Aber es gibt eine kreative Herausforderung (contrainte): Es sollen nur Wörter verwendet werden, die ein „a“ enthalten („ä“ gilt auch).
Die „contrainte“ ist eine kreative Methode aus der „Werkstatt für Potentielle Literatur“ OuLiPo (L‘Ouvroir de Littérature Potentielle). Durch die selbstauferlegten formalen oder inhaltlichen Textbildungsregelungen sollen die verborgenen Potentiale der Sprache entdeckt werden.
Die Blogparade startet ab sofort und endet am 30. April 2018. Schreibt einfach den Link zu eurem April-Blogbeitrag unten in den Kommentar. Los geht’s und viel Spaß!“
Hier geht es zum Blog.
2. April 2018
Rausgehen ...
... auf die Ohrenweide
Nimm Stift und Block und geh. Raus aus dem Haus. In den Garten, in den Wald, an den See. Am Sonntagmorgen saß eine Schar winziger Vögel in unserer Birke – sie waren so hoch über mir, ich konnte nicht erkennen, ob es Meisen oder Spatzen waren oder ... Ich konnte auch nicht beschreiben, fand keine Worte für das Gepiepse, das vielstimmige Gepiepse, was aus der Birke zu mir herunterquoll und mich einhüllte. Es hörte sich irgendwie nach, ja, nun, was denn ... Frühling (?) an.
Wir sind stark auf den Augensinn fokussiert, Farben und Formen zu benennen, genau zu beschreiben, fällt uns wenn nicht leicht, so doch deutlich weniger schwer, als Töne und Geräusche zu beschreiben. Zurzeit lässt sich das üben, da nach der Winterstille alle Töne und Geräusche so neu, so unerhört (!) wirken. Geh auf die Ohrenweide mit Stift und Block.
Und dann schreib vielleicht ein Gedicht. Ich sage jetzt mal: ein Konstellionsgedicht. Das geht so: Du suchst dir drei Wörter aus deinen Ohrenweidennotizen, ordnest sie nach dem nun folgenden Schema in sieben Zeilen an und findest eine die Konstellation bindende achte Zeile (das „und“ ist als reales Wort jeweils an den markierten Stellen einzufügen):
Schema für ein
Konstellationsgedicht (nach Eugen Gomringer)
Wort A
Wort A „und“ Wort B
Wort B
Wort B „und“ Wort C
Wort A
Wort A „und“ Wort C
Wort A „und“ Wort B „und“ Wort C „und“
frei zu gestaltende Zeile
26. Februar 2018
Freewriting mit Essenz 2
Schreib-Seriensprint
Anknüpfend an das Verfahren der Schreibstaffel, die ich im Blog-Eintrag vom 15. 1. 2018 beschrieben und zum Ausprobieren empfohlen habe, stelle ich heute das Verfahren Seriensprint vor, das ich ebenfalls bei Ulrike Scheuermann gefunden habe. Es dient ebenso dem Zweck, sich selbst oder einem zu bearbeitenden Thema auf die Spur zu kommen, und basiert auf der Methode Freewriting.
Das Verfahren: Nimm dir eine Stunde Zeit. Mach ein zehnminütiges Freewriting zu deinem Thema, deiner Frage. Lies dir das Geschriebene durch und finde eine Essenz. Eine Essenz kann a) der wichtigste Satz des Geschriebenen, b) eine Zusammenfassung, c) die Kurzfassung eines Aspekts oder d) etwas noch Anderes sein. Einfach das Wichtigste für dich in einem Satz aufschreiben, unter das im Freewriting Geschriebene, vielleicht in einer anderen Farbe. Dann nimm diesen Satz als Impuls für ein neues Freewriting von zehn Minuten. Dann nimm abermals dieselbe Essenz für das nächste Freewriting von zehn Minuten. Mach das dann noch (mindestens) zweimal.
Vorletzte Woche habe ich das Verfahren Schreibstaffel zum ersten Mal in einer meiner Schreibgruppen ausprobiert. Das Gruppengespräch im Nachgang war überaus interessant. Folgende Erfahrungen und Wirkungen wurden beschrieben. Das erste Drittel der Gruppe beschrieb: Das Verfahren führe in eine Verlangsamung und nach und nach mit jedem neuerlichen Ansetzen weg vom Flow (des Freewritings) hin zu mehr Denken und Überprüfen des vorher Geschriebenen. Das zweite Drittel beschrieb: Das Verfahren führe zum Überwinden des Zensors, es wirke wie ein Werkzeug, um sich anders zu begegnen, und erlaube, immer mehr in die Tiefe zu gehen, sodass es sich irgendwann anfühle, als ob etwas und nicht mehr man selbst schreibe. Das dritte Drittel beschrieb: Das Verfahren erzeuge Varianten und entlaste dadurch PerfektionistInnen-Hirne und -Herzen. Die Quintessenz: mehr davon!
Quelle: Scheuermann, Ulrike (2016): Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkszeug nutzen und vermitteln, 3. Auflage. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich
15. Januar 2018
Freewriting mit Essenz
Schreib-Staffellauf
Erst neulich habe ich gelesen, dass ein Verfahren, was ich schon kannte bzw. vor zwei Jahren während eines Aufenthaltes im Kloster Germerode erfunden habe, bereits in der Literatur bekannt ist unter der Bezeichnung Schreibstaffel. Es dient dem Zweck, sich selbst oder einem zu bearbeitenden Thema auf die Spur zu kommen, und basiert auf der Methode Freewriting.
Das Verfahren: Nimm dir eine Stunde Zeit. Mach ein zehnminütiges Freewriting zu deinem Thema, deiner Frage. Lies dir das Geschriebene durch und finde eine Essenz. Eine Essenz kann a) der wichtigste Satz des Geschriebenen, b) eine Zusammenfassung, c) die Kurzfassung eines Aspekts oder d) etwas noch Anderes sein. Einfach das Wichtigste für dich in einem Satz aufschreiben, unter das im Freewriting Geschriebene, vielleicht in einer anderen Farbe. Dann nimm diesen Satz als Impuls für ein neues Freewriting von zehn Minuten, finde wieder eine Essenz, die für das nächste Freewriting als Impuls dient. Mach das dann noch (mindestens) zweimal.
Quelle: Scheuermann, Ulrike (2016): Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkszeug nutzen und vermitteln, 3. Auflage. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich
8. Januar 2018
Das Eismeer
Ostsee, Nordsee, Florida?
Nein, es geht nicht um den Klimawandel (oder doch?). Ja, es geht um das Klima. Es ist Winter. Und dort, wo mein Bruder wohnt (auf Long Island, New York), ist der Atlantik voller Eis. Als ich die Bilder von vor seiner Haustür sah, dachte ich an das Bild von Caspar David Friedrich (1774–1840): Das Eismeer. Das nun hier als Schreibimpuls dienen soll. Jede Art zu schreiben, jede Textsorte ist erlaubt, das Bild möge einfach als Impuls dienen ...
1. Januar 2018
17 Wörter für den Neubeginn
und die Reise durch das Jahr 2018
Es gibt eine Geschichte von Max Huwyler (Meine siebzehn Wörter), in der ein Prinz von seinem Vater in ein unbekanntes Land hinter den Bergen geschickt wird, in dem eine fremde Sprache gesprochen wird. Sein Lehrer gibt ihm den Auftrag, 17 Wörter auszuwählen, die der Prinz meint, zum Überleben gebrauchen zu können, die der Lehrer ihm dann übersetzt. Ist nicht ein neues Jahr wie ein unbekanntes Land hinter hohen Bergen mit einer fremden Sprache, die es noch zu lernen gilt?
Wähle 17 Wörter, die du meinst, für die Reise in und durch das Jahr 2018 zu brauchen.
Schreib einen Text, in dem diese 17 Wörter vorkommen. Insgesamt darf der Text nicht mehr als 52 Wörter haben.
11. Dezember 2017
Formkopie 2
Noch ein Gedicht nachahmen
Wie letzte Woche möchte ich empfehlen, eine Form für Eigenes zu nutzen. Das Gedicht von Ingeborg Bachmann ist nach einem spannenden Schema gebaut, das erlaubt, mit eigenen Inhalten in Resonanz zu gehen und diese also tiefer auszulosten. Zum Vorgehen: Finde drei Zeilen (eventuell auch aus einem eigenen wichtigen Text) und setze sie (gereimt oder nicht) als die ersten drei Zeilen des Gedichtes ein. Und dann verfahre wie das Schema es zeigt, d. h. du wiederholst die Zeile 1 als 4. in der ersten Strophe. In der zweiten Strophe bildet die Zeile 2 die Klammer (1. und 4. Zeile), dazwischen hast du zwei Zeilen Raum, um in Resonanz, in einen Dialog vielleicht, mit dieser Zeile zu gehen; bei der dritten Strophe verfährst du mit der Zeile 3 genauso.
Ingeborg Bachmann
Die große Fracht
Zeile 1 Resonanzzeile Zeile 2
Zeile 3 |
Die große Fracht des Sommers ist verladen,
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit, |
4. Dezember 2017
Formkopie
Ein Gedicht nachahmen
Einem Thema eine Form geben – das tut man immer beim Schreiben, ob bewusst oder unbewusst. Einem Thema eine bestimmte Form geben, es also z. B. in einer Kurzgeschichte, einer Einakter oder einem Gedicht zu verarbeiten, das tut man als bewusste Handlung. Hinzuspüren, was mit dem eigenen Inhalt passiert, wenn man ihm eine bestimmte Sprache und eine bestimmte Form gibt, die jemand anders seinem Inhalt gegeben hat – das ist spannend.
Ich schlage vor, das Gedicht von Günter Kunert nachzuahmen, also die Sprachmuster und das Formmuster zu kopieren bzw. auf einen eigenen Inhalt, ein eigenes Thema zu übertragen.
Günter Kunert
Auf der Schwelle des Hauses
In den Dünen sitzen. Nichts sehen
Als Sonne. Nichts fühlen als
Wärme. Nichts hören
Als Brandung. Zwischen zwei
Herzschlägen glauben: Nun
Ist Frieden.
Quelle: Waldmann, Günter (2003): Neue Einführung in die Literaturwissenschaft. Baltmannsweiler: Schneider
31. Oktober 2017
Erhaltung des Menschengeschlechts
Fragebogen – von Max Frisch, 1966
Max Frisch hat in seinen Tagebüchern immer wieder Fragebögen entworfen, oft auch zu speziellen Themen wie z. B. Ehe (Tagebuch 1966–1971, S. 51 ff.), Frauen und Männer (ebd. S. 137 ff.), Hoffnungen (ebd. S. 170 ff.) oder Geld (ebd. S. 238 ff.). Beantwortet hat er die Fragen nicht unbedingt bzw. meistens tatsächlich gar nicht. Aber sie reizen dazu, sich ihnen zu stellen. Hier also die 25 Fragen des Fragebogens, in denen Frisch sich mit Fragen, das Menschengeschlecht betreffend, befasst.
Erhaltung des Menschengeschlechts
- Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?
- Warum? Stichworte genügen.
- Wie viele Kinder von Ihnen sind nicht zur Welt gekommen durch Ihren Willen?
- Wem wären Sie lieber nie begegnet?
- Wissen Sie sich einer Person gegenüber, die nicht davon zu wissen braucht, Ihrerseits im Unrecht und hassen Sie eher sich selbst oder die Person dafür?
- Möchten Sie das absolute Gedächtnis?
- Wie heißt der Politiker, dessen Tod durch Krankheit, Verkehrsunfall usw. Sie mit Hoffnung erfüllen könnte? Oder halten Sie keinen für unersetzbar?
- Wen, der tot ist, möchten Sie wiedersehen?
- Wen hingegen nicht?
- Hätten Sie lieber einer anderen Nation (Kultur) angehört und welcher?
- Wie alt möchten Sie werden?
- Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint, würden Sie es befehlen, gegen den Widerspruch der Mehrheit? Ja oder Nein.
- Warum nicht, wenn es Ihnen richtig scheint?
- Hassen Sie leichter ein Kollektiv oder eine bestimmte Person und hassen Sie lieber allein oder im Kollektiv?
- Wann haben Sie aufgehört zu meinen, dass Sie klüger werden oder meinen Sie's noch? Angabe des Alters.
- Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?
- Was, meinen Sie, nimmt man Ihnen übel und was nehmen Sie selbst übel, und wenn es nicht dieselbe Sache ist: Wofür bitten Sie eher um Verzeihung?
- Wenn Sie sich beiläufig vorstellen, Sie wären nicht geboren worden: Beunruhigt Sie diese Vorstellung?
- Wenn Sie an Verstorbene denken: Wünschten Sie, dass der Verstorbene zu Ihnen spricht, oder möchten Sie lieber dem Verstorbenen noch etwas sagen?
- Lieben Sie jemand?
- Und woraus schließen Sie das?
- Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht, wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist?
- Was fehlt Ihnen zum Glück?
- Wofür sind Sie dankbar?
- Möchten Sie lieber gestorben sein oder noch eine Zeit leben als gesundes Tier? Und als welches?“
Quelle: Max Frisch: Tagebuch 1966–1971, Frankfurt/Main 1972, S. 7 ff. (siehe auch Blog-Eintrag zu Fragebögen vom 3. 4. 2017).
16. Oktober 2017
for action, in action, on action
Schreiben als Reflexive Praxis 3
Schreiben kann ich auch nutzen, um meine Handlungen zu reflektieren. Schreiben als Reflexive Praxis (oder besser ausgedrückt: als reflektierende Praxis) hat eine lange Tradition, vor allem im pädagogischen oder sozialarbeiterischen Berufsfeld, in dem es notwendiger ist als in manch anderem Berufsfeld, sich und die eigenen Handlungen selbstkritisch zu betrachten. Für alle, die pädagogisch oder sozialarbeiterisch tätig sind (und natürlich auch für alle ansonsten an kritischer Selbstreflexion Interessierte) stelle ich hier das Konzept des US-amerikanischen Philosoph und Professor der Stadtplanung am Massachusetts Institute of Technology Donald Schön. In seiner Handlungstheorie wendet sich Schön (1930–1997), auf den der Begriff reflective practice zurückgeht, mit dem Positivismusvorwurf gegen die Dominanz technischer Rationalität (John Deweys ,Schüler’). Er unterscheidet in seinem 1983 erschienenen Werk The Reflective Practitioner: How professionals think in action, in dem er auf das Problemlöseverhalten hochqualifizierter Berufsgruppen fokussiert, drei Handlungsmodi bzw. Phasen Reflexiver Praxis (vgl. Roters 118f.):
- reflexion-for-action: Das ist die Reflexion im Davor, in der Planungsphase.
- reflexion-in-action: Das ist das spontane oder bewusste Einnehmen einer ,Vogelperspektive’ in der konkreten Praxis, um möglicherweise diese sofort zu modifizieren.
- reflexion-on-action: Das ist ein Innehalten im Danach; hier werden drei fragen gestellt: Was hat funktioniert? Was nicht und warum nicht? Welche Konsequenzen können für das nächste Mal gezogen werden? Mit diesen Fragen geht man dann zurück zu Phase 1.
Dieses auf den Gesamtprozess bewusster (pädagogischer) Handlung ausgerichtete Konzept Reflexiver Praxis geht u. a. davon aus, dass die handelnde Person bereit ist, Unsicherheiten in der Praxis auszuhalten, erst einmal bei Irritationen zu einem Problemverständnis (framing) zu kommen, ohne sofort nach den einfachen oder nahe liegenden Lösungen zu greifen. Gerade die Reflexionsfähigkeit im Raum des routinelosen unbekannten Settings macht nach Schön Professionalität aus.
Im Prozess des problem (re)framing wird das implizite Wissen reflektiert, damit ist gemeint, einen kritischen Dialog mit eigenen Vorannahmen, mit der eigenen Praxis und deren theoretischen Begründungen zu führen. Er schlägt für die von ihm besonders fokussierten reflektierenden Praktiker einen Dreischritt vor:
- Beobachtung unserer Erfahrung,
- Verbindung dieser mit unseren Gefühlen,
- In-Bezug-Setzen zu unseren Theorien (vgl. Studer/Jannuzzo 2015: 125).
Ziel der Reflexiven Praxis ist für Schön: „Learning how one reflects-in-action and reflects-on-action by the framing and reframing indeterminate situations“ (MacKinnon/Erickson 1988, zit. nach Roters 2012: 121). Nicht die eine Lösung zu finden, ist das Ziel, sondern das Problem aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können.
Vielleicht ist es ja ein lohnendes Experiment, dich auf diesen schreibenden Reflexionsprozess einzulassen.
Literatur
Honegger, Monique / Ammann, Daniel / Hermann, Thomas (2015): Schreiben und Reflektieren. Denkspuren zwischen Lernweg und Leerlauf. Bern: hep verlag
Roters, Bianca (2012): Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung. Eine empirische Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität. Münster u. a.: Waxmann
Studer, Patrick / Jannuzzo, Diego (2015): Reflexive Praktiken in technischen Studiengängen. Das Lernjournal. In: Honegger/Ammann/Hermann: 124–136
9. Oktober 2017
95 Anschläge
oder Bekenntnisse oder Positionen ...
Inspiriert von dem Essay-Sammelband 95 Anschläge. Thesen für die Zukunft möchte ich anregen (als Ergänzung zum Blog-Eintrag vom 25. 9. 2017), eigene Thesen zu verfassen, eine oder 17 oder 95, länger ausfomulierte oder Ein-Satz-Thesen. Ein paar der Überschriften aus diesem Band könnten schon erste Schreibanregungen sein:
- Deutschland ist Entwicklungsland
- Schluss mit dem Selbstbetrug – Deutschland ist ein rassistisches Land
- Wer nach Wahrheit sucht, muss mit echten Menschen streiten
- Wir brauchen Zweifel, um offen zu bleiben
- Auf allen Hochzeiten tanzen – und dabei auch noch Spaß haben
Und zu lesen lohnt sich das Buch auch, nicht zuletzt auch weil so kluge Menschen wie Thea Dorn, Judith Hermann, Hartmut Rosa, Edgar Selge, Ilija Trojanow oder Juli Zeh unter den 95 AutorInnen sind.
