Fundstücke | Mitteilungen | Impressionen
14. Oktober 2024
Die Lyrische Hausapotheke
Lesen und Schreiben als Heilmethoden
Es sind Herbstferien in Hessen. Für mich kursfreie Zeit. Nicht jedoch freie Zeit. Jedes Jahr in den Herbstferien warten auf mich an die 40 Prüfungsleistungen aus dem Studiengang Biografisches und Kreatives Schreiben an der Alice Salomon Hochschule, die ich zu lesen und zu begutachten habe.
Ich liebe es, diese Prüfungsleistungen zu lesen, wirklich! Welch eine Fülle ein Ideen für Schreibgruppenkonzepte mir da entgegentritt! Ich bekomme jedes Jahr hundert neue Ideen für meine Schreibgruppenarbeit geschenkt. Und inspirierende Zitate dazu.
Heute durfte ich in der Arbeit der Studentin Sylvia G. ein Textstück von Erich Kästner lesen, das ich noch nicht kannte und das ich für verbreitenswert halte.
„Es tut wohl, den eigenen Kummer von einem anderen Menschen formulieren zu lassen. [...] Es beruhigt aber auch zuweilen, das gerade Gegenteil dessen, was man empfindet, nachzufühlen. Die Formulierung, die Verallgemeinerung, die Antithese, die Parodie und die übrigen Variationen der Maßstäbe und der Empfindungsgrade, alles das sind bewährte Heilmethoden.“
Die Lyriksammlung, die dann folgt, hat beim Lesen möglicherweise heilende Wirkung – und welche erst, wenn wir sie nutzen als Inspiration zum eigenen Dichten?!
Quelle: Kästner, Erich (1936): Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. Zürich: Atrium: S. 7f.
12. August 2024
Ein Sommer-Impuls
Alphabet der Bedeutungslosigkeiten
Eine Woche lang machte ich Ferien an der Ostsee, in einem Haus, das die Eltern einer Freundin 1961 als Ferienhaus hatten errichten lassen. Die Mutter der Freundin hatte es lange Jahre ganzjährig bewohnt – und alle Dinge sind noch dort. Vor allem sind alle Bücher noch dort. Viele rororo-Taschenbücher, Biografien ,großer‘ Männer, Kunstbände, historische Bildbände und einige gebundene Romane aus renommierten Verlagen. Ich blätterte ein bisschen in den Kunstbänden und dachte, ich müsse doch in eine Buchhandlung fahren, weil die jüngsten der Bücher, die mich vielleicht interessieren könnten, in den 1990er Jahren erschienen waren – aber dann nahm ich das erste und las … und las, unter dem Sonnenschirm, am Strand, im Sessel, im Bett … In sechs Tagen fünf Bücher, ein seltener Rausch, der so wohl nur jenseits des Alltags gelingt …
Ich begann mit einem kleinen Büchlein, weil es so einen schönen Einband hatte und weil ich noch einmal von dieser Autorin, die mich (so meine ich) zum inneren Wandel gebracht hatte, als ich elf, zwölf Jahre alt war, angezogen wurde: Die springende Flut von Pearl S. Buck (mit einer Original-Widmung auf dem Vorsatzpapier, ohne Erscheinungsjahr), auf etwas mehr als 100 Seiten im Postkartenformat die Geschichte zweier japanischer Jungen, von denen der eine seine Familie bei einem Tsunami verliert: anrührend, philosophisch, sprachlich und auch ansonsten aus einer anderen Zeit …
Es folgte eine Art Kontrastprogramm mit Die Frau in der Hecke von Joan Barfoot (Verlag Antje Kunstmann 1995): zwei Freundinnen in den USA, beide in den 1920ern geboren, die mit 70 auf ihre unglaublich unterschiedlichen Leben zurückblicken und insbesondere ihre gewählten Liebesverhältnisse betrachten: sehr differenziert, zur Selbstspiegelung einladend und staunen machend über die Möglichkeiten der Generation meiner Mutter …
Das Highlight kam dann: Geschehnisse am Wasser von Kerstin Ekman (Neuer Malik 1995). 1974 beginnt die Geschichte mit einem Mord in der Nähe einer Kommune in Nordschweden nahe der norwegischen Grenze, und 18 Jahre später endet sie nach mannigfaltigen aus falschen Annahmen sich ergebenden Verstrickungen mit einem weiteren Mord, und all das hat mit den großen und den ganz kleinen Dingen und dem Wesentlichen zu tun: fast 550 Seiten, von denen ich drei Tage nicht loskam, grandios erzählt. Und das ich unbedingt zu lesen empfehle!
