
Einführung: 366
11 + 2 Anmerkungen zum Jahresprojekt 2020
1
Das Vorhaben: Ich mache im Jahr 2020 jeden Tag einen Text (was nicht weiter verwunderlich ist, weil ich seit Jahren täglich Texte schreibe). Ich mache im Jahr 2020 jeden Tag ein Bild (was sehr verwunderlich ist). Das Bild kommt auf ein quadratisches, recht offenporiges Werkdruckpapier-Blatt, 170 Gramm, 15 mal 15 Zentimeter. Der Text kommt auf ein quadratisches Blatt Transparentpapier, 112 Gramm, 15 mal 15 Zentimeter. Am Abend lege ich beide Papiere übereinander – und es entsteht eine dritte Bedeutungsebene im Zusammenkommen, in der Korrespondenz, im Dialog zwischen Text und Bild.
2
Das Serielle ist die zweite Grundidee, jeder Tag in seinem Hinter und Vor einem anderen Tag, in seiner immer gleichen Struktur, in einem Jahr, in jedem Jahr. Das Serielle reizte: 366 Chancen, 366 Überraschungsgeschenke, die ich mir selbst machen konnte, 366 Versuche, etwas zu sagen auf drei Ebenen. Das Serielle entlastete: Es musste nicht das eine großartige Werk entstehen; und in der Zusammenschau besticht gerade auch das Vorläufige, das Improvisierte, das manche Blätter und insbesondere die Reihen ausstrahlen.
3
Text und Bild sollten nicht in Bezug aufeinander entstehen. Meistens war das auch so. Manchmal aber saß ich abends da – und es gab noch keinen Text (sehr selten) oder noch kein Bild (öfter). Dann brach ich die Regel und gestaltete etwas zum Text oder schrieb etwas zum Bild. Auch daraus entstand Überraschendes.
4
Die Texte entstanden nie direkt auf dem Transparentpapier, sondern immer zuerst auf (Schmier-)Papier oder (eher selten) am Computer. Wenn ich sie als ganze oder in Ausschnitten (wegen der Platzbeschränkung) übertrug, wählte ich einen meiner schwarzen Stifte: Vom Fineliner mit einer 0,2 mm-Spitze über Gelstifte bis zum Edding mit der 5 mm-Spitze nutzte ich alle, die in einem Topf das ganze Jahr über auf dem Werkstatttisch standen.
5
Wenn ich die Texte übertrug, experimentierte ich mit meiner Handschrift. So also stellte sich in diesem Projektjahr heraus, dass ich steile und schmal laufende Druckschriften, wahlweise mit unregelmäßigen Unter- und/oder Oberlängen einzelner Buchstaben, derzeit am liebsten aufs Papier setze. Und ich experimentierte auch mit der Platzierung der Texte auf dem Papier, also mit Position und Weißraum.
6
Jeden Tag ein Bild zu gestalten, genauer gesagt: jeden Tag ein 15 mal 15 Zentimeter großes Werkdruckpapierquadrat mit etwas zu füllen, das nicht Text ist … Ich startete dieses Experi-ment mit Anfängeringeist und Neugier und im Vertrauen darauf, dass etwas entsteht beim Drauflosgestalten, -malen, -kleben, -zeichnen – im Sinne des Serendipitätsprinzips. Nun, ich habe Jahre gebraucht, um mir dieses Drauflos beim Schreiben zu erlauben, und dann noch mal Jahre, um auch noch zu erleben, wie es Früchte trägt. An manchen der 366 Tage ist es mir gelungen, das Drauflosgestalten. Und wenn es stockte, malte oder zeichnete ich etwas ab, wie schon früher die Lehrlinge es taten …
7
In die Texte flossen Tagesaktuelles, Reflexionen, literarische Ideen. In die Bilder floss stark auch das, was Werkzeuge und Materialen hervorbrachten. Ich hatte Malphasen, Collagephasen, Zeichenphasen – probierte Werkzeuge und Materialien aus, ließ diese die Inhalte mitbestimmen.
8
Überwunden habe ich meine schulisch bedingte Abneigung gegen Wasserfarben – bei mir sahen Wasserfarbenbilder bis in die Oberstufe nach 3. Klasse aus. Als Lösung stellte sich heraus, einfach viel Wasser zu nehmen und drauflos und schnell und ohne Ausmalwillen zu pinseln! Jetzt sind die Blau- und Grüntöne im Farbkasten, der noch aus jenen Schultagen in den 1970ern stammt, fast leer (das kaminrote musste ich vor Jahren schon ersetzen, als ich manchmal mit meinem Kind malte).
9
Da sind Highlights, da sind Lowlights. Aber in der Reihe gelten sie alle. Weil das Konzept auf das Serielle, den Prozess ausgerichtet war. So bleiben sie alle und werden alle gezeigt.
10
Ich bin beeindruckt: von der Vielfalt, vom Zusammenspiel der Ebenen, von den Veränderungen im Ausdruck über das Jahr, von der Tiefe, vom Witz hier und da.
11
Ich erinnere mich (jetzt, Anfang April 2021): an das Durchhalten, an den Spaß, an den Werkstatttisch voller Schnipsel, an das gute Gefühl, etwas kleines Feines jeden Tag fertiggestellt zu haben, an das (sogar manchmal etwas neidische) Erstaunen in den Gesichtern derjenigen, denen ich davon erzählte.
Zu Dank bin ich verpflichtet: meiner Kollegin und Quasi-Tochter Yara Semmler (pieceofpie), die mir seit vier, fünf Jahren das vermittelt, was ich brauchte, um auch im Gestalten freier zu werden, als ich es Jahrzehnte gewesen war; meinem Lebensgefährten und Grafiker Uli Ahrend (Satzmanufaktur), der das Analoge digital sichtbar gemacht hat; meiner langjährigen Schreibschülerin Angelika L., die alle fünf Jahre ein zeichnerisches Jahresprojekt verfolgt und mich damit inspiriert hat; mir selbst, die ich es mir erlaubt habe, spontanes, lust- und vertrauensvolles Improvisieren, Können, Disziplin sowie die lebenslange Liebe zum Seriellen miteinander zu kombinieren.
Im Rückblick auf dieses besondere Jahr spielt dieses Projekt für mich eine besondere Rolle (nicht nur wegen der Pandemie und ihrer Folgen). Mich interessiert, was es mit dir macht, die du das jetzt gerade liest. Schreib es mir gern: kirsten.alers@wortwechsel-kaufungen.de