Friederike von Bünau, Hauke Hückstädt (Hg.) (2017): 95 Anschläge. Thesen für die Zukunft. Frankfurt/Main: S. Fischer
25. September 2017
95 Thesen
zur Lage der Nation
Der Ausgang der Bundestagswahl 2017 fordert dazu auf, sich mit der Zukunft zu befassen. Wohin gehen wir, wie wollen wir leben, was kann ich tun? Jedenfalls sind diese Fragen in mir wieder einmal aus dem Hintergrund in den Vordergrund geploppt. Und da ich Schreiblehrerin bin, suche ich dann auch sofort nach Schreibanregungen, sich schreibend Positionierungen und Visionen anzunähern, ist wahrscheinlich nicht die schlechteste Idee ... Und so empfehle ich, die Luthersche Idee zu nehmen und 95 Thesen zur Lage der Nation zu verfassen (oder zur Lage der Welt oder zu welcher lage auch immer). Am 31. Oktober gibt es ja die Gelegenheit, sie an eine geeignete Tür zu nageln. Und vielleicht hat die eine oder andere These durchschlagende Wirkung, wer weiß das schon ...
18. September 2017
Nomen- und Verbenfunde
Inspiration aus Eigenem
Nimm einen Text, den du, ohne lange zu suchen oder zu überlegen, und am besten auch, ohne ihn zu lesen, aus einem Stapel oder einem Ordner ziehen solltest. Schreib daraus das 1., das 3. und das 5. Nomen von vorn sowie das letzte, das drittletzte und das fünftletzte Verb heraus. Aus diesen sechs Wörtern entsteht als Grundmaterial, als Impulsmasse ein neuer Text.
Später kannst du die beiden Texte vergleichen. Gibt es verwandte Ideen, tauchen ähnliche (deine) Themen in beiden Texten auf?
Diese Übung geht auf die Gruppe OuLiPo zurück, sie ist eine ihrer Contraintes.
28. August 2017
Zum Gebrauchswert klassischer Lyrik
Goethe zum 268. Geburtstag
Mühsam schien mir das Interpretieren von Gedichten, in Deutsch mittelschwierig, in Englisch kam ich nie über ein ,ausreichend’ hinaus. Ich kann nicht sagen – und das ist erstaunlich in Anbetracht des Quasi-Scheiterns –, dass ich Gedichtinterpretationsaufgaben nicht mochte, ehr das Gegenteil ist der Fall: Mich über Reim und Rhythmus, Metaphern und Motive dem zu nähern, was in den Tiefen eines Gedichts steckt, was es beim ersten Lesen geschickt verbirgt, was vielleicht noch nicht einmal der Autor, die Autorin mit Absicht verborgen hat, empfand ich als faszinierend und lohnend. Niemals leider haben wir, die wir zum Interpretieren aufgefordert waren, aufgefordert, Gedichte zu schreiben, das Erkannte also in einem eigenen Produktionsprozess auszuprobieren, um so noch besser die Gemachtheit von Literatur verstehen zu können. Und dann hätten wir als erstes ja einmal ein Gedicht nachahmen, Reim und Rhythmus übernehmen, Metaphern und Motive neu wählen können. Haben wir nicht. Haben aber immer schon Menschen – mit Lern- oder Lehrabsicht oder einfach aus Spaß oder als Fingerübung. Ein überaus beliebtes Gedicht für das eine oder das andere scheint Wanderers Nachtlied von Johann Wolfgang Goethe zu sein, der heute, am 28. August 2017 268 würde, lebte er noch (wie es sein Gedicht tut).
Hier also erst einmal das Original:
Ein gleiches.
Über allen Gipfeln
Ist Ruh’,
in den Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest Du auch.
Nach Einführung der Tabaksteuer veröffentlichte die Magdeburger Zeitung 1894 folgende Umdichtung:
Ueber allen Wipfeln ist Ruh.
In allen Gipfeln spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Blätter rauschen im Walde,
Warte nur, balde
Rauchst du sie auch!
1917, also vor 100 Jahren genau, veröffentlichte Karl Kraus in seiner Fackel eine Umdichtung, die er im Frankfurter Generalanzeiger gefunden hatte:
Frei nach Goethe!
Ein englischer Kapitän an den Kollegen.
Unter allen Wassern ist – ,U’
Von Englands Flotte spürest du
Kaum einen Rauch ...
Mein Schiff versank, dass es knallte,
Warte nur, balde
R-U-hst du auch!
1964 griff Johannes Hubert ebenfalls nach Goethes Gedicht, um ein gesellschaftlich aktuelles Thema zu verarbeiten:
wanderers nachtlied
über alle gipfeln
ist unruh
in allen wipfeln
spürest du
atomkernrauch.
die kobolde lärmen im walde.
warte nur, balde
kobaldest du auch.
Adaptionen oder als solche interpretierte gibt es weitere auch in der zeitgenössischen Lyrik, u. a. in der Konkreten Poesie (Friedrich Achleitner, Eugen Gomringer, Ernst Jandl). Und jetzt? Selber machen! (Und es geht auch mit anderen Gedichten!)
Quelle: Segebrecht, Wulf (1978): J. W. Goethe. ,Über allen Gipfeln ist Ruh’. Texte, Materialien, Kommentar. München/Wien: Carl Hanser
31. Juli 2017
Listentexte helfen
... um zu umkreisen und zu vertiefen
Das – ich nenne den Text – Gedicht von Eike von Savigny eignet sich, ahmt man die Form nach, wunderbar, um spielerisch sich vorzutasten, um etwas zu umkreisen, um in die Tiefe zu kommen. Man kann sich auch von der speziellen Art des Seriellen, wie von Savigny es benutzt, lösen, eigene Anfangsworte wählen und einfach frei assoziieren. Es geht einerseits um Spiel und Lust, andererseits fördert das serielle Arbeiten manchmal Erstaunliches zutage.
Katalog
Eike von Savigny (geb. 1941)
A Es gibt vollkommene Zahlen
B Es gibt Zahlen
A Es gibt natürliche, ganze, rationale Zahlen und so weiter
B Es gibt natürliche Zahlen
A Es gibt Sachen zum Totlachen
B Es gibt Sachen
A Es gibt in Deutschland Sagen, in den USA nicht
B Es gibt in Deutschland Sagen
A Es gibt Sagen über Barbarossa
B Es gibt Sagen, Märchen, Legenden, Erzählungen und so weiter
A Es gibt Sagen
B Es gibt Gerüchte, nach denen er in die Affäre verwickelt ist
A Es gibt Gerüchte
B Es gibt in der Regierung einige gefestigte Charaktere
A Es gibt Charaktere
B Es gibt einen Punkt, über den man nicht hinausgehen darf
A Es gibt einen Punkt, an dem wir uns treffen könnten
B Es gibt einen Punkt
A Es gibt dunkle Punkte in seiner Vergangenheit
B Es gibt dunkle Punkte
A Es gibt Punkte, in denen ich mit mir reden lasse
B Es gibt Punkte
A Es gibt nicht nur Berge, sondern auch Täler
B Es gibt Berge
A Es gibt Möglichkeiten für eine Einigung
B Es gibt Möglichkeiten
A Es gibt Millionen Arbeitslose
B Es gibt Arbeitslose
A Es gibt Ausnahmen von dieser Regel
B Es gibt Ausnahmen
A Es gibt herrliche Farben im Herbst
B Es gibt Farben
A Es gibt von dem Anzug die Größen 94 und 98
A Es gibt für Anzüge die schlanken Größen 90, 94, 98 und so weiter
B Es gibt Größen
A Es gibt sehr hübsche Gegenstände in dieser Kollektion
B Es gibt Gegenstände
Es gibt nichts als Ärger mit den Russen
Es gibt noch Charakter in der Politik
Es gibt da gewisse Gerüchte
Es gibt immerhin noch Tiger
Es gibt in Afrika Tiger
Es gibt zum Beispiel Tiger, Löwen und Panther
Es gibt für ihn nur die Callas
Es gibt für Rentner verbilligte Karten
(Quelle: Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr. Nördlingen: Greno, 1985. – Dieses Werk ist übrigens eine wunderbare und inspirierende Fundgrube!)
12. Juni 2017
Stufenweises Tiefergehen
Feedback gehört zum Schreibprozess 6
In der Vorbereitung zu meinem neuen Modul an der Alice Salomon Hochschule (zu Pädagogik und Reflexivem Schreiben) habe ich diverse neue spannende Feedbackmethoden gefunden, die teilweise andere Dimensionen berühren als die, die ich bisher kannte und in meinen Gruppen angewandt habe. Als erste stelle ich das Stufenmodell von Zimmermann/Rickert vor, mit dem man sich bewusst machen kann, welche Art des Reagierens auf Texte Anderer man bisher gewählt hat, mit dem man aber auch in kleinen Schritten tiefer gehen und so lernen kann, was hilfreiches Feedback ist.
Zimmermann/Rickert benutzen den Begriff der Transaktivität für das kooperative und interaktive schreibbasierte Kommunizieren und Lernen. „Durch transaktives Sprach- beziehungsweise Schreibhandeln selbst gelangen Schreiberinnen zu neuen Inhalten. Transaktive Sprachhandlungen sind Ausdruck jener Denkprozesse, mit deren Hilfe Schreibende weiterführende Ideen generieren“ (Zimmermann/Rickert 2015: 94). Sie haben ein Kategorienraster entwickelt, mit dem sich die Tiefe der Transaktivität und damit in Folge auch die Qualität des Lernens bestimmen lässt:
- Auf Stufe 1 erfolgt keine Bezugnahme zum Geschriebenen.
- Auf Stufe 2 wird das Geschriebene wiederholt.
- Auf Stufe 3 wird dem Geschriebenen zugestimmt oder es abgelehnt, ohne eine Begründung zu geben.
- Auf Stufe 4 wird Zustimmung oder Ablehnung begründet, aber diese Begründung nicht differenziert.
- Auf Stufe 5 wird Zustimmung oder Ablehnung differenziert, aber nicht begründet.
- Auf Stufe 6 wird Zustimmung oder Ablehnung begründet und differenziert.
Quelle: Zimmermann, Tobias / Rickert, Alex (2015): Austausch in Onlineforen. Wie Kategorien die Lernwirksamkeit von Diskussionen steigern. In: Honegger, Monique / Ammann, Daniel / Hermann, Thomas: Schreiben und Reflektieren. Denkspuren zwischen Lernweg und Leerlauf. Bern: hep verlag: 83–96 (hier: 87).
29. Mai 2017
Schreiben in der Gruppe
Reißverschluss-Texte
Suchen Sie sich eine Gruppe oder nutzen sie die nächste Feier mit FreundInnen und schreiben Sie Texte, an denen die ganze Feierrunde beteiligt ist. Die Reißverschluss-Texte entstehen folgendermaßen:
JedeR schreibt einen ersten Satz auf ein eigenes DIN A4-Blatt, denkt sich den zweiten Satz, schreibt ihn aber nicht auf, sondern dann wieder den dritten Satz. Dann geben alle ihre Blätter nach rechts weiter. Die/Der Zweite schreibt den zweiten fehlenden Satz. Die Blätter werden wieder weitergegeben. Die/Der Dritte in der Runde denkt sich den vierten Satz und schreibt den fünften. Die/Der vierte Schreibende schreibt den vierten Satz. Außer ganz zu Anfang (da schreibt jedeR zwei Sätze) schreibt jedeR immer nur einen Satz.
Die Gruppenleitung kann die Satzabfolge unterstützend auf einem Blatt, das in der Mitte liegt, auflisten:
- SchreiberIn: 1. + 3. Satz
- SchreiberIn: 2. Satz
- SchreiberIn: 5. Satz
- SchreiberIn: 4. Satz
- SchreiberIn: 7. Satz
- SchreiberIn: 6. Satz ...
Als Erleichterung können alle immer ihre Sätze bzw. Zeilen nummerieren. Es hat sich auch bewährt, dass alle gleichzeitig weitergeben und die Gruppenleitung zu dem Zeitpunkt immer noch mal ansagt, was als nächstes zu tun ist: Lücke füllen oder Lücke lassen.
Sie sollten bei einer kleinen Gruppe (vier bis sechs Personen) die Blätter zwei Runden wandern lassen, sodass – wenn Sie vier Personen sind und jedeR das eigene Blatt zum zweiten Mal wieder vor sich hat – am Ende auf jedem Blatt neun Sätze stehen. Am Ende schreibt jedeR noch einen Schlusssatz.
Unbedingt muss man darauf aufmerksam machen, leserlich zu schreiben.
22. Mai 2017
6. Nordhessischer Autorenpreis
Einsendeschluss in einem Monat
AN DER GRENZE – was für ein Thema! Wahrscheinlich fällt es vielen schwer, sich zu entscheiden, von welcher Grenze denn nun zu schreiben sei. Von der Grenze des guten Geschmacks, von der Grenze zwischen Atlantik und Pazifik, von der Grenze im Kopf ... Und überschritten werden können ja auch alle Grenzen, an denen man steht. Und dann, was passiert hinter der Grenze?
Weitere Assoziationen und die Teilnahmebedingungen finden Sie hier.
24. April 2017
Anders denken
Das Bewusstsein bestimmt das Sein
Was Ulla Hahn sich gedacht hat, als sie das Gedicht schrieb, weiß ich nicht. Was ich gedacht habe, als ich es zum ersten Mal las, weiß ich noch: Das kann man auch ganz anders sehen! Und dann habe ich es in meiner allerersten Frauenschreibwerkstatt verteilt mit der Aufforderung (die ich jetzt auch hier ausspreche): Schreib das Gedicht um in eine kraftvolle (wenn frau so will: positive) Variation!
Ich bin die Frau
Ich bin die Frau
die man wieder mal anrufen könnte
wenn das Fernsehen langweilt
Ich bin die Frau
die man wieder mal einladen könnte
wenn jemand abgesagt hat
Ich bin die Frau
die man lieber nicht einlädt
zur Hochzeit
Ich bin die Frau
die man lieber nicht fragt
nach einem Foto vom Kind
Ich bin die Frau
die keine Frau ist
fürs Leben
10. April 2017
Listentexte helfen …
… um ins (lustvolle) Schreiben zu kommen
Eine meiner neuen Schreibschülerinnen blieb nach zwei Terminen weg. Nach dem zweiten, an dem wir oulipotische Experimente gemacht hatten, schrieb sie mir, wie dumm und mickrig sie sich vorgekommen sei, wie gut die Anderen schreiben, dass ihre aus der Schule mitgebrachte Angst vor dem Schreiben, die sie eigentlich in der Schreibwerkstatt hatte abbauen wollen, sich nur noch gesteigert habe. Ob sie wiederkäme, wüsste sie noch nicht.
Ich war erschüttert.
Dann schrieb ich ihr eine ausführliche Mail zu meinem Verständnis von Schreibwerkstatt; am Ende der Mail gab ich ihr folgende Tipps:
Listentexte sind eine gute Möglichkeit, ins Schreiben zu kommen; du kannst einfach mal ein paar Listentexte zu schreiben ausprobieren, jetzt in den Ferien, vielleicht machen sie dir Spaß. Ich gebe dir drei Anregungen: eine von Brecht (Vergnügungen), eine von Heißenbüttel (Heimweh); du kannst einfach mal die Form nachahmen, also eine Liste mit deinen Vergnügungen anfertigen, einen Text schreiben, bei dem jede Zeile gleich anfängt, vielleicht auch mit „Ich erinnere mich ...“. Eine dritte Anregung heißt, einen Text nur aus Fragen zu erstellen (siehe dazu: Blogeintrag vom 27. März 2017).
(Bertolt Brecht)
Vergnügungen
Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein
(Helmut Heißenbüttel)
Heimweh
nach den Wolken über dem Garten in Papenburg
nach dem kleinen Jungen der ich gewesen bin
nach den schwarzen Torfschuppen im Moor
nach dem Geruch der Landstraßen als ich 17 war
nach dem Geruch der Kommissspinde als ich Soldat war
nach der Fahrt mit meiner Mutter in die Stadt Leer
nach den Frühlingsnachmittagen auf den Bahnhöfen der Kleinstädte
nach den Spaziergängen mit Lilo Ahlendorf in Dresden
nach dem Himmel eines Schneetags im November
nach dem Gesicht Jeanne d’Arcs in dem Film von Dreyer
nach den umgeschlagenen Kalenderblättern
nach dem Geschrei der Möwen
nach den schlaflosen Nächten
nach den Geräuschen der schlaflosen Nächte
nach den Geräuschen der schlaflosen Nächte
3. April 2017
Antworten …
... weil jemand gefragt hat
Am letzten 1. April schickte mir eine meiner SchreibschülerInnen (Viktoria Ahrend) eine Liste mit Fragen (die sie auch an andere Bekannte und FreundInnen versandte) und bat um Antworten. Sofort, spontan und lustvoll beantwortete ich sie. Ja, es ist eine Lust, auf solche Fragen zu antworten, erlauben sie doch, in spielerischer Weise ein kleines Portrait in Metaphern aus dem Moment heraus zu erstellen. Und laden sie doch ein zum Dialog darüber, was die Fragenstellerin aus dem liest, was geantwortet wurde.
Hier sind die Fragen:
Wenn ich eine Farbe sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich eine Land sein könnte, welches wäre ich dann:
Wenn ich ein Tier sein könnte, welches wäre ich dann:
Wenn ich mir ein Geschlecht aussuchen könnte, welches würde ich wählen:
Wenn ich ein Material sein könnte, welches wäre ich dann:
Wenn ich eine Pflanze sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich ein Kleidungsstück sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich eine Sportart sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich ein Beruf sein könnte, welcher wäre ich dann:
Wenn ich ein Wetterzustand sein könnte, welcher wäre ich dann:
Wenn ich ein Gefühl sein könnte, welches wäre ich dann:
Wenn ich eine Zahl sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich ein Instrument sein könnte, welches wäre ich dann:
Dieser Fragebogen hat berühmte Vorbilder: Max Frisch hat in seinen Tagebüchern Fragebögen entworfen, die dazu einladen zu antworten. In Magazinen großer Tages- und Wochenzeitungen (FAZ, DIE ZEIT) sind jahrelang jede Woche öffentlich bekannten Personen die gleichen Fragen gestellt worden, sodass man aus den Antworten ein Charakterbild herauslesen konnte.