Zwischendurch zur ,Erholung‘ las ich die Rowohlt-Monografie über Max Ernst, (von Lothar Fischer, 1969), erfuhr noch mehr, als ich schon wusste, über den großen Künstler, der mich mit seinen Collagen und Frottagen seit einigen Jahren fasziniert.
Und dann zum Schluss noch ein Büchlein im Postkartenformat: Zwei alte Frauen von Velma Wallis (Piper 2005), ich hatte es schon einmal vor vielen Jahren gelesen hatte; die athabaskische Autorin erzählt die Geschichte zweier von ihrem Stamm in einer winterlichen Hungersnot zurückgelassener alter indigener Frauen am Yukon River, die sich auf die Fertigkeiten besinnen, die sie einst erlernt hatten, und mehr als überleben: auch hier das Einfache, das mich anrührte …
Neulich hatte ich meine Freundin Veronika noch gefragt, was es sei, dass sie die Bücher kiloweise fressen ließ. Sie konnte darauf gar nicht wirklich antworten – so wie ich jetzt auch nicht … Ob, wäre ich noch eine weitere Woche dort geblieben in diesem Häuschen hinter dem Deich, es so weitergegangen wäre mit dem Glücksleserausch? Ich glaube nicht. Vielleicht gelingt ein neuer im nächsten Sommer …
1. Juli 2024
48 Stunden Neukölln
Nachahmenswert auch für die Provinz
Wenn man solche Studierenden unterrichten darf, wie ich sie unterrichten darf, an einer so wunderbaren Hochschule wie der Alice Salomon Hochschule, an der der nicht minder wunderbare Studiengang Biografisches und Kreatives Schreiben angesiedelt ist, dann wird man ununterbrochen inspiriert von den Innovationen der Studierenden in ihren kreativen Hausarbeiten, durch ihre innovativen Praxisprojekte und diverse sonstige Aktivitäten. Ein Beispiel:
Lucia Biller und ihre Partnerin Marlies Pahlenberg waren am vergangenen Wochenende beteiligt am Berliner Kiezkunstprojekt 48 STUNDEN NEUKÖLLN. Einen kleinen Einblick bekommt man in einem kurzen Regionalfernsehbeitrag des rbb.
Lucia und Marlies haben ihren Beitrag genannt: „Was die urbane Stille durchbricht – Found Poetry im Stadtraum“. Sie haben versucht, die Geräusche der Stadt aufzuzeichnen und/oder sich davon inspirieren zu lassen. Das Beispiel auf dem Foto (von Lucia Biller) zeigt einen Versuch.
Könnte man sich nicht auch etwas Ähnliches vorstellen in der nordhessischen Provinz? 48 STUNDEN KAUFUNGEN?
24. Juni 2024
Tag 3: forschen, finden, formen
Erfahrungsbericht aus der letzten Woche
Am Ende von Tag 3 (siehe BlogPost vom 17. Juni 2024) bestand die Aufgabe darin, am Tag hergestelltes Bildnerisches und Textliches zusammenzufügen. Hier ein Ausschnitt, der zeigt, was es war. Ob die Tiefe des Prozesses sich zeigt, kann ich nicht beurteilen; für mich ist sie sichtbar – was sollte ich mehr wollen?!
17. Juni 2024
Tag 3: forschen, finden, formen
Von der äußeren Winzigkeit zum (inneren) Wesentlichen
Die kreative Sommerwoche mit Wort und Bild ist im vollen Gange. Nachdem wir uns an Tag 1 an einen Draußenort begeben hatten, um Eindrücke zu sammeln, schnappend, notierend, skizzierend … und erste Ausdrücke zu finden, Listentexte schreibend, Zeichnungen machend …, nachdem meine Kollegin Barbara Sturm und ich an Tag 2 mehrere Forschungswerkstätten gestaltet hatten zu Varianten der Monotypie und der Frottage sowie Varianten freien Schreibens, geht es an Tag 3 darum, an den Draußenort von Tag 1 zurückzukehren und sich einer Winzigkeit, einem Detail mit dem an Tag 2 Gelernten zu widmen.
Meine Winzigkeit ist ein Sandstein in einem Mäuerchen auf meinem Hof, das ich vor vielen Jahren selbst gesetzt habe. Ich werde frottieren, mit Bleistift, mit Wachsstift, mit Pigment. Ich werde frei schreiben, werde es fließen lassen, im Freewritingmodus werde ich etwas finden. Etwas, das selbstbedeutsam und welthaltig ist. Das weiß ich. Weil ich es bereits so oft erlebt habe, wie die ästhetische Erfahrung gar nichts Anderes bewirken kann, als Verbindungen zu meinen Themen, zwischen mir und Welt und Welt und mir zu offenbaren, mir also ermöglichen, (mehr) zu verstehen und ausdrücken zu können.
22. April 2024
Premiere!
Eine Woche mit zwei Hospitantinnen
Jetzt lehre ich schon 17 Jahre an der Alice Salomon Hochschule im Studiengang Biografisches und Kreatives Schreiben – und hatte noch nie Studierende bei mir zu Gast zur Hospitation. Bis jetzt. Letzte Woche hatte ich dann gleich zwei Hospitantinnen: Anna G. aus Wien und May M. aus Berlin, die beide im Jahrgang 17 studieren. Wir kannten uns schon aus der Präsenzlehre in Berlin, aber durften uns jetzt noch einmal in anderen Rollen begegnen.
Die beiden nahmen als schriftlich und mündlich aktive Gruppenmitglieder an den sieben Kursen und Workshops mit unterschiedlichen Formaten teil. In erster Linie diente Anna und May die Hospitation zur Erweiterung ihrer schreibpädagogischen und didaktisch-methodischen Expertise sowie zur Schärfung ihrer Vorstellungen bezüglich der eigenen Leitungsrolle. Mir aber diente die Hospitation auch! Ich fühlte mich auf angenehme Weise beobachtet, gespiegelt auch in unseren ausführlichen Reflexionsgesprächen.
Und so kann ich es nur allen Schreibgruppenleitungen empfehlen (vor allem denen, die schon lange lehren): Hospitant:innen sind eine wirkliche Bereicherung.
8. Januar 2024
Statt guter Vorsätze
Lücken, Leerräume, Dehnungsfugen im Alltag lassen
Von Ilse Baumgarten und Jutta Beuke, Kolleginnen vom Tegernsee (www.schreibraeume.de), bekam ich folgenden Schreibimpuls geschenkt.
„Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen.“ Diesen Satz hat Astrid Lindgren Pippi Langstrumpf sagen lassen. Vielleicht kein schlechter Anhaltspunkt für das Jahr 2024. Ein bisschen weniger von diesem und jenem – und schon entstehen Lücken, Leerräume, Dehnungsfugen im Alltag … Und wer dann nicht einfach dasitzen und vor sich hinschauen will, kann ja auch in den Himmel schauen oder jemandem in die Augen oder nach innen oder auf ein weißes Blatt – und sollte ein Stift zur Hand sein … du weißt schon …
11. September 2023
Das lohnt sich
Jeden Tag eine kreative Tat
„Jeden Tag eine kreative Tat!“ Das ist einer der Leitsprüche meiner Kollegin Christina D. Er hat einen Nerv in mir getroffen – einen, den ich schon seit Jahren täglich aktiviere. Ich weiß es: Es ist lohnend, jeden Tag kreativ zu sein. Natürlich fragst du dich jetzt, was ich mit Kreativsein meine – eine Definition folgt an dieser Stelle nicht. Sondern einfach nur eine Beschreibung meiner Gefühlslage: Ob ich ein Portrait meines Gegenübers in der Straßenbahn zeichne, ob ich ein Gedicht aus Wörter-Schnipseln aus der Zeitung klebe, ob ich zu einer Frage einer Kollegin wild brainstorme – ich fühle mich währenddessen und hinterher in ,irgendwie‘ glücklich machende Vibrationen versetzt. Ich tue da etwas, einfach nur deshalb – um in diese Vibrationen zu kommen; ansonsten verfolge ich mit diesem täglichen Tun, das in der Regel nur fünf oder zehn Minuten in Anspruch nimmt, erst einmal keinen weiteren Zweck. Jeden Tag tue ich so etwas Kleines. Und kann das nur empfehlen.
31. Juli 2023
Grenzüberschreitungen
Teil 2: Higlights der Woche
Am Ende einer Kurswoche findet selbstverständlich eine Feedbackrunde statt; meine Kollegin und ich baten u. a. darum, Highlights zu benennen. Die folgende Sammlung zeigt eine große bandbreite und darin das Individuelle, das im Laufe der Woche einen immer größeren Raum einnahm, der individuelle Weg, der mit Frottage und Pigmenten gegangen werden konnte: „der Raum fürs Ringen“, „wir wurden verwöhnt“, „es ging sehr ans Eingemachte: gut so!“, „das Eintauchen und die Großzügigkeit“, „der Tiefencharakter“, „die Fülle“, „zur Form gefunden zu haben“, „mich mit dem Material verbunden zu haben“, „die große Aufmerksamkeit von allen für alle“.
Meine persönlichen Highlights waren die wundervolle Co-Leitungs-Erfahrung und das diverse Grenzen überschreitende Leporello, das sich zum Schluss herausgeschält hat.
10. Juli 2023
Simone Weil
… und eine Fahrt in der Berliner U-Bahn
Am Wochenende war ich in Berlin zum Unterrichten an der Alice-Salomon-Hochschule. Die Hochschule liegt in Hellersdorf – eine längere Fahrt mit S- und U-Bahn ist also erforderlich, um sie zu erreichen. Ich fahre gern mit der U-Bahn. Weil sie nicht so störanfällig ist wie die S-Bahn. Weil sie lange Bänke quer zur Fahrtrichtung hat. Weil sie nach Maschinenraum und einem lange vergangenen Früher riecht. Und weil an der Decke diese kleinen Fernseher befestigt sind, auf denen man Vermischtes zu sehen bekommt: Lokalnachrichten, Weltnachrichten, Lustiges, Erbauliches – wie Zitate.
Am Freitag also fuhr ich mit der U-Bahn nach Nordosten gen Hellersdorf und las ein Zitat von Simone Weil – das ich mir nicht aufschrieb (ärgerlich, Tendenz total ärgerlich). Ich suchte im Netz und fand Zitate, wirklich gute, nur nicht jenes …
Simone Weil (1909–1943) war Sozialrevolutionärin, Philosophin und Mystikerin. Als Jüdin musste sie emigrieren und starb bereits mit 34 Jahren in England an Tuberkulose.
Zwei Zitate habe ich aus dem Netz gefischt – sie könnten auch als Schreibanregung dienen.
Der erste berührt tatsächlich meine Lehre an der Hochschule, wo ich das Fach Schreibgruppenpädagogik und -dynamik vertrete und mich u. a. mit Widerspruch bzw. Widerstand in Schreibgruppen befasse.