In meinen Schreibwerkstätten setze ich Fragebögen, ähnlich dem meiner Schreibschülerin, ein, also solche, die ein Portrait in Metaphern zeichnen. Die ausgefüllten Fragebögen werden verlost und anonym vorgelesen – die Gruppe rät, wer sich hinter den Antworten verbirgt.
13. März 2017
Dreizehn Arten ...
... eine Amsel zu betrachten
Diese Woche bin ich auf Sylt, mit einer Gruppe zum Schreiben. Dort werde ich auf jeden Fall die Teilnehmenden dazu ermuntern, zweite und dritte Blicke nach den ersten auf etwas zu werfen. Ich versuche, die Möglichkeit zu eröffnen, dass jedeR einen eigenen Fokus findet, spätestens am vierten Tag. Und bei diesem auch bleibt. Sich einlässt, tiefer geht. Und dazu kann vielleicht ein Gedicht den entscheidenden Impuls geben: Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten von Wallace Stevens.
Das Gedicht ist schon Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden, inspiriert aber bis heute viele SchriftstellerInnen, z. B. Bengt Emil Johnson. In seinem Gedichtband Elchzeit gibt es zwei die Amsel-Betrachtungen adaptierende Gedichte: 32 Arten Elstern zu betrachten und 20 Stationen am Olsjömoor. Günter Ohnemus hat gleich Siebenundsechszig Ansichten einer Frau daraus gemacht; dieses Buch kann man als Kürzestgeschichtensammlung, aber auch als 67 Blicke auf eine Frau und ihre Lebensäußerungen lesen.
Hier nun das Gedicht von Stevens, als Anregung, in einer Übersetzung von meinem Bruder Jens Alers:
Dreizehn Arten, eine Amsel zu betrachten
von Wallace Stevens
I
Zwischen zwanzig verschneiten Bergen,
war das einzige sich bewegende Ding
das Auge der Amsel.
II
Ich war drei Sinne,
wie ein Baum
in dem drei Amseln sitzen.
III
Die Amsel wirbelte in den Herbstwinden.
Sie war ein kleiner Teil der Pantomime.
IV
Ein Mann und eine Frau
sind eins.
Ein Mann und eine Frau und eine Amsel
sind eins.
V
Ich weiß nicht was ich bevorzuge,
die Schönheit des Tonfalls
oder die Schönheit der Anspielungen,
die pfeifende Amsel
oder nur danach.
VI
Eiszapfen füllen das lange Fenster
mit barbarischem Glas.
Der Schatten der Amsel
durchkreuzte es, vor und zurück.
Die Stimmung
hinterließ eine Spur im Schatten
einen unentzifferbaren Grund.
VII
Oh ihr dünnen Männer von Haddam,
warum stellt ihr euch goldene Vögel vor?
Seht ihr nicht wie die Amsel
um die Füße
der Frauen bei euch läuft.
VIII
Ich kenne die noblen Akzente
und die klaren, unausweichlichen Rhythmen;
aber ich weiß auch,
dass die Amsel an dem,
was ich weiß, beteiligt ist.
IX
Als die Amsel aus meinem Blickfeld flog
markierte sie den Rand
eines der vielen Kreise.
X
Im Anblick der Amseln,
im grünen Licht fliegend,
würden sogar die Hasen des Wohlklangs
laut aufschreien.
XI
Er ritt herüber nach Connecticut
in einer gläsernen Kutsche.
Eine Furcht hatte ihn einst durchbohrt,
insofern dass er
den Schatten des Gespanns
mit Amseln verwechselte.
XII
Der Fluss bewegt sich.
Die Amsel fliegt wohl.
XIII
Es war den ganzen Nachmittag lang Abend
Es schneite
und es sollte weiterhin schneien.
Die Amsel saß
in den Zweigen der Zeder.
Wallace Stevens: Thirteen Ways of Looking at a Blackbird, in: The Collected Poems of Wallace Stevens. Copyright 1954 by Wallace Stevens. Reprinted with the permission of Alfred A. Knopf, a division of Random House, Inc.
6. März 2017
Oulipotische Versuche
Ohne Verben und mit einem
Das vergangene Wochenende habe ich mit oulipotischen Versuchen verbracht. Mehr dazu nächste Woche! Heute empfehle ich:
- einen Text zu schreiben, der ganz ohne Verben auskommt (auch Partizipien sind nicht erlaubt); es ist dabei ratsam, sich erst einmal kein Thema zu setzen, sondern sich von einem Impuls irgendwohin tragen zu lassen, z. B. von: Sieben Wochen ohne.
- einen Text zu schreiben, der mit nur einem einzigen Verb auskommt (die Hilfsverben sein und haben, sofern sie zur Bildung der grammatischen Zeiten gebraucht werden, sind ebenfalls erlaubt); es ist hierbei ratsam, in einem ersten Versuch ein Verb zu wählen, das Spielraum lässt, z. B. spielen, gehen oder schreiben. Spannend ist, was während des Schreibens passiert und welches Räume diese Beschränkungen öffnen!
13. Februar 2017
Arbeit an Sprache und Wahrnehmung
Möglichkeiten, auf ein Bild zu reagieren
Der Schreibdidaktiker Günter Lange hat (schon im letzten Jahrtausend!) acht Möglichkeiten aufgezeigt, wie man auf ein Bild regieren kann, jeweils eine andere Schreibhaltung einnehmend; Kollegin Katrin Bothe hat diese um zwei weitere Möglichkeiten ergänzt. Die Aufgabe heißt ganz einfach: Schreiben zu einem Bildimpuls. Zum Beispiel zu diesem:
© uli ahrend, satzmanufaktur
Dann wählt man sich eine der folgenden Möglichkeiten:
- Fensterblick
- Filmblick
- Spaziergang
- Es war einmal
- Gespräch
- Spiegelbild
- Traum
- Meditation
- Steckbrief
- Beeindruckt
Und dann wählt man eine weitere und noch eine – immer geht es um dasselbe Bild. Und eigentlich geht es nicht um das Bild, sondern eben um das Erproben unterschiedlicher Schreibhaltungen.
6. Februar 2017
Was ich gemacht habe ...
... und was ich kann!
Von meiner Kollegin Marie-Luise Erner bekam ich folgende Übungssequenz geschenkt.
- 1. Schritt: Mach eine Liste mit all den Dingen, die du heute schon gemacht hast, ganz konkret: Wecker ausstellen, Kaffee mahlen, mit dem Zeitungsboten schwätzen, küssen, stöhnen usw. (du kannst auch das Partizip verwenden: Wecker ausgestellt, Kaffee gemahlen ...; und du musst nicht chronologisch vorgehen); lass dir für diese Sammlung 15 Minuten Zeit.
- 2. Schritt: Nimm jeden einzelnen Punkt in der Liste und füg ein „Ich kann“ vor jeden Punkt: Ich kann den Wecker ausstellen. Ich kann Kaffee mahlen. Ich kann mit dem Zeitungsboten schwätzen. Ich kann küssen. Ich kann stöhnen. Usw.
- 3. Schritt: Du kannst die in Schritt 2 geschriebenen Sätze noch intensivieren, indem du jeweils ein „gut“ einfügst oder indem du die Sätze jeweils beginnst mit: „Ich freue mich, dass ich den Wecker ausstellen kann. Ich freue mich, dass ich Kaffee mahlen kann.“
Diese Übungssequenz stammt aus dem Kontext des heilsamen oder therapeutischen Schreibens, sie schult die Achtsamkeit und die Fokussierung auf Ressourcen.
30. Januar 2017
Hinschauen ...
... und nicht schweigen
„Ihr tragt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert.“ Esther Bejaranos Satz passt auf so vieles, was in der Welt passiert. Da muss man gar nur nicht Trump, die AfD oder Diktaturen in den Blick nehmen. Auch in ein armes Land zu reisen und in einem 5-Sterne-Hotel zu logieren und die Augen vor den 500 Meter weiter liegenden Slums zu verschließen, heißt in diesem Sinne, sich schuldig zu machen.
Esther Bejarano (geb. Loewy, * 15. 12. 1924 in Saarlouis) ist Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz. Dort spielte sie im Mädchenorchester. Heute engagiert sie sich gegen rechtsradikale Gewalt und Propaganda.
23. Januar 2017
Literatur einbauen
Die Zwei-Spalten-Methode
Gestern coachte ich einen jungen Mann, der eine Erzieherausbildung macht und eine Hausarbeit zur Veränderung der Vaterrolle verfassen muss. Er hatte die Literatur, die er benutzen wollte, gelesen und dann in einem Rutsch den Hauptteil über den Vergleich zwischen der alten, passiven und der neuen, aktiven Vaterrolle heruntergeschrieben, zwei Seiten, alles schlüssig und gut formuliert. Aber wo waren die die Literatur, die Belege für das Dargelegte?
„Ich weiß immer nicht, was ich mit der Literatur machen soll, wie ich sie in den Text kriege“, sagte er. „Kein Problem“, sagte ich. „Deine Arbeit bzw. deine verwendete Schreibstrategie ist die beste, die du wählen konntest.“ Er schaute mich etwas irritiert an. Doch so ist es.
1. Fragestellung entwicklen, 2. Literaturrecherche betreiben, 3. Texte lesen, 4. Thesen und Positionen aufstellen – das hatte er alles wunderbar gemacht. Und er hatte 5. den Rohtext in seinen eigenen Worten formuliert, alles war drin, was es braucht. Außer: die Literaturstellen als Belege.
Also zerschnitten wir 6. seinen Rohtext in Sinnabschnitte; zu jedem Sinnabschnitt suchte er 7. einen passenden Beleg (oder zwei) und formulierte ihn 8. hinein – mit ein paar Textmustern, die ich ihm dazu noch zur Verfügung stellte, z. B.: „so wie es A. formuliert“ oder „B. sagt es sogar noch schärfer“ oder „hier schließe ich mich C. an“ usw.
Diese Strategie, die mein Coachee angewendet hat, hat Otto Kruse als Zwei-Spalten-Methode beschrieben. Vorrangig geht es bei dieser darum, in die linke Spalte auf einem Blatt den Rohtext herunterzuschreiben, im Vertrauen darauf, dass das, was vom Gelesenen im Kopf vorhanden ist, dafür ausreicht. Im zweiten Schritt trägt man in die rechte Spalte die Belege ein, als Verweise oder Originalzitate.
„Cool“, sagte er, erleichtert darüber, dass seine für ihn passende, sozusagen aus dem Bauch heraus gewählte Strategie nicht blöd ist und sogar mit einem einfachen Trick ergänzt zu einem wunderbaren Ergebnis führt. (Ein erfreulicher Nebeneffekt dieser Methode ist, dass sie auch gut geeignet ist, um die Plagiatgefahr zu bannen – denn beim Rohtexten lässt man ja nur das regieren, was vom Gelesenen im Kopf hängengeblieben ist bzw. sich dort zu einer eigenen Darstellung und Argumentation formiert hat.)
9. Januar 2017
OuLiPo – auch 2017
Pantun aus Zitaten
Zwischen den Jahren haben wir gelesen (so hoffe ich), die Bücher, die wir geschenkt bekamen, liegen noch neben dem Sofa oder auf dem Nachttisch. Nach der Lektüre sind Bilder geblieben, vielleicht Satzfetzen. Manchmal streichen wir Sätze an (ich tue das jedenfalls) und wollen sie nicht vergessen, wollen nach ihnen vielleicht gar leben! Und dann verblassen sie, andere sind stärker, der Alltag überlagert das Erhabensein. Wenn wir aber etwas tun mit den Sätzen, die so wichtig waren, die heraustraten aus der Buchseite, die uns umwarben, anfassten, ergriffen, dann werden sie deutlicher, bekommen mehr Leucht- und Wirkkraft.
Suchen wir also acht (nicht zu lange oder halbe) Sätze aus den zuletzt gelesenen Büchern heraus, die und entgegengetreten sind. Fügen wir sie zu einem Pantun. Und die Sätze werden sich entfalten, Neues sichtbar machen, was wir ahnten oder auch nicht, wir machen sie zu unseren Sätzen, zu unseren Wahrheiten.
In einem Pantun werden acht Zeilen jeweils zweimal verwendet. Hier ein Beispiel aus 2016 (aus dem auch das Prinzip, in welcher weise sie wiederholt werden, hervorgeht):
Pantun
Nicht dass einer auf die Idee kommt
dass man schlendern kann, absichtslos
dass es auch ganz anders sein kann
staunende Augen an hellen Tagen
dass man schlendern kann, absichtslos
Fragen, Fragen, Grübelattacken
staunende Augen an hellen Tagen
Wann nur ist es anders geworden?
Fragen, Fragen, Grübelattacken
Wo nur sind Ruhe und Konzentration?
Wann nur ist es anders geworden?
Es ist nichts mehr wie früher
Wo nur sind Ruhe und Konzentration?
dass es auch ganz anders sein kann
Es ist nichts mehr wie früher
Nicht dass einer auf die Idee kommt
26. Dezember 2016
Schöne Anwesende
Im OuLiPo-Fieber
Für die nächste Jahrestagung des Segeberger Kreises, meines (schreibpädagogischen) Quasi-Berufsverbandes, schlage ich eine OuLiPo-Schreibgruppe zum Thema ZEITFORMEN vor. In Vorbereitung auf diesen Vorschlag, der als Text in den Segeberger Briefen 94 veröffentlicht werden wird, habe ich mich durch die Literatur zu OuLiPo gelesen – durch die, die ich lesen kann. Die, die auf Deutsch erschienen ist, ist wahrlich überschaubar. So gibt es etwa in der Bibliothek der Uni Kassel kein einziges Buch zu OuLiPo auf Deutsch. Aber bei Gundel Mattenklott bin ich fündig geworden. Sie veröffentlichte mehrere Aufsätze (in eben jenen Segeberger Briefen). Und vor allem fand ich dort feine Anregungen. So etwa diese, erfunden von George Perec: „Der schöne Anwesende“ („beau présent“).
EinE schöneR AnwesendeR ist ein Gedicht, das zu Ehren einer Person verfasst wird. Es handelt sich dabei um ein anagrammatisches Gedicht: Jeder Vers enthält nur die Buchstaben, aus denen der Name der/des schönen Anwesenden besteht. Schöne Anwesende eignen sich sowohl für Geburtstage oder Jubiläumsfeiern als auch für Gelegenheiten des Spotts oder der Kritik. Oder vielleicht kann man auch ZWEITAUSENDSIEBZEHN als schönen Anwesenden be-/ver-dichten.
5. Dezember 2016
Listen-Vita
Mein Leben 2016 in Listenform
Langsam neigt sich das Jahr dem Ende entgegen. Ich fahre am Donnerstag ins Kloster Germerode, um mit einer Gruppe von 13 Frauen schreibend einen persönlichen Jahresrückblick zu wagen. Eine der Anregungen stelle ich hier vor, die Listen-Vita.
Listen gibt es in der Literatur viele. Manche heißen dann Gedichte (z. B. Bertolt Brechts Vergnügungen), manche sind nummeriert (z. B. Zehn Gebote des Schreibens). Man könnte auch eine Listen-Vita schreiben (oder eben eine spezielle 2016-Liste machen), dazu ein paar Ideen:
- Meine gelesenen Bücher 2016
- Meine Krisen oder traurigsten Momente 2016
- Das ist mir im letzten Jahr gelungen
- Dahin ging mein Herzblut
- Das waren meine Glücksmomente
- Darüber habe ich 2016 gestaunt
14. November 2016
Was ist ein Gottprotz?
Mit Elias Canetti in kreative Gefilde
Immer wieder sehr gern nehme ich einen Text aus Elias Canettis Werk Der Ohrenzeuge als Schreibimpuls. Zuerst Staunen, Zögern, Stöhnen gar, dann aber die Lust am Benutzen der Figuren, manchmal gar der Impuls zu eigenen, sprachlich ähnlich hergestellten.
Die Königskünderin
Der Namenlecker
Der Unterbreiter
Die Selbstschenkerin
Der Hinterbringer
Der Tränenwärmer
Der Blinde
Der Höherwechsler
Die Geruchschmale
Die Habundgut
Der Leichenschleicher
Der Ruhmprüfer
Der Schönheitsmolch
Die Mannsprächtige
Der Schadenfrische
Die Schuldige
Der Fehlredner
Die Tischtuchtolle
Der Wasserhehler
Der Wortfrühe
Die Silbenreine
Der Ohrenzeuge
Der Verlierer
Die Bitterwicklerin
Der Saus und Braus
Die Mondkusine
Der Heimbeißer
Der Vermachte
Der Tückenfänger
Die Schadhafte
Die Archäokratin
Die Pferdedunkle
Der Papiersäufer
Die Versuchte
Die Müde
Der Verschlepper
Der Demutsahne
Die Sultansüchtige
Die Verblümte
Der Gottprotz
Die Granitpflegerin
Der Größenforscher
Die Sternklare
Der Heroszupfer
Der Maestroso
Die Geworfene
Der Mannstolle
Der Leidverweser
Die Erfundene
Der Nimmermuss
Hier zwei Beispiele meiner TeilnehmerInnen aus dem Jahreskurs Kreatives Schreiben, die letzte Woche entstanden sind und die sie mir freundlicherweise zur Veröffentlichung überließen. Das Spielen und der aktuelle Bezug sind nicht zu übersehen.
(freie Verse)
Nimmermuss
den adoptiere ich
es gibt immer eine Wahl
im November sind alle unterwegs
aber ich muss ihnen nicht begegnen
(Elfchen)
Gottprotz
Donald Trump
Volle Fahrt voraus
Keine Notbremse in Sicht
Atemnot
10. Oktober 2016
Ein Gedicht?
Fragen 1
Das folgende Gedicht von Jürg Amann (Schweizer Schriftsteller, 1947–2013) kann als Anregung dienen. Die Form kopierend stellen Sie eigene Fragen, vielleicht zu einem Lebensthema, vielleicht auf ähnlich naive Weise wie Kaspar Hauser?
Kaspar Hausers Fragen
Warum heißt warum warum?
Warum ist die Welt bunt?
Warum ist das Gras grün?
Warum ist die Luft blau?
Warum ist das Wasser klar?
Warum ist die Wüste rot?
Warum ist die Weste weiß?
Warum ist das Geld schmutzig?
Wo ist die Sonne, wenn sie nicht scheint?
Wo ist der Wind, wenn er nicht bläst?
Wo ist die Nacht, wenn es Tag ist?
Wo ist die Frau, wenn sie ein Mann ist?
Wo ist der Tag in der Nacht?
Warum ist der Himmel ein Loch?
Warum brennt mich das Licht, obwohl es nicht da ist?
Warum scheint mir der Mond in den Kopf?
Warum kann ich die Flammen nicht pflücken?
Warum stinken die Blumen so sehr, dass mir schlecht wird?
Warum sind nicht alle Tiere ein Pferd?
Warum wiehert der Apfel nicht, wenn er vom Baum springt?
Warum isst die Katze nicht mit den Händen?
Wer hat die Kühe erfunden?
Wer hat die Blätter an die Bäume gehängt?
Warum beißt mich der Schnee in die Hand?
Warum friert der Winter im Winter nicht?
Warum habe ich auf dem Rücken kein Auge?
Worin besteht die Höhe der Berge?
Warum schlafe ich nicht, wenn die Natur schläft?
Was ist diese Schrecklichkeit der Wälder und Wiesen?
Warum bin ich hier und nicht dort?
Warum sagt Gott kein Wort?
Warum?
3. Oktober 2016
Das Serendipitätsprinzip
Versuch über Licht und Dunkelheit
Das Serendipitätsprinzip bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Hier mal ein Beispiel auf einem Foto, das meine Freundin Marion Koopmann irgendwo in Spanien machte und mir für schreibkreative Verwendungen überließ. Einfach nehmen und sich inspirieren, zu Assoziationen verleiten lassen. Oder nach Parallelerfahrungen im eigenen Leben suchen.
12. September 2016
Lesetagebuch
Eine Schulmethode für (kreative) Schreibgruppen
Lesetagebuch heißt: Ich lese ein Buch und begleite den Leseprozess reflexiv und kreativ schreibend. In einer Schreibgruppe kann vereinbart werden, dass alle dasselbe Buch lesen oder jedeR ein selbst gewähltes.
Der Begriff Tagebuch ist etwas irreführend, sind doch Tagebücher eigentlich ,geheim’. Lesejournal wäre ein besserer Begriff, der sich aber nicht durchgesetzt hat. Vergleichen kann man Lesetagebücher durchaus mit den Künstlertagebüchern, die einige KünstlerInnen begleitend zu einem Projekt oder ihrem gesamten Schaffen geführt haben und die ja auch nicht geheim (geblieben) sind.
In den 1960er Jahren wurden Lesetagebücher für den Deutschunterricht entdeckt, zunächst als Medium zur Dokumentation privater Lektüre. In den 1970ern erweiterte sich das Konzept aufgrund der Erkenntnis, dass das Fernsehen einen immer größeren Einfluss gewann: Das Führen eines Lesetagebuchs sollte zur kritischen Reflexion und ästhetischen Sensibilisierung beitragen. In den 1980ern wurden Lesetagebücher in das Konzept des individualisierten, handlungs- bzw. produktionsorientierten Unterricht eingefügt; seit den 1990ern sind sie fester Bestandteil offenen Unterrichts bzw. der Freiarbeit (vgl. Hintz 2002: 62ff.).
Die Methode Lesetagebuch ist gegen rein passives oder konsumorientiertes Lesen gerichtet; mit ihr sollen Lernprozesse gesteuert und nachvollziehbar, individuelle Lese-, Verstehens- und Lern-Strategien gefördert werden. Das Lesetagebuch kann ein Baustein auch für ein (kreatives) Schreibgruppenkonzept sein, das „das Lesen als Interaktion von Leser und Text begreift und den Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten einer individuellen, selbsttätigen, identitätsbildenden, intensiven und aspektreichen Auseinandersetzung mit dem Gelesenen eröffnen sowie Leseerfahrungen im Sinne von Imaginationen, Identifikationen, Perspektivenübernahmen und Fremdverstehen anbahnen will“ (Hintz 2002: 268).
Außerdem fördert das Führen von Lesetagebüchern selbstredend die Kommunikation über das Gelesene in der Gruppe.
Wie nun sieht ein Lesetagebuch aus? Zunächst einmal: Es ist eine Mappe, in die alles geheftet wird, was geschrieben, gezeichnet, gesammelt wurde. In den nun folgenden Anregungen werde ich schwerpunktmäßig Anregungen zum Schreiben geben.
Vor der Lektüre kann man sich schreibend mit dem Titel (Text und Bild), mit Vorerwartungen an den Inhalt, mit der/dem AutorIn, mit der historischen Entstehungszeit des Buches befassen. Auch kann man einfach zum Titel oder zwischen erstem und letztem Satz eine eigene Geschichte erfinden.
Während des Lesens gibt es mannigfaltige Möglichkeiten. Hier einfach eine Liste, die ich mit Hilfe von Schülerinnen aus meiner Schreibwerkstatt-AG an der Integrierten Gesamtschule Kaufungen (April 2008) und den Frauen aus meiner Donnerstagsschreibwerkstatt (Mai 2015) generiert habe:
- Textstellen abschreiben, die berühren (auch ,schöne’ Gestaltung möglich)
- Zitate herausschreiben, die (z. B. als Aphorismus) einmal verwendet werden können
- eine der Textstellen als Impuls für einen freien Text (oder bestimmte Textsorte) verwenden
- Personensteckbrief erstellen
- Brief/Mail an die Hauptperson schreiben, ein Telefonat mit ihr führen
- Interview mit einer Person/Figur führen
- inneren Monolog einer Person schreiben
- Tagebucheinträge einer Figur erfinden
- Karikatur einer Person anfertigen
- Dialog zwischen zwei Figuren erfinden
- ein Kapitel in einen Bericht, ein Gedicht o. a. (alle Textsorten sind möglich, im Sinne von Queneaus Stilübungen) umschreiben
- Gegentexte zu Kapiteln aus anderen Perspektiven
- zu einer Figur und ihrem Verhältnis zu etwas Anderem (Person, Gegenstand) schreiben
- zur Leidenschaft oder zum Geheimnis einer Figur (imaginierend) schreiben
- Kommentar zum Verhalten, zur Sprache einer Figur geben
- sich intensiv mit einer (zufällig aufgeschlagenen) Seite der Geschichte befassen
- Akrostichon aus einem Schlüsselwort machen
- die ersten drei Verben, die letzten drei Nomen, daraus eigenen Text machen (oder andere Experimente mit dem Wörtermaterial des Buches)
- die/den AutorIn über das Verhältnis zu den Figuren sprechen lassen
- die/den AutorIn über den eigenen Schreibprozess sprechen lassen
- Kommentar zur eigenen Lesesituation verfassen
- Reflexion zum eigenen Lektüreprozess vornehmen
- einen Raum, einen Gegenstand o. ä. beschreiben
- eine Bauanleitung für einen Gegenstand verfassen
Nach der Lektüre gibt es weitere Möglichkeiten:
- Fragen an den Text aufschreiben
- Antworten finden auf Fragen, die die Figuren oder die Geschichte stellen
- Inhaltsangabe verfassen
- die Geschichte auf 100 Wörter schrumpfen
- Ich-Erzählung mit ähnlichem Inhalt schreiben
- Rezension schreiben
- Anpreisung oder Lese-Warnung verfassen
- Brief an AutorIn schreiben
- welche (universellen) Lebensfragen das Buch beantwortet
- an was die LeserInnen sich reiben
- worauf das Buch realen Einfluss haben kann
- Text über das, was eine Figur die Leserin lehrte
- Kreuzworträtsel zum Inhalt gestalten
- neue Kapitel einfügen
- neue Personen erfinden, die dem Ganzen eine andere Wendung geben könnten
- Vorgeschichte des Entstehens der Geschichte erfinden
- ein anderes Ende erfinden
- eine Fortsetzung schreiben
- das ganze Buch als Theaterstück oder Film aufbereiten
- ,Familienaufstellung’ zu den Figuren im Buch
- (alle) Kapitel illustrieren
- das ganze Buch in einen Comic oder eine Bilderreihe umwandeln
Bertschi-Kaufmann, Andrea (2006): „Jetzt werde ich ein bisschen über das Buch schreiben“. Texte zum Nachklang von Lektüren als Unterstützung des literalen Lernens. In: Kruse, Otto / Berger, Katja / Ulmi, Marianne (Hg.): Prozessorientierte Schreibdidaktik. Schreibtraining für Schule, Studium und Beruf. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt Hintz, Ingrid (2002): Das Lesetagebuch: intensiv lesen, produktiv schreiben, frei arbeiten. Baltmannsweiler: Schneider Waldmann, Günter (2000): Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht, 3. Auflage. Baltmannsweiler: Schneider
1. August 2016
Was bleibt vom Tag?
Schwärzen Sie!
Nehmen Sie eine Seite der heutigen Tageszeitung und lesen oder überfliegen Sie diese. Lassen Sie sich von Wörtern und Zusammenhängen, von Zufallsfunden, die Ihre Aufmerksamkeit erregen, fangen und schwärzen Sie den Rest der Seite. Es bleiben Wörter, Halbsätze, die sich zu einem neuen Text fügen (sollen).
Ich habe die Idee übernommen von Austin Kleon, der seine Werke Newspaper Blackout Poems nennt, übersetzt vielleicht:
Zeitungsausradierungsgedichte. Einerseits ist die Arbeitsweise eine kreative, die zu visuell-kommunikativen Produkten führt, andererseits spielt sie mit dem Akt der Zensur von Texten in Repressionszusammenhängen.
Kleon, Austin (2010): Newspaper Blackout, New York: HarperCollins, S. 69
25. Juli 2016
Das war der Tag
Schlagzeilen-Text
Nehmen Sie die heutige Tageszeitung und schneiden alle Schlagzeilen bzw. Überschriften aus (je nach Umfang der Zeitung kann man auch nur einen Teil, etwa das Feuilleton, nehmen). Aus diesen Schlagzeilen entsteht nun ein Text. Variante A: Es darf kein eigenes Wort hinzugefügt werden. Variante B: Sie mischen Schlagzeilen und eigene Zwischentexte.
11. Juli 2016
Feedback gehört zum Schreibprozess 5
Einführung in das redaktionelle Arbeiten (nach Melanie Heusel):
Bei einer Weiterbildung (Literacy Management und Schreibzentrumsarbeit) an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder lernte ich 2011 Melanie Heusel kennen. Sie entwarf dort – auch auf ihrem Hintergrund als Lektorin – während der Weiterbildung 2012 ein Konzept zur schrittweisen Überarbeitung eines Manuskript-Rohtextes zu zweit.
Die Texte, mit denen gearbeitet wird, sollten nicht länger als jeweils eine Normseite sein.
- Schritt: Die Teilnehmenden tauschen in Paaren ihre Texte.
- Schritt: Jede überarbeitet/redigiert den Text der jeweils Anderen nach eigenem Ermessen – aber auch vorsichtig, auf neuralgische Punkte, logische Brüche etc. hinweisend; eine Form könnte ein (wohlwollend fragender) Brief an die Autorin, den Autor sein.
- Schritt: Die Texte werden zurückgetauscht. Die PartnerInnen diskutieren über die Rückmeldungen.
- Schritt: Jede schreibt eine Neufassung des eigenen Textes auf ein neues Blatt.
- Schritt: Schritt 2 bis 4 wiederholen sich; dieses Mal werden (vorher abgesprochene oder vorgegebene Kriterien) angelegt.
- Schritt : Jede reflektiert schriftlich das eben Erlebte: Wie war es, den eigenen Text aus der Hand zu geben? Wie hat es sich angefühlt, in den fremden Text einzugreifen? Welche Art von Änderungen wurden zu meinem Text vorgeschlagen? Welche Art von Änderungen habe ich für den fremden Text vorgeschlagen? Wie war das Erstellen der Neufassung? Welche Änderungsvorschläge haben sich als nützlich erwiesen? Warum? Welche anderen Vorschläge/Eingriffe/Anweisungen wären noch hilfreich gewesen? Warum?
- Schritt: Jeweils zwei Paare tun sich zusammen und tauschen sich über die Ergebnisse aus.
4. Juli 2016
Feedback gehört zum Schreibprozess 4
Für die Sendung mit der Maus
Angelehnt an die Queneau’schen Stilübungen (siehe 20. 6. 2016) kann man einen eigenen oder auch einen fremden (Sach-)Text so umschreiben, dass er sich für die Sendung mit der Maus eignet. Wie geht das – Sachtexte schreiben für Kinder zwischen vier und acht? Im Selbstversuch lässt sich das einfach mal testen. Vielleicht gibt es ja das eine oder andere Kind in der Verwandtschaft oder Nachbarschaft, das sich als Testhörer zur Verfügung stellt.
20. Juni 2016
Feedback gehört zum Schreibprozess 3
Stilübungen am eigenen Text
Die Idee: Man wendet die Stilübungen von Raymond Queneau (1961) auf einen eigenen (kurzen) Text an und verfasst mindestens fünf Varianten. Beispiele für Queneau’sche Aufgaben: Text in Gedicht oder Bühnenstück verwandeln, rückwärts erzählen, Telegramm, Klappentext, für Kinder .../
In dem kleinen Bändchen von Queneau findet man rund 100 Selbstversuche des Autors, der Ursprungstext ist eine einfach erzählte kurze Szene in einem Bus, der je nach selbst gestellter Aufgabe entsprechend sprachlich und/oder stilistisch und oder vom Aufbau her verändert wird. Der Sinn ist zum Einen, dass ein solches Selbstexperiment Spaß macht, zum Anderen aber bringt es auch Erkenntnisse über das Gemachtsein von Texten – im Selbstversuch.
13. Juni 2016
Feedback gehört zum Schreibprozess 2
Feedbackmethoden nach Patricia Belanoff & Peter Elbow
Patricia Belanoff und Elbow stellen in A Community of Writers: A Workshop Course in Writing (McGraw Hill, 1989/1999) elf Feedbackmöglichkeiten vor (Zusammenfassung unter www.usi.edu/media/2962444/summary-of-ways-of-responding.pdf; abermals zusammenfassenden Übersetzung: Kirsten Alers). Erdacht sind sie für den Kontext Peer Review im wissenschaftlichen Schreiben, lassen sich aber an alle anderen Kontexte anpassen.
Sharing: no response
Es geht um die Wirkung reiner Aufmerksamkeit: den eigenen Text laut vorlesen oder gleichzeitig mit jemand anders parallel leise lesen.
Pointing and center of gravitay
Pointing: Welche Wörter/Sätze/Passagen berühren, bleiben hängen? Center of gravity: Welche Facetten scheinen wichtig, erzeugen Resonanz oder könnten allgemeingültig sein?
Summary and sayback
Zusammenfassung in eigenen Worten.
What is almost said? What do you want to hear more about?
Diese Fragen stellt die/der AutorIn ans Publikum.
Reply
Die frei assoziierten Gedanken der ZuhörerInnen zum Gegenstand des Textes.
Voice
Welchen Eindruck macht der Ton des Textes: Ist er lebendig, human, langweilig, furchtsam, zuversichtlich, sarkastisch, verteidigend etc.? Und was zeigt der Ton von der Autorin?
Movies of die reader’s mind
Spontane und ehrliche Auskunft in Ich-Aussagen über das, was in einer/m beim Lesen/Hören vorgeht, direkt nach dem Lesen/Hören.
Metaphorical descriptions
Beschreibung des Textes in bildhaften Ausdrücken aus dem Bereich Kleidung, Wetter, Tiere, Farben, Formen etc.
Believing and douting
Zuerst alles glauben (auch wenn nicht): Glaub alles, was ich geschrieben habe, und mach es mich glauben; sei mein Freund und gib mir mehr Beweise, Argumente, Ideen, damit ich meinen Text intensivieren kann. Dann alles anzweifeln (auch wenn nicht): Nimm die Haltung eines Feindes an und such Argumente gegen meinen Text, mach glaubhaft, dass du mein Schreiben hasst.
Skeleton feedback and descriptive outline
Skeleton feedback: Leg meine Annahmen über Thema und Adressat sowie meine Argumentationen offen, den Hauptpunkt, die Unterpunkte, die unterstützende Beweisführung. Descriptive outline: Schreib says- und does-Sätze für den Gesamttetxt, dann abschnittsweise. (Ein says-Satz fasst die Meinung oder Botschaft zusammen, ein does-Satz beschreibt die Funktion.)
Criterion-based feedback
Den HörerInnen/LeserInnen Fragen zu spezifischen Aspekten meines Textes stellen, mit denen ich hadere, über die ich mich wundere; ergänzend fragen, was die HörerInnen/LeserInnen als wichtigste Kriterien ansehen, z. B. entlang der traditionellen Kriterien für Essays: Fokus der gestellten Aufgabe, Inhalte (Ideen, Argumentation, Quellen/Unterstützung, Originalität), Organisation des Textes, Klarheit der Sprache, Charakter des Tons.
6. Juni 2016
Feedback gehört zum Schreibprozess 1
,Segeberger Methode’
Im Prinzip ist das ,normale’ auf den Segeberger Jahrestagungen übliche Feedbackprozedere angelehnt an die Methode, die von den Tagungen der Gruppe 47 bekannt ist: Die Autorin, der Autor liest den eigenen Text vor – und schweigt dann, während im freien Gespräch, in harter Debatte der Text von den Zuhörenden besprochen wird. So verfahren wir in der Regel – manchmal aber denken wir uns etwas Komplexeres aus.
Ein großer Unterschied (unter anderen) zwischen der Gruppe 47 und dem Segeberger Kreis ist allerdings, dass die Gruppe 47 sich im Prinzip nur zur Textrezeption traf, während auf den Tagungen des Segeberger Kreises gemeinsam geschrieben wird, um sich dann die Texte vorzulesen, die während dieser selbsterdachten und -gesteuerten Schreibeinheiten entstanden sind.
Auf der Jahrestagung des Segeberger Kreises 2007 in Wolfenbüttel war ich Mitglied der Klein-gruppe „Stil(l)arbeit“, deren Arbeitsprozess ich hier vorstellen möchte: Zunächst tauschten wir (zehn SchreibgruppenleiterInnen und/oder AutorInnen/JournalistInnen) uns über die von den Ein-zelnen bevorzugt angewandten Feedbackmethoden aus. Im Anschluss schrieb jedeR einen nicht zu langen Text zu einem der in der Gruppe vorgeschlagenen Themen Opferbrief, Glück/Pech, Wasser, Veränderung, Drei Nächte lang, Nachtgedanken oder Sport. Diese Texte wurden zweimal kopiert, das Original anonym an einer Pinnwand aufgehängt. Die beiden Kopien wurden verlost, sodass jedeR aus der Gruppe zwei fremde Texte hatte, die sie/er kommentieren/lektorieren/kritisieren sollte, ohne dass die Methode vorgegeben war. Die kommentierten Kopien wurden neben das Original an die Pinnwand gehängt. JedeR nahm seinen Text und die beiden Fremdkommentare und begab sich an die Überarbeitung des eigenen Textes. Parallel zur Bearbeitung sollte eine Art reflektierendes Tagebuch geführt werden unter den Fragestellungen: Was arbeite ich warum ein, welche Vorschläge verwerfe ich? Welche Kritik freut mich, welche ärgert mich? Was haben die KommentatorInnen erkannt, wo war mein blinder Fleck? Was passiert mit meinem Text, was mit mir während der Überarbeitung?
Ich dokumentiere hier meine eigenen nach dem Überarbeiten gemachten reflektierenden Notizen: „Ich bekam zu meinem Text ,Koljas Sommernacht’ Kommentare von Karsten und Ekkehard. Karsten arbeitete mit rotem Stift im Text direkt, monierte einzelne Wörter/Zusammenhänge und machte auch Verbesserungsvorschläge. Ich konnte damit wunderbar arbeiten, habe einiges angenommen (so auch eine sehr konkrete Anmerkung von Ekkehard), anderes nicht – und mich gar nicht geärgert. Mir wurde bewusst, dass es schwer ist, einen Text, der in einen größeren Zusammenhang gehört (Romankapitel), sinnvoll zu kritisieren. Karsten fügte auch noch auf einer ,gelben Karte’ Fragen hinzu, die sich fast alle auf dieses Problem bezogen, bis auf die letzte (...): ,Der Text wirkt auf mich, als sei der Ich-Erzähler weiblich.’ Dieser Punkt brachte mich auf, ich vermutete Rollenklischeedenken bei meinen beiden (männlichen) Kommentatoren, sie unterstellten mir mangelnde Distanz zu meinen weiblichen Erfahrungen als Jugendliche. Zum Schluss (in der mündlichen Nachreflexionsrunde, KA) kam heraus, dass dieser Kolja in meiner Erzählung ein sehr intellektueller Junge mit der Gabe zu ironischer Selbstreflexion ist und dass ich meine Geschichte mal pubertierenden Jungen und Mädchen als TestleserInnen geben sollte. (...)“ (Segeberger Briefe No. 75, 2/2007, S. 27).
Im Anschluss an dieses einen ganzen Tag in Anspruch nehmende Prozedere entwickelten wir in der Kleingruppe Kriterien und Verfahren für Textarbeit, die Kriterien möchte ich hier ebenfalls dokumentieren:
Formales | Äußere Form, Absätze ... Grammatik, Rechtschreibung ... |
Sprache | Stilfragen Klischee vs. Originalität Figurensprache zeigen vs. benennen beschreiben vs. erklären Wiederholungen, Tautologien prüfen |
Textganzes | Erzählperspektive Anfang und Ende Titel Spuren legen Erwartungen schüren und erfüllen vs. Erwartungen brechen Entscheidung vs. Unentschiedenheit Plausibilität, Glaubwürdigkeit Konsistenz, Stimmigkeit Umgang mit offenen Fragen |
Das ,Eigene’ | Ton des Textes Funktion klären Ziel klären(Segeberger Briefe No. 75, 2/2007, S. 28 f.). |
Das Fazit der Gruppe in Wolfenbüttel: „Die kritische Auseinandersetzung mit dem Text ist Zuwendung für den Text“ (Segeberger Briefe No. 75, 2/2007, S. 29).
30. Mai 2016
Collage mal wieder
Mit Zitaten etwas Neues herstellen
Man nehme: vier Nachrichtensendungen oder drei Tierfilme oder alle Werbespots während eines Spielfilms. Man notiere: alles, was eine/n anspringt, Wörter, Begriffe, halbe Sätze, als Zitate, nicht kommentierend. Man schalte den Fernseher, das Radio aus. Man nehme die Zitat-Notizen und collagiere sie zu einem eigenen Text. Es sollten möglichst keine eigenen Sätze hinzugefügt werden. Allerdings darf man das Material grammatisch verändern.
Manchmal wird das Ganze absurdes oder lustiges Flickwerk, manchmal aber öffnet sich über dieses spezielle intertextuelle Arbeiten etwas ganz neues Kohärentes.
2. Mai 2016
Thema Dialoge
aus dem 4. Kasseler Schreibcafé
Am letzten Donnerstag veranstaltete das Netzwerk Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen das 4. Kasseler Schreibcafé im Café am Bebelplatz. Hineinschnuppern ins Kreative Schreiben – das ist die Idee. Den Abend, der dieses Mal unter dem thematischen Schwerpunkt Dialogeschreiben stattfand, gestaltete meine Kasseler Kollegin Jacqueline Engelke, Journalistin und Schreibbegleiterin.
Es ist immer wieder überaus spannend, KollegInnen zu erleben, unter ihrer Leitung eine Schreibwerkstatt zu genießen. Ich reibe mich am Konzept, ich staune, zu welchen Texten bekannte Schreibübungen bei mir führen, wenn ich vorher nicht weiß, dass sie angeboten werden, und ich bekomme Geschenke: Schreibanregungen, die ich noch nicht kenne. Hier also will ich eine vorstellen, die mich besonders angesprochen hat: ein Akrostichon-Dialog.
Schreiben Sie die Buchstaben des Wortes DIALOG untereinander und füllen dann die sechs Zeilen mit einem Dialog von zwei Stimmen. Mein (etwas dadaistisch und etwas mundartlich anmutendes) Ergebnis:
Dä, ähh, nääää
Igittigittigitt
Alszus, widder un widder
Lieberhenne, nää
Ohje ohje ohje
Grad jetze, dä!
11. April 2016
Wer bin ich?
Anagramme machen
Vielleicht kennen Sie Unica Zürn (!916–1970), die große Meisterin der Anagramme. Hier eines ihrer überlieferten 123 Anagramm-Gedichte:
Tausend Zaubereien
Ei, zarte Sünden bau:
reizende Tauben aus
Zundertau. Eine Base
aus Reizdaunen bete
an. Zuende Staubeier
aus, in Zaubertee. Den
Zebus traue an deine
Busenzierde. Taue an
Eisabenden Azur. Tue
in den Zaubertausee
tausend Zaubereien.
Unica Zürn hat um 1960 in Paris, wo sie auch in Beziehung zu den Surrealisten rund um André Breton und Hans Arp stand, begonnen, Anagramme zu schreiben, nachdem sie zuvor schon als Grafikerin hatte von sich reden machen können (u. a. war sie mit Zeichnungen auf der Documenta II in Kassel vertreten).
Vielleicht wollen Sie selbst einmal Anagramme machen? Es gibt echte wie das oben dokumentierte Gedicht, bei denen in jeder Zeile exakt die gleichen Buchstaben und nur diese vorkommen wie in der Ausgangszeile. Und es gibt unechte Anagramme, bei denen man zuerst aus dem vorgegebenen Buchstabenmaterial so viele Wörter bildet, wie man finden kann, ohne auf die Anzahl der verwendeten Buchstaben zu achten.
Versuchen Sie einmal echte Anagramm-Zeilen zum Wort WIEDERHOLEN.
Versuchen Sie einmal ein unechtes Anagramm-Gedicht zur Frage: WER BIN ICH?
14. März 2016
Umkreisen
Eine Sprache finden durch Wiederholungen
Auf der Suche nach Methoden, um eine Sprache oder zunächst Wörter für das zu finden, was mich umtreibt, was mich sprachlos macht, wofür ich aber so dringend eine Sprache oder zumindest Wörter finden will, habe ich verschiedene Methoden ausprobiert. Und will eine hier beschreiben und zur Nachahmung empfehlen.
Auf der Suche nach einer Sprache für etwas, was sprachlos macht, kommen Wörter zu Ihnen. Nehmen Sie eines davon und schreiben Sie Texte, immer ausgehend von diesem einen Wort. Wiederholen Sie das Wort, so oft es geht. Schreiben Sie wilde Wiederholungstexte, schreiben Sie Elfchen mit dem Wort als erstem, schreiben Sie mit sanfter, mit wilder Musik im Hintergrund, immer das eine Wort im Fokus habend, es wiederholend, es umkreisend, es schmeckend, riechend, sehend, hörend. Nehmen Sie das Wort mit in Ihre Morgenseiten, in Ihr Tagebuch. Und wiederholen Sie es. Dann wird es sich entfalten, es wird andere Wörter herbeirufen, es wird sich etwas in Ihnen öffnen, eine Sprache, vielleicht für die Frage, die Sie mit dem Wort verbunden haben.
7. März 2016
Üben, schreiben, üben, schreiben
und vertrauen
„Wir sind so ungeübte Schreiber, weil wir so viel Zeit damit verschwenden, mitten im Satz anzuhalten und uns über das Geschriebene Gedanken zu machen.“ (Peter Elbow) Peter Elbow ist derjenige Schreiblehrer, der in den USA Anfang der 1970er Jahre als einer der Ersten das zunächst einmal unsortierte, einfach den Stift in Bewegung haltende Schreiben als hilfreiche Methode für alle Arten von Schreibaufgaben oder -vorhaben beschrieben hat. Freewriting heißt es seitdem. Und es hilft. Und es befreit.
29. Februar 2016
Schichtungen
Versuch, ein Thema sprachlich zu fassen
Seit einiger Zeit versuche ich, die Gleichzeitigkeit meines Luxuslebens und des Lebens der Anderen (derer auf der Flucht, im Krieg, in Diktaturen usw. usf.) zu fassen. Bisher ist mir kein Text gelungen. Nur diese Arbeit, die entstand nach einer Woche Kreativem Schreiben Sylt, in der das Privilegiert-Sein noch deutlicher zum Vorschein trat als zuhause, zu der auch die Präsenz des Meeres beitrug: das mich zu philosophischen Traktaten auf Papier bringt und anderswo Menschen verschluckt und tot wieder ausspuckt (und da ist sie wieder, die Sprachlosigkeit, die mich dann auch noch manchmal textlich dazu führt, dass ich das Meer als böses Ungeheuer personifiziere ...).
8. Februar 2016
100 Jahre Dada
Dada selber machen
Am 5. 2. 1916 wurde Dada gegründet und rasch zur europaweiten Bewegung gegen Denkschranken und für die Befreiung der Künste von Vorschriften und Grenzsetzungen. Neben der explizit antibürgerlichen und Antikriegs-Haltung ging es der Bewegung auch um die Rückbesinnung auf die Grundelemente der Sprache: Buchstaben, Laute, Zeichenzusammenfügungen. Einer der Gründer und Protagonisten war der Deutsche Hugo Ball (er stammte aus Pirmasens). Sein Gedicht Karawane von 1917 hat Weltruhm erlangt und kann zu eigenen Sprach-Experimenten anregen. Man könnte selbst Wörter einer Kunstsprache erfinden, man könnte auch – was Richard Huelsenbeck in seiner Gestaltung von Balls Gedicht ja tut – Schlagzeilen zu einem Gedicht collagieren.
aus: Raoul Hausmann: Am Anfang war DADA, Anabas Verlag, Gießen 1992 (1980)
18. Januar 2016
Schreiben als reflexive Praxis
Listen zum Schreiben
Schreiben hat viele Funktionen. Eine Funktion ist die reflektierende, die klärende. Schreiben kann – auch wenn ich keine begeisterte Fabuliererin oder Essayistin bin, auch für mich nützlich sein, unabhängig davon, in welchem Bereich ich es als Reflexionsinstrument einsetze.
Machen Sie Listen:
- Was ich schreibe
- Was ich nicht schreibe
- Was ich gerne, mit Vergnügen, lustvoll schreibe.
Nach dem Listen-Schreiben könnte eine weiterführende Frage lauten: Was kann ich aus den Erfahrungen aus Liste 3 zum Beispiel in die Schreibstunden mit hineinnehmen, in denen ich mich quäle?
21. Dezember 2015
Das Jahr war gelb
Und das nächste wird orange?
Schreib einen autobiografischen Text oder eine fiktive Geschichte: „Ein (z. B.) blaues (oder gelbes) Jahr geht zuende ...“ Wenn möglich, nenn die Farbe nicht (ständig), sondern versuch, eine blaue oder gelbe Stimmung zu erzeugen. Und vielleicht wagst du auch einen Ausblick auf die Farbe des nächsten Jahres ...
Variante: Schreib einen Text, der ausschließlich aus einsilbigen Wörtern besteht: „Das Jahr war gelb ...“
7. Dezember 2015
Pablo Neruda
Das Buch der Fragen
Der berühmteste chilenische Dichter des 20. Jahrhunderts, Pablo Neruda (1904–1973), hat sich auch damit befasst, wie Menschen, insbesondere kleine Menschen, in ihrem kreativ-fantastischen Potenzial gestärkt werden können. In seinem Buch der Fragen verweigert er sich der rationalen Sicht auf die Welt, integriert das Wundern der Kinder und die Erfahrung des Erwachsenen und führt die Lesenden in ein Jenseits von Begründungen und ermöglicht so plötzliche Intuition und lustvolle Imagination. Mit seinen Fragen hat er mit Kindern im Grundschulalter kreative Schreibstunden verbracht – Sie können das ebenfalls, indem Sie einfach intuitiv und lustvoll auf die folgenden (von mir aus ca. 300 ausgewählten und übersetzten) Fragen antworten:
- Warten noch nicht vergossene Tränen in kleinen Seen?
- Wenn die gelbe Farbe ausgeht, mit was werden wir unser Brot backen?
- Wettet der Leopard auf den Krieg?
- Wie viele Bienen gibt es an einem Tag?
- Warum attackiert der Hai nicht die bronzenen Sirenen?
- Warum schreien Wolken so viel, wenn die glücklicher und glücklicher wachsen?
- Welcher gelbe Vogel füllt sein Nest mit Zitronen?
- Warum lehrt man nicht die Hubschrauber, Honig aus Sonnenlicht zu gewinnen?
- Wo lässt der Vollmond heute Nacht seinen Mehlsack?
- Wo sind all die kuchensüßen Namen des vergangenen Jahres?
Wie man mit dem Buch der Fragen mit Kindern arbeiten und wie man Fragen und Antworten grafisch gestalten kann, hat Eva Maria Kohl in ihrem Buch zum freien und kreativen Schreiben mit Kinder SCHREIBSPIELRÄUME dokumentiert.
9. November 2015
Selfie ohne Kamera
Du heute, an einem Ort, mit ...
Bleib stehen oder sitzen, an einem Platz, der dich anspricht, mit dem du eine Verbindung spürst, an dem du dich einen Augenblick aufhältst, um ein Selfie zu machen (das ist der Begriff für ein Foto, das du mit einer Kamera von dir selbst machst, manchmal mit einer weiteren Person, einer privat bekannten oder einer öffentlichen). Hier geht es um ein Text-Selfie. Du kannst dich an folgenden Fragen beim Schreiben orientieren:
Wo bin ich, welcher Tag ist heute und wie spät ist es?
Was sieht man auf dem ,Foto’, was sieht man von mir, wie sehe ich aus, wie schaue ich?
Wie fühle ich mich? Sieht man das auf dem Foto?
Was ist noch zu sehen, neben mir, über mir, im Hintergrund?
Warum mache ich genau dieses Selfie und gerade an diesem Ort?
2. November 2015
Zettelwirtschaft
Fragment-Archiv mit Wörterbuch
Nehmen Sie eins der folgenden Wörter, die unter dem Buchstaben A im ersten deutschen Wörterbuch stehen, an dem die Brüder Grimm jahrzehntelang arbeiteten – um dann doch nur bis Froteufel zu kommen. Nehmen Sie den Begriff und schreiben Sie einen Zetteltext auf ein postkartengroßes Blatt, dann nehmen Sie den nächsten, dann wieder den nächsten. Beschreiben Sie die Zettel jeweils nur auf einer Seite.
Hier die Begriffe: abäugeln, abbamsen, abbacken, abbaden, abbalgen.
Genauso gut wie mit den alten Begriffen können Sie mit sprachlich aktuellen arbeiten, indem Sie einfach mit dem Finger in einen Duden stechen und ein Zettelfragment zum getroffenen Wort schreiben, dann das nächste, dann wieder das nächste. Sie können sich auf diese Weise auch ein Fragment-Archiv anlegen, um später vielleicht etwas daraus in einem längeren Text zu verarbeiten.
7. Oktober 2015
Woraus Geschichten gemacht werden
Die Masterplots nach Ronald B. Tobias
Vielleicht ist es zunächst irritierend, aber bei der Such nach weiteren bin zumindest ich nicht fündig geworden. Ronald B. Tobias hat in der Weltliteratur nur 20 Plots gesichtet, d. h. dass seiner Meinung nach jede Erzählung, jede Kurzgeschichte, jeder Roman, also jeglicher Prosatext einem der folgenden 20 Plots folgt.
Suche (quest); Abenteuer (adventure); Reif werden (maturation); Innere Wandlung (transformation); Äußere Wandlung (metamorphosis); Aufstieg (ascension) und Abstieg (descension); Das Extreme und Exzessive (wretched excess); Liebe (love); Verbotene Liebe (forbidden love); Rivalität (rivalry); Der Unterlegene (underdog); Versuchung (temptation); Opfer (sacrifice); Rache (revenge); Verfolgung (pursuit); Flucht (escape); Rettung (rescue); Rätsel (the riddle); Entdeckung (discovery) (vgl. Fritz Gesing: Kreativ schreiben, S. 103 ff.).
Nun kann man also andersherum vorgehen und sich einen Plot aussuchen und eine Erzählung damit schreiben. Es empfiehlt sich, vorher vielleicht noch eine Prämisse aufzustellen. Ein Prämissen-Beispiel für den Plot „Suche“: Jede Suche endet damit, dass man am Ende aufhört zu suchen, ob man etwas gefunden hat oder nicht.
7. September 2015
Das Prinzip Hoffung
Eine Vision schreibend denken
Ernst Bloch soll hier nicht Impulsgeber sein, sondern der Künstler Joseph Beuys, der mehrfach Teilnehmer an der Documenta in Kassel war und hier mit Kunstwerken in Museen und mit dem öffentlichen Projekt Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung oder auch 7000 Eichen das Bild der Stadt nachhaltig verändert hat. Auch darin ist schon eine Vision zu sehen. Explizit hat er sich auch zur Zukunft geäußert, tatsächlich ähnlich wie Bloch oder Adorno. Folgender Satz von Beuys (dessen Quelle ich nicht ausfindig machen konnte) soll Anregung sein, inne zu halten und eine Vision schreibend zu denken: „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“
10. August 2015
Ein Sommergedicht
Mit allen Sinnen schreiben
Es ist August, die Sonne scheint, viele von uns genießen das Draußen-, das In-der-Natur-Sein, da kann man schon mal die Krisen und deren Wahrnehmung auf abends verschieben – und ein Gedicht schreiben (in das sich dann vielleicht doch eine Krise einschleicht). Ein Gedicht mit allen Sinnen zu schreiben, das geht natürlich auch einfach so, hier aber soll eine sehr strukturierte Anleitung gegeben werden, die zu erstaunlichen Ergebnissen führen kann. Ich habe sie im Schreibzentrum der Viadrina (Europa-Universität) in Frankfurt-Oder 2012 kennen gelernt:
Schreiben Sie ein Gedicht, indem Sie erst einmal folgende Fragen beantworten (das ist noch nicht das Gedicht):
Worüber schreibe ich? = Überschrift
Wie sieht es aus?
Wie schmeckt es?
Wie hört es sich an?
Wonach riecht es?
Wie fühlt es sich an?
Dann fügen Sie die Antworten zu einem Gedicht mit Überschrift und fünf Zeilen (es muss sich nicht reimen, darf aber).
20. Juli 2015
Ein Favorit
Unter dem Tuch
Wenn TeilnehmerInnen aus meinen Kurse gefragt werden, wie eine Schreibwerkstatt so abläuft, dann sagen sehr sehr viele: „Also, am Anfang, da liegt ein buntes Tuch auf dem Tisch, und unter dem Tuch ist etwas versteckt, und kuru vor dem Schreiben hebt die Kirsten das Tuch hoch, und – oh! Überraschung! Und alle schreiben los, und allen fällt was Anderes ein, auch wenn ja der Gegenstand derselbe ist. Das mit dem Tuch ist immer wieder das Beste!“
Lassen Sie sich von jemandem etwas unter einem Tuch verstecken, setzen Sie sich voller Erwartung hin, lüften das Tuch – und schreiben Sie los.
13. Juli 2015
Die Krise schreiben
In sieben Sätzen zur Integration
Während der letzten Segeberger Jahrestagung (März 2015 in Fuldatal) schrieben die Teilnehmenden in sechs Gruppen zum Thema Krise. U. a. diente eine Kurve aus dem Kontext Veränderungsmanagement als Schreibanregung.
In meiner Arbeitsgruppe (Krisen kurz gefasst) entwickelten wir dazu folgende einfache Schreibaufgabe: Schreib zu einer beliebigen (persönlichen) Krise (Partner hat Affäre, Kündigung, Insolvenz, Kind bleibt sitzen ...) einen Text mit sieben Sätzen, die sich an die sieben Schritten des o. g. Krisenverlaufs orientieren, also jeweils einen Satz zu Schreck, Verneinung, Einsicht, Annahme, Ausprobieren, Lernen und Integration.
Ein Beispiel aus der Tagungsgruppe:
Affäre mit der Kollegin
Schreck: Sie ist es, sie ist also die Andere.
Verneinung: Sie ist es nicht, es ist meine Eifersucht.
Einsicht: Sie ist es, die er meint.
Annahme: Er ist es, und ich lebe vielleicht doch.
Ausprobieren: Ich bin es, die weint, tobt, geht, bleibt.
Lernen: Ich bin es, die in den Spiegel schaut.
Integration: Ich bin es, ich also bin es.
Der Sieben-Zeilen-Text ist vielleicht fertig, kann aber auch als Gerüst, als Plot dienen, um die Geschichte auszuweiten.
29. Juni 2015
Nicht festkleben
Mehrversionenschreiben
Nicht nur im Kontext wissenschaftliches Schreiben, aus dem diese Anregung stammt, ist es ratsam, in Betracht zu ziehen, dass die aktuelle Fassung eines Textes möglicherweise nicht die einzig denkbare, nicht die ausgereifteste, nicht die endgültige ist. Um das herauszufinden, kann man einmal mit einem nicht allzu langen Text (ca. ein bis zwei Normseiten) ein Experiment machen: das Mehrversionenschreiben nach Peter Elbow.
Nehmen Sie sich vier Stunden Zeit. Schreiben Sie in den ersten 45 Minuten eine erste Fassung, anschließend fassen Sie in 15 Minuten das Geschriebene zusammen und reflektieren: Was ist entstanden, was zeigt sich, was ist gut? In der nächsten Stunde entsteht eine zweite Version mit wiederum 15 Minuten schriftlicher Reflexion. Das Prozedere wiederholt sich dann noch zweimal. Sie werden erstaunt sein über Ihre Erkenntnisse, Ihr Schreiben, Ihre Texte ... (nach Peter Elbow: Writing without Teachers, 1973/1998, gefunden bei Katrin Girgensohn: Neue Wege zur Schlüsselqualifikation Schreiben. Autonome Schreibgruppen an der Hochschule, Wiesbaden 2007).
8. Juni 2015
Der Blick auf die Hauptfigur
Aus unterschiedlichen Perspektiven
Aus einem Schreibseminar bei Charles Lewinsky (über das ich von meiner langjährigen Schreibschülerin Christa Müller einen ausführlichen Bericht bekam) stammt folgende Schreibanregung: Sie haben eine vage Vorstellung von einer Hauptfigur – oder bereits eine umfassende Skizze angefertigt. In jedem Fall wird die Figur plastischer, zunächst einmal für Sie selbst, wenn Sie sie beschreiben aus der Sicht
- des kauzigen Nachbarn
- der Bäckerin; wo sie immer ihre Brötchen kauft
- der Briefträgerin, die weiß, was sie so an Briefen bekommt
- einer Austauschschülerin
- einer früheren Lehrerin beim Ehemaligentreffen
- eines Kindergartenkindes, Kind der Nachbarn
- eines Polizisten auf der Wache, der Beschwerden annimmt
- eines Anhänger einer Sekte, der an der Tür klingelt
- etc.
Sie können die Beschreibungen neutral verfassen oder in der Ich-Form verfassen, z. B. als Monolog oder als Brief. Vielleicht lässt sich die eine oder andere Beschreibung dann sogar (in Auszügen) für ihre Geschichte verwenden. Auf jeden Fall wird Ihre Figur vielschichtiger, widersprüchlicher und Ihnen bekannter.
18. Mai 2015
Zwei-Sätze-Texte
Ein oulipistisches Experiment
Ich weiß nicht mehr, wann und mit wem ich diese Übung das erste Mal gemacht habe (es könnte meine Kollegin Carmen Weidemann gewesen sein) – aber seither könnte ich sie (fast) in jeder Schreibwerkstattstunde machen. Man nehme: zwei Sätze (aus eigenen Texten oder aus der Literatur). Man nehme: die Wörter dieser beiden Sätze. Und sonst kein weiteres Wort. Alle Wörter, die Sie zur Verfügung haben, dürfen Sie so oft verwenden, wie Sie wollen. Sie dürfen die Wörter auch beugen, aber: Es darf kein einziges neues Wort hinzukommen.
Manchmal entsteht etwas Lyrisches, manchmal etwas Surrealistisches, manchmal kreist man um ein zentrales Thema, das eins der zur Verfügung stehenden Wörter auslöst ... Lassen Sie sich fort-, um den Brei herum, mitten rein und wieder zurücktragen!
11. Mai 2015
Miniversität
Was Sie alles wissen!
Eine meiner Lieblingsübungen in großen Gruppen, die sich zwar schon kennen, aber länger nicht gesehen haben, ist die Übung Miniversität. Ich habe sie nicht selbst erdacht, weiß aber nicht mehr, von wem ich sie quasi geschenkt bekam. Sie geht so: Sie stellen sich vor, über welche Themen Sie aus dem Stegreif ein zehnminütiges Referat halten könnten. Sie machen eine Liste mit all diesen Themen, denen Sie auch schon Titel geben. Alle Themen sind erwünscht, Themen aus dem beruflichen, dem häuslichen und dem – ich nenne ihn mal – Hobby-Kontext. Es geht bei dieser Übung darum, mir bewusst zu machen, über welche Ressourcen ich verfüge. Ich könnte daran anknüpfen ... Zumindest aber bekomme ich ein gutes Gefühl. Und in der Gruppe beim Vorlesen erfahre ich Erstaunliches.
Als Beispiel: Meine Miniversität vom 11. 4. 2015
Sockenstricken mit drei Nadeln
Die angloamerikanische Short Story und die deutsche Kurzgeschichte
LRS – das Leben als Mutter
Mehrfachbeziehungen: Visionen und Realitäten
Die Kommune Niederkaufungen
Die Domänen des Kreativen Schreibens
Curry-Sahne-Soße ohne Sahne
Yoga und Schreiben, yogisches Schreiben
Lücken im Lebenslauf
Der Segeberger Kreis
Wie Konzepte beim An-die-Wand-Starren aufblitzen
Das Fagott
Eine Pressemitteilung schreiben
Die Segnungen der deutschen Grammatik
Freewriting vs. Automatisches Schreiben
Glücklich leben mit Brustkrebs
18. April 2015
Günter Grass ist tot
Zwei Schreibanregungen
Günter Grass ist am 13. April 2015 gestorben. JedeR verbindet wohl etwas mit diesem Schriftsteller. Ich verbinde mit Günter Grass den Adamsapfel eines seiner Roman(anti)helden, der mich diese Schullektüre (Katz und Maus) hat verabscheuen lassen. Ich verbinde mit Günter Grass Die Blechtrommel, die ich in der Verfilmung von Volker Schlöndorff kurz nach meinem Abitur gesehen habe, jenseits der allerersten Szene am Kartoffelfeuer ist vor allem die Szene in mir unauslöschlich, in der Angela Winkler sich beim Anblick von Aalen, die aus einem verwesenden Pferdekopf kriechen, übergeben muss. Ich verbinde mit Günter Grass das Buch, in dem er kurze Prosastücke selbst illustriert hat (Mein Jahrhundert) und in dem ein seltsam flacher und gleichzeitig berührender Text über Wuppertal Platz hat. Ich verbinde mit Günter Grass, dass er nicht geantwortet hat, als ich ihn vor ein paar Jahren als Schirmherr für den Nordhessischen Autorenpreis gewinnen wollte. Ich verbinde mit Günter Grass den Mut, etwas Unpopuläres zu schreiben, öffentlich. – Bilder in mir, Erinnerungen, die zu Autobiografischem, zu Essayistischem ausgebaut werden könnten ... Was verbinden Sie mit Günter Grass? Schreiben Sie es auf.
Eine zweite Schreibanregung: Hier finden Sie fünf Anfänge von Texten von Günter Grass. Lassen Sie sich von diesen inspirieren zu Erzählungen oder autobiografischen Texten oder ...
- Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt [...]
- Nach den Worten unseres Gastgebers war ein Orkantief von Island in Richtung Schweden unterwegs.
- Wie wir einander, Anna und ich [...]
- Das Seminar schien befriedet, ich aber blieb in Unruhe.
- Als wir, von Berlin kommend [...]
15. März 2015
Kreatives Schreiben –
Nabelschau oder Welt im Blick?
Weder das eine noch das andere: Kreatives Schreiben nimmt die Welt in den Blick, und die Welt, das ist der Bauchnabel, das ist die Ukraine, das sind die Kriegserzählungen des Großvaters, das ist der Bandscheibenvorfall des Sohnes, das ist Fukushima, das ist die lange Beckett-Lesenacht, das ist meine Suche nach den richtigen Wörtern. Und auch gilt der .alte Spruch der Frauen der 1968er Bewegung: Das Private ist politisch, also ist alles ,Welt’ und öffentlich und nichts einfach nur meine Sache. Wie aber kann man das dann schreibend ausloten? Hier eine Idee: Schreiben Sie einen Tagebuch-ähnlichen Text rund um den Bauchnabel, frei, ohne vorherige Festlegung einer Form. Dann schreiben Sie einen Kommentar zu einem Sie bewegenden öffentlichen, kultur-, sozial- oder weltpolitischen Ereignis. In einem dritten Schritt schneiden Sie beide Texte in Abschnitte auseinander und setzen sie, die Absätze aus dem ersten Text mit den Absätzen aus dem zweiten Text abwechselnd, wieder zusammen.
2. März 2015
Wir waren auf Sylt
Meine Lieblingsschreibübung der letzten Woche
Eine Woche Meer schreiben! Ein Luxus. Für die Teilnehmenden, für mich. Eine Woche Inspirationen aus der imposanten Landschaft, vor allem im Listland, jenseits der touristischen Zentren der Insel Sylt. Meine Lieblingsübung der vergangenen sieben Tage hier als Schreibanregung:
Inspiriert vom Buch Literatur in fünf Minuten (Roberta Allen) und passend zur Fastenzeit haben wir an einem Morgen als erste Schreibübung vier Drei-Minuten-Texte geschrieben. Nach jeweils drei Minuten sagte ich Stopp und gab den nächsten Impuls. Auf Sylt waren es: Wüste, meinwärts, grundlos vergnügt, Quelle meiner Kraft. Bei Nachahmung ist es sinnvoll, sich entweder von einer anderen Person nach und nach vier Begriffe geben zu lassen oder blind in ein Buch zu tippen und das Wort zu nehmen, auf das der Finger stieß. Es geht bei dieser Übung nicht darum, etwas Fertiges herzustellen, sondern sich dem zu überlassen, was der Impuls auslöst. Es entsteht möglicherweise dabei eine Idee für einen Text ...
9. Februar 2015
Fragment schreiben 2
Blütenstaubfragment – nach Novalis
Stephan Porombka (Universität Hildesheim) schreibt: „[...] Es wäre deshalb völlig falsch, das Schreiben von Fragmenten als sinnlose Ausschussproduktion zu verstehen, die man sich eigentlich auch sparen könnte, wenn man sich nur gleich darauf konzentrieren würde, etwas Brauchbares aufs Papier zu bringen. Wer schreibend nach ,Brauchbarem’ sucht, um gleich das ;Unbrauchbare’ auszusortieren, schaltet Kontrollinstanzen ein, die beim Schreiben von Fragmenten ausgeschaltet bleiben sollen. Was man am Ende brauchen kann, weiß man ja nicht. [...] Fragmente sind Experimente. Jedes Fragment ist ein Anfangsverdacht, eine erste Ermittlung, eine erste Frage, eine erste Antwort. Sie sind Ergebnis eines leicht rauschhaften Zustands, in den sich der Schreibende durchs Schreiben bringt, um zu schwärmen, zu übertreiben, zu spinnen, zu riskieren, zu testen [...]“ (Porombka 2007, S. 29 f.). Porombka bezieht sich in seinem Aufsatz auf die poetische Idee des Fragmentarischen, die auf die Romantiker, genauer auf den Jenaer Kreis und im Speziellen auf Novalis zurückgeht. Das Fragment als vorläufiges Produkt des anderen Texten und Gedanken begegnenden intertextuellen Arbeitens und Ausprobierens, des immerwährenden Um- und Weiterschreibens im Labor des nie vollendeten Lebens. Novalis schreibt ein seinem 65. Blütenstaubfragment: „Alle Zufälle unseres Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. [...]“ (zit. nach Porombka 2007, S. 35).
Nehmen Sie einen Zufall aus Ihrem Leben. Von heute, von gestern, von 1991. Und schreiben Sie ein Blütenstaubfragment.
Stephan Porombka: Für wahre Leser und erweiterte Autoren. Novalis: Blütenstaub-Fragmente [1798]. In: Stephan Porombka, Olaf Kutzmutz (Hg.): Erst lesen. Dann schreiben. 22 Autoren und ihre Lehrmeister, München 2007, S. 23–35
31. Januar 2015
Fragment schreiben 1
Fragmente als Mitten – nach Lorenz Hippe
Lassen Sie sich drei Wörter schenken von der Person, die gerade neben Ihnen sitzt. Wenn da keine ist, schlagen Sie ein beliebiges Buch an drei Stellen auf, tippen auf je ein Wort. Oder Sie nehmen Ihren zuletzt geschrieben Text und nehmen die ersten drei dreisilbigen Wörter. Diese drei Wörter (beliebiger Wortarten) sind Ihr Grundmaterial, mit dem Sie zunächst ein Fragment schreiben. Sie schreiben drei Minuten. Dann lassen Sie den Stift fallen, spülen, gehen eine Runde spazieren, telefonieren, schreiben etwas Anderes ... Anschließend nehmen Sie sich Ihr Fragment wieder vor, dieses ist nun der Mittelteil einer kleinen Erzählung. Schreiben Sie einen in etwa genauso langen Teil davor und dann einen in etwa genauso langen Teil danach. Fertig ist Ihre Kürzest-Erzählung.
Zur Arbeit mit Fragmenten empfehle ich das voller Schreibanregungen steckende Buch meines Kollegen, des Theaterpädagogen Lorenz Hippe: Und was kommt jetzt? Szenisches Schreiben in der theaterpädagogischen Praxis, Weinheim 2011
19. Januar 2015
Binde deinen Karren an einen Stern
Eine Aufforderung zum ermutigenden Schreiben
Es ist nicht so einfach, ,auf Kommando’ Texte zu schreiben, die selbst- oder fremdermutigenden Charakter haben. Im Fachbereich des heilsamen oder therapeutischen Schreiben existieren vielerlei Anregungen. Heute will ich einen Satz als Schreibanregung hierher stellen, der an sich schon ermutigenden Charakter hat. Er passt gut auch gut zum noch jungen Jahr: „Binde deinen Karren an einen Stern!“
Der Satz stammt von Leonardo da Vinci und ist der Titel eines 2000 im Herder Verlag erschienenen Buches von Jörg Zink und Meinolf Kraus. Vielleicht führt die in ihm enthaltene Aufforderung zum Blick auf etwas Leuchtendes im Schwarzen. Der Satz kann natürlich auch zu etwas ganz Anderem führen, als ich mir das so vorstelle. Das ist dann natürlich auch vollkommen richtig.
29. Dezember 2014
Was brauchst du?
Friederike Mayröcker zu Ehren
Am 20. Dezember ist Friederike Mayröcker 90 Jahre alt geworden. Die Gedichte und Prosa-Stücke der österreichischen Dichterin sind nicht immer leicht zu verstehen, aber einige Texte verwende ich seit Jahren als Anregungen in Schreibwerkstätten. So nun also hier zu ihren Ehren folgende Anregung, die auch zum kommenden Jahreswechsel passt, der ja doch – ob man es will oder nicht – zum Resümieren und Vorausblicken auffordert.
Man kann sich erstens anregen lassen durch den Titel des Gedichts und Wesentliches versuchen zu filtern; man kann zweitens die Form, die ja etwas Aufzählendes hat, nachahmen; eine dritte Möglichkeit ist, zwischen die Zeilen Mayröckers jeweils eine eigene Zeile zu setzen, also eine Montage herzustellen.
was brauchst du
was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie grosz wie klein das Leben als Mensch
wie grosz wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie grosz wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel
15. Dezember 2014
Die Hosentaschenbohnen
Eine Blicklenkungsübung
In Vorbereitung auf das Schreibwochenende im Kloster Germerode (5. bis 7. 12. 2014) habe ich mich an eine Geschichte erinnert, die ich mal gehört hatte, irgendwas mit Steinen oder Bohnen, die von einer Hosentasche in die andere wandern sollen ..., und habe sie gefunden:
Die Glücksbohnen
Es war einmal ein Bauer, der steckte jeden Morgen eine Handvoll Bohnen in seine linke Hosentasche. Immer, wenn er während des Tages etwas Schönes erlebt hatte, wenn ihm etwas Freude bereitet oder er einen Glücksmoment empfunden hatte, nahm er eine Bohne aus der linken Hosentasche und gab sie in die rechte.
Am Anfang kam das nicht so oft vor. Aber von Tag zu Tag wurden es mehr Bohnen, die von der linken in die rechte Hosentasche wanderten. Der Duft der frischen Morgenluft, der Gesang der Amsel auf dem Dachfirst, das Lachen seiner Kinder, das nette Gespräch mit einem Nachbarn – immer wanderte eine Bohne von der linken in die rechte Tasche.
Bevor er am Abend zu Bett ging, zählte er die Bohnen in seiner rechten Hosentasche. Und bei jeder Bohne konnte er sich an das positive Erlebnis erinnern. Zufrieden und glücklich schlief er ein – auch wenn er nur eine Bohne in seiner rechten Hosentasche hatte.
„Sich auf das zu konzentrieren, was im Leben gut ist, statt nur auf die Probleme zu starren, verändert innerhalb weniger Wochen die gesamte Wahrnehmung und die Lebenseinstellung“, schreibt die Tiefenpsychologin Dr. Elisabeth Mardorf und empfiehlt, ein Dankbarkeitstagebuch zu führen. Das ist die Idee: Es geht nicht darum, etwas zuzukleistern, unter den Teppich zu kehren oder umzuinterpretieren, sondern viele kleine Glücke vor das große Drama (jedeR hat eins) zu stellen. Also, vielleicht einfach mit drei Bohnen anfangen und abends sich schreibend an die Glücksbohnenmomente erinnern.
Weiterführendes zu den Formaten Freuden- und Dankbarkeitstagebuch lässt sich bei diversen AutorInnen finden, die sich mit der Heilkraft des Schreibens befassen, u. a. bei Luise Reddemann.
12. Dezember 2014
Auf dem ICH-Sockel
Kassel hat mehr zu bieten als den Bergpark
Gegenüber vom Brüder-Grimm-Platz, auf der Wiese vorm Hessischen Landesmuseum, eine Gehminute vom Kasseler Rathaus entfernt – da gibt es einen recht unscheinbaren Sandsteinsockel. Es ist so einer, auf dem eigentlich eine Statue oder Büste stehen könnte. Der Platz auf dem Sockel aber ist leer. Und dort, wo (im Falle von Statue oder Büste oben) eingemeißelt ist, um wen es sich dort oben denn handelt, steht das Wort ICH. Hinter dem Sockel gibt es ein Treppchen, man kann also bequem hinaufsteigen und sich auf dem Sockel positionieren. Und hinspüren. Wie stehe ich? Als was stehe ich? Wie halte ich meine Arme, wohin zeigen meine Füße? Was will ich demonstrieren? Will ich auf einem Sockel stehen? Wenn ja, für was? Und unweigerlich die Frage: Wer ist eigentlich dieser Mensch, der sich Ich nennt? Vielleicht findet man schreibend eine Antwort (oder mehrere), wenn man wieder heruntergeklettert ist.
Fotos zu machen, ist auch spannend. Hier zwei von mir, aus den Jahren 2007 und 2012.
27. November 2014
E-Mail-Vernetzung
Fluch und Segen
Im Telefonat einig mit Guido Rademacher: Die Vernetztheiten – auch wenn man kein Handy hat und nicht bei Facebook & Co. unterwegs ist – sind ein Fluch. Gerade heute Morgen habe ich erst einmal 90 Minuten E-Mails bearbeitet, bevor ich anfangen konnte, mich meinen Projekten zu widmen. Einfach alles wegklicken – das geht ja nicht. Das hat man dann von der schnellen und einfachen Kommunikation (es ist ja nicht so, dass ich keine Massenmails verschicken würde, auf die dann 30 Leute freundlicherweise auch reagieren, von denen ich dann wieder auf 15 reagieren muss usw.).
Und dann, als ich mich gerade den studentischen Arbeiten widmen wollte, bekam ich eine Mail von Heike Lange, die mich berührte und meinen E-Mail-Frust sofort vergessen ließ: „... weil ich bei Dir zwei große Stärken sehe. Ich finde Du kannst Schreibübungen gut verständlich zusammen fassen, schriftlich erklären, nicht so lapidar, wie andere! Ebenso haben mir, aber immer deine ,Werke’ und Texte von Dir gefallen. Sie sind für mich deine zarte, sinnliche Seite ...“
Ich sollte vielleicht wieder die Regel einführen, dass ich nur morgens eine Stunde und noch mal mittags eine Stunde das E-Mail-Programm eingeschaltet habe ... Und die Notwendigkeit mancher Massenmail und mancher Mitgliedschaft in Verteilern noch mal überdenken ...
6. Oktober 2014
Ein Satz und zehn Texte
20 Minuten in einer Schreibwerkstatt
Eine ganz normale Sache in einer Schreibwerkstatt: Die Schreibgruppenleitung gibt einen Satz vor, woher auch immer er stammt, den sollen alle als Überschrift oder als Anfangssatz für einen eigenen Text nehmen. Die Schreibzeit beträgt 20 Minuten, dann wird vorgelesen, das, was an Fragmentarischem in diesen 20 Minuten entstanden ist. Und das, was da vorgetragen wird, lässt mich – die Schreibgruppenleitung – jede Woche mehrfach (in diversen Schreibwerkstätten) staunen. So unterschiedlich wie die Teilnehmerinnen sind auch die Texte, aber vor allem ist es die Bandbreite, die Vielfalt der zutage tretenden Bilder, die Verknüpfung mit Autobiografischem, die Lust am Erzählen, die mich begeistern.
Am 18. September 2014 gab ich als Anfangsimpuls den ersten Satz aus Felicitas Hoppes Kurzgeschichte Picknick der Friseure (erschienen im gleichnamigen Buch, Fischer TB, Frankfurt/Main 2006): „Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.“
Folgende zehn Texte sind an jenem Donnerstag entstanden, nur wenig wurde beim Abtippen zuhause an ihnen verändert. Ich dokumentiere sie in alphabetischer Reihenfolge (mein eigener – ich schreibe (fast) immer mit – steht deshalb am Anfang).
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Sie bringen die Scheren mit und die Schafe und die neuste Haarmode und die Geschichten. Und sie bleiben zwei Wochen. Am 22. oder 23. Mai ziehen sie weiter mit ihren stumpfen Scheren und ihren schwangeren Schafen und neuen Ideen und neuen Geschichten. Und hinterlassen ein Erstaunen und eine Leere und eine hohe Geburtenrate im Februar. Wenn die Kinder beginnen zu begreifen, schauen sie den Friseuren ins Gesicht und später in den Spiegel. Ihre Mütter schweigen und schälen die Kartoffeln. Ihre Väter lassen sich die Bärte stehen. (Kirsten Alers)
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Warum kommen sie?
Was wollen sie?
Uns verschönern?
Uns verärgern?
Bärte einseifen?
Sich austauschen und fachsimpeln?
Einen Haarschneidemarathon veranstalten?
Oder sich einfach nur ausruhen und genießen?
Warum kommen jedes Jahr im Mai die Friseure? (Ute Baumgärtl)
jedes Jahr im mai kommen die friseure.
und dann schneiden sie alles ab, was weg muss. haare natürlich, zuerst, klar, am kopf die, die zu lang sind und in die augen fallen, damit fangen sie an, um sich dann die, die am kinn wachsen, vorzunehmen, die, die wachsen, wenn frauen älter werden, und die dann so ärgerlich pieksen und die beim küssen stören, die werden abgeschnitten und auch noch die, die unverschämt aus den nasenlöchern herauslugen, die fallen der schere zum opfer.
und weil die friseure so gern schneiden, weil das eigentlich der grund ist, warum sie diesen beruf überhaupt gelernt haben, schneiden sie gleich weiter bei den zöpfen von vor fünf jahren, den alten mit spangen und schleifen, dann bei denen von vor acht und zehn jahren, in denen gar noch haarnadeln stecken und wenn es noch welche gibt von vor fünfzehn oder mehr jahren, solche dicken, verfilzten, festen zöpfe, dann schneiden sie die mit besonderer verzückung ab, man könnte schon beinahe behaupten, sie tun dies mit einer feierlichen, ehrwürdigen haltung.
und sie schneiden gleich bei den blumen weiter, bei den welken – ritsch, ratsch – alles weg. welkes zeug mögen sie nicht. sie schneiden zu lange fingernägel ab und die angst vor dem leben gleich mit, aber auch zu lange röcke zum beispiel – ratsch, neue länge, frech bis übers knie. sie schneiden alte schilder ab, die in die irre führen könnten, und überholte regeln, die verwirrung schaffen, sie schneiden zweige ab, die den weg versperren, die sicht nehmen und das vorankommen schwierig machen.
die friseure kommen in einen regelrechten schneiderausch, klappern laut mit ihren scharfen scheren, und ihre flinken augen suchen immerfort nach neuen möglichkeiten zu schneiden: der alte schrank wird weggeschnitten, raus aus der wand, in die er sich hineingearbeitet hat, sie schneiden die dicke luft aus der wohnung oben drüber, alles weg, sie schneiden die alten kissen aus den sesseln, die krawatte vom hals des filialleiters der bank, der dringend mehr luft braucht, die kruste über dem dorf kommt ab, der schlechte geruch, der sich am kirchturm festgehakt hat, wird mit einem glatten schnitt beseitigt, und sie eilen weiter auf der suche nach schneidemöglichkeiten, nach schneidedringlichkeiten und werden ganz unruhig, wenn es so aussieht, als ob es nichts mehr zu schneiden geben könnte.
wenn die friseure allerdings aus lauter langeweile meine hecke kurz und klein schneiden wollen, kriegen sie was von mir zu hören. ich schreie sie an: „das reicht jetzt!“ dann blicken sie traurig und enttäuscht, manche auch ein wenig verschlagen oder listig und machen sich von dannen, wobei nicht wenige von ihnen vor sich hinmurmeln: „wir kommen wieder.“ (Marie-Luise Erner)
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Darauf kommt es Wilibo an. Schön zu sein für sein Mädchen. Für Malaba. Nur für sie. Und nur für sie erträgt er die schmerzhafte Prozedur: Mit der scharfen Muschelschale schabt Rimantibu ihm die Haare an den Schläfen und im Nacken weg. Zurück bleibt eine blutige Spur. Aber Wilibo lächelt. Er ist stark. Er ist tapfer. Er ist ein erfolgreicher Jäger. Rimantibu taucht die Finger in Asche. Nun zupft er die Barthaare am Kinn und unter der Nase aus. Wenn die Sonne untergeht, wird er damit fertig sein. Wenn dann der Vollmond die Hütten beleuchtet, wenn das Lagerfeuer brennt, wird Wilibo mit seinem Mädchen tanzen. (Gisela Hohmann)
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Das weiß ja jedes Kind. Alle Friseure und Friseurinnen, selbst die mit schlecht bezahltem Teilzeitjob, sind im Mai auf der Coiffeurmesse Hairstyle, kommen heim und behaupten, es sei höchste Zeit für einen neuen Schnitt, eine Trendfarbe, einen abgefahrenen Look.
Die hohen Glasfenster des Friseursalons sind beschlagen. Im milchigen Pink zucken Reflexe wie Blitzlichtgewitter, blanke Scheren sausen auf und ab. Schatten tanzen ekstatisch um das goldene Haar. Ammoniakwellen, Musik und das Dröhnen der Föhne driften hoch bis zu ihrem Fenster.
Jedes Jahr im Mai verbringt sie viele Stunden dort, hat die Arme auf das mit einem dicken Kissen gepolsterten Fensterbrett gebettet, ein paar Kekse und ein Getränk in Reichweite. Und bestaunt, welche Spuren die Coiffeurmesse in den Köpfen der Friseure und auf den Häuptern der Kunden hinterlassen hat. Linke Schläfe Vorwärtsrolle, rechte Schläfe Rückwärtsrolle, gezackter Pony, weiße Igelspitzen, eine rasierte Schneise über dem Ohr, umgeben von monsoon-blauen Rastazöpfchen.
Mutige Kunden zücken den Handspiegel, sobald die Salontür zugefallen ist, und betrachten sich darin. Dann überqueren sie gesenkten Blickes die Straße oder wühlen erst einmal nach einem Kopftuch. Aber nicht alle! Die Trotzigen sind zwar in der Minderheit, aber es gibt sie. Die haben gar keinen Spiegel dabei, stöpseln sich vor der Tür gleich Musik in die Ohren und stolzieren mit hoch erhobenem Bürstenschnitt von dannen.
Jedes Jahr im Mai geht sie nicht zum Friseur gegenüber, im April durchaus, aber dann erst wieder frühestens ab Mitte Juni. Jedes Jahr im Juni, wenn sie von oben die Haaransätze im Monsoon-Blau deutlich erkennt, wenn Verliebte sich gegenseitig wieder in ordentliche Haarbüschel fassen können, wenn die Friseure hinter der Glassscheibe wieder sichtbar werden und sich mit traurigem Blick die schweren Beine reiben, steigt sie die Treppe hinunter, überquert die Straße, öffnet die Tür und sagt: „Wie immer!“ (Christa Müller)
Jedes Jahr im Mai kamen die Friseure.
Die kleine Farm lag weit draußen im Südwesten der Stadt. Der Termin für dieses Ritual musste schon lange vorbestellt werden, da die Friseure immer einen gut gefüllten Terminkalender hatten.
Die Ställe wurden schon Tage vorher auf den Besuch vorbereitet. Sie mussten aufgeräumt und sauber sein. Luftdurchlässige Säcke für die Wolle wurden bereitgelegt. Alle auf der Farm waren irgendwie aufgeregt, vor allem aber die Schafe. Sie schienen es zu spüren, was auf sie zukam. Unruhig liefen sie hin und her. Bei den kleinsten Geräuschen zuckten sie zusammen.
Auf dieses Ritual freuten sich die Kinder und die Erwachsenen, denn mit der Ankunft der Scherer war plötzlich ein kunterbuntes Hin und Her auf der sonst eher ruhigen Farm.
Endlich war es dann soweit. Anfang Mai kamen sechs kräftige Männer mit ihren Schermaschinen auf die Farm. Mit geübten Händen befreiten sie die Schafe in wenigen Minuten von ihrem Fell, wobei die Kinder ihnen gespannt zuschauten. Der Duft der frisch geschorenen Wolle verbreitete sich schnell in den Ställen. Die Farmer sortierten die Wolle, alles lief Hand in Hand.
Der Sommer konnte kommen. (Jutta Cäcilia Ortseifen)
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Irgendwann müssen sie ab, die Haare. Lange, inzwischen sehr verfilzte Haare hängen ihm ins Gesicht, laufen seinen Rücken hinunter, sehen wirklich nicht unbedingt gut aus.
Einmal im Jahr ist Schurtag, nicht nur bei den Schafen, auch bei ihm.
Er blickt in seinen kleinen Spiegel, der auch bessere Zeiten gesehen hat. Wehmütig fährt er sich durch die Mähne.
Immer im Mai, wenn die Schafschur beginnt, muss auch John seine Mähne opfern. Und der Bart muss ab! Das hat er seiner Mary versprochen, nur so konnte er sie überzeugen, seine Haare und den Bart wild wachsen zu lassen.
Einmal im Jahr, immer im Mai, ist für ihn ein trauriger Tag. (Gisela Schneider)
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Es gibt ein Sammelbuch von mir. Ein ganz spezielles. Es ist mein Mai-Buch.
Im Mai beginnen mein Bauch zu kribbeln, meine Füße zu tanzen, mein Hals zu lachen.
Im Mai, da schreibe ich, da klebe ich, da nähe ich. Und alles kommt in das Buch. Fotos von Jeans, über und über mit Blumen bestickt. Blusen abgeschnitten bis über den Bauchnabel, gepresste Frühlingsblätter, gebastelte Weggefährten.
Und Haarsträhnen. Rote, braune, blonde, schwarze, grüne und pinke.
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure zu uns in die Stadt. Einige sind immer da, aber diese sind besonders. Dann ist Friseurmesse. Und ich bin ein williges Opfer für deren neusten Kreationen. Sie suchen immer Modelle. Ich stehe immer in der ersten Reihe.
Würden die Friseure im Oktober kommen, dann würde ich keine Haarsträhnen sammeln. Es ist der Mai, der kribbelt und krabbelt.
Und wenn die Friseure ihr Werk vollbracht haben, sammele ich meine Haarsträhnen vom Fußboden auf. Die roten, braunen, blonden, schwarzen, grünen und pinken. Und klebe sie ein. In mein Mai-Buch. (Martina Vaupel)
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Sie sind wie die Ingenieure. Die alles zu wissen meinen.
Jedes Jahr danach kommen die Schneider. Dann brauchen alle neue Kleider.
Jedes Jahr im Juli feiern sie die Feste. Jeder gibt das Beste.
Jedes Jahr im August sammeln sie Reste, ist vorbei die Lust.
Und jedes Jahr im Winter suchen sie ihre Kinder. Die haben einen Traum, hängt oben im Baum.
Jedes Jahr im März ziehen sie ihn herunter. Mancher bleibt, ein anderer geht unter.
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure. (Charlotte Vortmann)
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Robert macht Holz. Es ist jedes Jahr dasselbe. Er hört es gerne, wenn das Holz im Kamin stöhnt. Er nennt es „gemütliches Knistern“, aber ich weiß, in den Holzscheiten sitzen die Seelen der Bäume, die diesen schmerzhaften Prozess durchmachen müssen. Es bleiben nur Aschehäufchen übrig, die in nichts mehr an stolze Bäume erinnern.
Im Frühherbst rückt Robert aus mit Schlepper, Säge, Axt und dem Benzinkanister voller Super-Benzin. Er sägt und schlägt und rückt, was das Zeug hält, und hört das Stöhnen der Bäume nicht, da er Ohrenschützer trägt. Er ist eben kein Lauscher wie ich, die im Wald so vieles von den grünen Riesen erzählt bekommt. Im Rauschen der Wipfel Tröstendes, im Knacken der Äste Heiteres, im Schwenken der Zweige Philosophisches. Ich komme zur Ruhe.
Nach dem Fällen der Bäume kommt das Auf-Länge-Schneiden der Scheite. Robert hat sich eine elektrische Tischsäge gekauft, und die Scheite fallen beim Sägen alle in gleicher Größe in unsere Garage. Am meisten Spaß macht ihm das Stapeln. Er baut Mauern aus Holzscheiten, die im Herbst unser Haus umrunden und im Frühjahr nicht mehr vorhanden sind. Ohne diese Mauern ist Robert nicht glücklich. „Ich sorge vor, damit du es im Winter immer schön warm hast“, sagt er stolz, zieht seine Gummistiefel an, schärft Axt und Säge und geht los. Der Wald erschrickt jedes Mal, wenn er Roberts Schritte hört. Die Bäume hoffe, dass er an ihnen vorübergeht. Manche überlegen sogar, wie sie Robert erschlagen können.
Jedes Jahr im Mai erscheinen die Friseure im Wald. Das sind Männer in grüner Tracht, die sich Förster oder Forstwirte nennen. Sie erscheinen mit einem ganzen Trupp von Waldarbeitern. Immer haben sie ihre Schneidewerkszeuge dabei, Astscheren oder ganz große Knipser, mit denen sie Äste beseitigen, die den Weg versperren oder unschön gewachsen sind. Den Bäumen ist das nur recht. Nach dem strengen Winter müssen im Frühjahr ihre Wipfel und Zweige gezähmt werden. Die Förster nennen das „Auslichten“, und tatsächlich ist es wunderschön, wenn das Licht der Bäume im Mai durch gut frisierte Bäume fällt. Die Friseure haben sanfte Hände, ganz andere als die von Robert. Und wenn sie abends den Wald verlassen, stehen alle Bäume stramm und salutieren. (Erika Wiemer)
21. August 2014
Elfte Schreibanregung
Überschriften von Anderen
235 Einsendungen gab es zum 5. Nordhessischen Autorenpreis (Titel: „Himmel. Hölle. Heimatkunde.“). Ich habe die vorher anonymisierten Texte alle in den letzten fünf Wochen gelesen. Und erlaube mir, meine 17 Überschriftenfavoriten als Schreibanregung zu geben.
Variante A: Lassen Sie sich von einer Überschrift zu einem eigenen Text inspirieren.
Variante B: Montieren Sie alle Überschriften in einen Text.
Dornröschen 2.0 | Keinort | Landschaft mit Sündenfall | Kleines Waldstück mit Holzweg und Lichtung | Rapstage | Mein Stuhl, meine Katze, meine Farbe auf der Wand | 500 m² Heimat | Alles im Fluss, sagst du | Grenzebach | Im Westen was Neues | Glühende Landschaften | Halbjahre entfernt | Gestern ist morgen nicht mehr | keine Heimat überall | Des Sichelmondes starres Gähnen | Wolfhagen. Ein Versuch | Zehn Versuche, Mara zu besuchen
28. Juli 2014
Zehnte Schreibanregung
Einsilbig schreiben
Die oulipistischen Einschränkungen gehören zu meinen Lieblingsschreibaufgaben. Nicht zuletzt fordern sie dazu heraus, zwingen eine/n geradezu dazu, einmal vom üblichen Schreibstil, der einfach so immer wieder die eigenen Texte beeinflusst, abzuweichen. Sich einmal beim Schreiben anders zu erleben.
Meine eigene Lieblingseinschränkung zurzeit ist (und das ist die Schreibanregung): Schreib einen Text, der ausschließlich aus einsilbigen Wörtern besteht. (Kleiner Tipp: Die 2. oder 3. Person Singular sind gut geeignet.)
Beispiel: Du willst es doch auch
Du willst es doch auch. Du, das weiß ich. Komm, sei kein Frosch, komm, zier dich nicht so. Ich weiß doch, dass du das auch willst. Da ist dein Blick, der mir das sagt, da ist dein Herz, das so laut klopft. Los jetzt, es ist Zeit, du bist doch sonst nicht so. Das weiß ich von Tom, der hat – oh, das weißt du ja selbst. Was ist denn? Ich bin wohl nicht so gut! Was hat denn Tom und was fehlt mir? Komm, sag schon! Mensch, mach es nicht so zäh, mach es mir doch nicht so schwer. Ich weiß doch, dass da was ist. Dass das nicht nur in mir ist. Und so scheu bist du nicht. Da war ja auch nicht nur Tom, da war schon Lars und auch Max. Komm, tu nicht so. Schau, ich will dich, du willst mich – was ist so schwer? Was muss ich noch tun? Auf die Knie? Wie, du willst nicht?! Du lügst! Ich weiß, dass du willst. Das merkt man doch. Du spielst ein Spiel mit mir. Das wird dir noch leid tun! Ja, dass du das weißt: Das wird dir noch leid tun, was du mit mir machst. Mit mir macht man das nicht. Und frau erst recht nicht. Du, du ...
7. Juli 2014
Achte Schreibanregung: Tabu 1
Schlangengedicht nach Meret Oppenheim
1974 schrieb Meret Oppenheim ihr 2. Schlangegedicht nach einer oulipistisch zu nennenden selbst gestellten Aufgabe bzw. nach einem selbst auferlegten Tabu: Jedes Wort musste mit dem letzten Buchstaben des vorhergehenden Wortes beginnen.
Beginnen Sie mit irgendeinem Wort, zum Beispiel mit dem Wort „Wenn“ – das nächste Wort müsste dann mit einem N beginnen, also zum Beispiel „Wenn niemand“, das wiederum nächste Wort müsste nun mit einem D beginnen ...
30. Juni 2014
Siebte Schreibanregung (Ritas* Lieblingsübungen 3)
Anfangssatz aus einem Buch
Altbekannt und in vielen Variationen vorkommend in Schreibwerkstätten und doch immer wieder anregend: Man nehme einen Satz, mit dem ein (bis dato nicht gelesenes) Buch beginnt, als Anfangssatz eines eigenen Textes.
Ich schlage heute zwei Sätze vor aus zwei Büchern (deren Titel ich hier noch nicht verrate), die ich im Monat Juni gelesen habe:
– „Wir waren bei den Wochenendeinkäufen im Supermarkt.“ (Yasmina Reza)
– „An jenem Tag fuhr ich nach dem Termin in der Radiologie mit dem Fahrrad nach Hause.“ (David Servan-Schreiber)
22. Juni 2014
Sechste Schreibanregung
Himmel. Hölle. Heimatkunde.
Der Countdown läuft. Die ,Odenwaldhölle’ ging 2013 durch die Medien. Nein, nicht die Odenwaldschule, die auch, ja, aber die medial erzeugte ,Odenwaldhölle’ hat uns, den Vorstand des Vereins Nordhessischen Autorenpreis e. V., zum Titel unseres 5. Literaturwettbewerbs angeregt: HIMMEL. HÖLLE. HEIMATKUNDE. Jana Ißleib, Carmen Weidemann und ich freuen uns über Prosa-, Lyrik- und experimentelle Texte, die bis zum 17. Juli 2014 eingereicht werden können. Die Ausschreibund mit allen Bedingungen findet man hier: Nordhessischer Autorenpreis.
22. Juni 2014
Abänderung
Voltaire und das Schreiben
Über Literatur und Aufklärung lässt sich nicht reden, ohne auch über Voltaire zu reden. Die Aufklärung aber soll hier nicht Thema sein, sondern Voltaires viel zitierter, auf Postkarten und in Schreibratgebern zu findender Satz. „Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.“
Ich folge dieser Aussage nicht, sondern sage:
Welches Schreibprodukt – denn um dieses geht es Herrn Voltaire und all seinen den Satz zitierenden Fans wohl – langweilt, ist auf Seiten der Lesenden zunächst einmal eine Frage des Geschmacks, des persönlichen Hintergrunds und des Interesses am Gegenstand. Wer also sollte allgemeingültig entscheiden, welcher Text langweilt und welcher nicht? Auf Seiten der Schreibenden gelten die gleichen Fragen – und (mindestens) zwei weitere kommen hinzu: 1. Was passiert, wenn ich mir verbiete, langweilig zu schreiben? Die Antwort: Ich laufe Gefahr, mich zu blockieren. 2. Warum soll ich nicht langweilig schreiben dürfen? Die Antwort: Ich darf schreiben, wie ich es für richtig halte, denn die Kategorie Langeweile hat für den Akt des Schreibens keine Relevanz. Und oh, wie entlastend kann es sein, langweilig zu schreiben, einfach zu schreiben, so schön langweilig – und plötzlich macht es klick und ich bin im Flow. Vielleicht schreibe ich immer noch langweilig, aber das ist in diesem Zustand wirklich vollkommen irrelevant.
21. Juni 2014
Fünfte Schreibanregung
(Autobiografischer) Impuls
An einem Abend letzte Woche zappte ich durch die Fernsehkanäle und landete bei einem Krimi, an dessen Titel und Thema ich mich nicht erinnere, und an die DarstellerInnen erinnere ich mich auch nicht. Nur an einen Satz, den der Kommissar kurz vor Ende sagte – und den ich hier als Schreibanregung geben möchte. Vielleicht inspiriert er zu einer Selbstreflexion, vielleicht zu Fiktion oder ...: „Die Dinge, die dir heute am meisten zu schaffen machen, sind die, bei denen du eine Wahl hattest.“
29. Mai 2014
Vierte Schreibanregung
Anapher- oder serielle Texte (2)
Zurzeit leite ich eine achtstündige Wörterwerkstatt im Kasseler Friedrichsgymnasium, in die sich 15 Mädchen und Jungen aus dem Jahrgang 6 eingewählt haben. Am ersten Tag haben wir außer Akrostichons und Kurzkrimis zu dritt auch Anapher-Texte geschrieben (s. auch Dritte Schreibanregung vom 19. Mai). Hier meine Vorgaben: Schreib einen Anapher-Text, bei dem jede Zeile mit „Manchmal ...“ oder mit „Und ich sage ...“ beginnt. Es sollen mindestens sechs Zeilen sein, den Schluss kann eine besondere Zeile bilden, die dann anders beginnt (Thore nannte sie Moralzeile). Die Jugendlichen haben fast alle andere Anfänge gewählt als die von mir vorgeschlagenen, z. B. „Heute“, „Morgen“, „Der Tod“, „Leben ist“ oder „Es gibt Leute ...“. Interessant wird diese Art zu schreiben, wenn man beim Schreiben der Anapher-Texte konsequent und bewusst über den Punkt hinausschreibt, am dem man stockt oder nur noch in Wiederholungen denkt oder sich blöd und das gerade praktizierte Schreiben überflüssig findet – um dann zu neuen Schreibhandlungserlebnissen zu kommen und möglicherweise auch zu neuen Inhalten. Ein Buchtipp: Florian Neuner: Satzteillager, Klever Verlag, Wien 2011. 146 Seiten; geb.; 16,90 €, ISBN 978-3-902665-34-8
19. Mai 2014
Dritte Schreibanregung (Ritas* Lieblingsübungen 2)
Zurückgehen: Ich erinnere mich ...
Geh auf den Dachboden oder in den Keller, öffne eine Kiste, die dort schon lange steht, am besten, du weißt gar nicht mehr, was sich in dieser befindet – nimm einen Gegenstand aus der Kiste und schreib. Es gibt die Möglichkeit, einfach nur den Gegenstand (z. B. ein Memorie-Spiel oder ein Brief oder ein Kastanienfigürchen) als Impuls zu nehmen und sich schreibend zu erinnern. Es gibt aber auch die Möglichkeit, einen seriellen Text zu verfassen. Das geht so: Wieder ist der Gegenstand der Impuls, und dann beginnst du jeden Satz mit „Ich erinnere mich ...“. (Das literarische Stilmittel, wenn jeder Satz mit dem gleichen Wort oder der gleichen Wortgruppe beginnt, nennt man Anapher.)
12. Mai 2014
Zweite Schreibanregung
Shakespeare folgen
Letzten Donnerstag (8. Mai) hatte ich das große Vergnügen, an einem Shakespeare-Schreibabend teilzunehmen, durch den meine Kollegin Carmen Weidemann die Schreibgruppe geleitete. William Shakespeare soll ca. am 23. April 1564 geboren worden sein und ist am 23. April 1616 gestorben. (Seit 1995 ist der 23. April UNESCO-Welttag des Buches.) Die erste Schreibanregung des Schreibabends gebe ich hier weiter: Schreib einen freien Text, inspiriert vom ersten Satz des Hamlet-Monologs: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“.
2. Mai 2014
Erste Schreibanregung (Ritas* Lieblingsübungen 1)
Literatur in 5 Minuten
Nimm dir 30 Minuten Zeit zum Schreiben. Du brauchst ein Wörterbuch oder ein Lexikon oder einen anderen Menschen und einen Wecker. Das Ziel ist, sechs Miniaturen zu schreiben, alle fünf Minuten ein neues Thema zu nehmen und diesem Impuls jeweils zu folgen, schnell zu schreiben, quasi den Stift immer in Bewegung zu halten, nicht zu überlesen, alle Regeln (Grammatik, Rechtschreibung) mal außer Acht zu lassen.
Die Idee dahinter: Man kann nicht nachdenken, man hat keine Chance, das Prozedere zu durchlaufen, das man normalerweise immer durchläuft zu Schreibbeginn. Es geht darum, sich einzulassen auf das, was die Impulse anticken. Es geht nicht um fertige, gute, schöne oder ähnlich attributierte Texte, sondern um das Heben von Bildern, von Sätzen, von Schätzen aus sich selbst. Freewriting, Assoziatives Schreiben, écriture automatique sind Stichwörter, die in diesen Kontext gehören.
Nimm dir also ein Wörterbuch oder ein Lexikon, schließ die Augen und schlag willkürlich eine Seite auf, leg den Finger auf eine Stelle – das Wort, das du getroffen hast, ist dein erster Impuls. Nach fünf Minuten Schreiben wiederholst du das Ganze. Du kannst dir auch alle fünf Minuten von einem anderen Menschen ein neues Wort zurufen lassen. Nach 30 Minuten bzw. sechs Miniaturen stoppst du.
Möglicherweise findest du beim Durchlesen Überraschendes oder etwas, das du schon lange vergeblich zu heben versucht hast, oder einen Anfang für eine Kurzgeschichte ...
Diese Schreibanregung habe ich entwickelt mit Hilfe des Buches Literatur in 5 Minuten von Roberta Allen, erschienen bei Zweitausendeins, Frankfurt/Main 2002.
* Rita Krause ist Schreibwerkstattteilnehmerin seit vielen Jahren und meine Freundin.