„Der Widerspruch ist eine Probe auf die Notwendigkeit.“
Der zweite könnte eins meiner Lebenslosungen sein, ich halte ihn für wahr, weise und wichtig:
„Man muss das Mögliche vollbringen, um das Unmögliche zu berühren.“
3. Juli 2023
Ich blicke zurück auf:
30 Jahre Schreibgruppenleitung
Am Samstag habe ich gefeiert. Das Schreiben in Gruppen. ,Meine‘ Schreibgruppen. Mich auch irgendwie. Als ich 1993 meine erste Schreibgruppe leitete, wusste ich noch so gut wie nichts vom Kreativen Schreiben. Ich wusste noch nicht einmal, dass das, was ich da in meinem Kursen (zum journalistischen Schreiben) machte, Kreatives Schreiben hieß. Aber noch im gleichen Jahr lernte ich es kennen – und es ließ mich nicht mehr los. 1995 gründete ich meine erste Frauenschreibwerkstatt, weitere kamen hinzu, andere Schreibgruppen für andere Zielgruppen …
Zum Fest am vergangenen Samstag habe ich alle eingeladen, die im ersten Halbjahr 2023 in meinen fünf fortlaufenden Schreibgruppen teilgenommen hatten.
Und eine meiner langjährigen Teilnehmer:innen, Marie-Luise E., sagte in ihrer Rede an mich: „[…] Danke für Schreiben als Selbstberuhigung, als Meditation und Selbstvergewisserung, als Selbstausdrucksmöglichkeit und als kreative Gestaltungsmöglichkeit, für Schreiben als Selbsterfahrung, als Weg, mich zu verstehen und mich mitzuteilen und neu zu erfinden. Danke für Schreiben als Selbstbehauptung, Sprachspiel, als Lust an Buchstaben, Wörtern und Sätzen.
Ich habe die Möglichkeit erfahren, mich zu mir hin und von mir weg zu schreiben, mich in mich rein und wieder raus zu schreiben. Ich bin mir selbst und anderen schreibend begegnet, habe schreibend zugehört und schreibend geantwortet. Und du warst immer dabei, Ideen gebend, Impulse setzend, inspirierend, höchst aufmerksam und immer mit diesem äußerst schnellen Kopf, dem kaum etwas entgeht. […]“
Zum Schluss meiner Rede sagte ich: „Dankbarkeit empfinde ich, dass es Kreatives Schreiben in Gruppen gibt, dass es diesen Platz gibt, dass es euch gibt. Danke sage ich vor allem euch: fürs Kommen und eure Mitbringsel, für Herausforderungen (die ich liebe) und Bestätigungen (die ich auch liebe), für Kritik und das Mitgehen in die gemeinsamen Prozesse, für Begegnungen, Vertrauen und Offenheit, für den zweiten oder auch immer wieder neuen Blick auf mich und euch selbst.“
So will ich wohl auf alle Fälle noch 15 Jahre weitermachen mit Schreibgruppenleiten … oder länger …
26. Juni 2023
Montagszitat
Etwas, das trifft
Manchmal ist es ein Wort, ein Satz oder ein Halbsatz, der den ganzen Tag bleibt, der über Wochen immer wieder auftaucht – weil er etwas trifft, ganz genau trifft, was schon da war, was Wunsch, was Elixier, was Wahrheit war bzw. ist. Du wirst ihn nicht wieder los – schreibst ihn dir vielleicht auf einen Zettel und heftest ihn an den Kühlschrank … Aber das ist nicht das Wichtigste – wichtig ist, dass du diesem Bleiben, diesem Getroffensein vertraust, dann kann er dir Fingerzeig sein.
So ein Halbsatz traf mich an einem Mittwochabend im Mai. In meiner Kolleginnen-Austauschrunde; in unserem Gespräch ging es um das Platzschaffen für den ziellosen kreativen Ausdruck im beruflichen Alltag. Meine Kollegin Christina Denz (Danke an dieser Stelle) sagte ihn – und er traf und blieb:
Jeden Tag eine kreative Tat.
12. Juni 2023
„immer mit Schwung“
Zitate aus der Schreibwerkstatt
Ich kann gar nicht anders – ich schreibe immer herausragende Textstellen mit, wenn ich in den Schreibgruppen den Texten der Teilnehmenden lausche. Die hier wiedergegebenen (eine Auswahl aus den letzten vier Wochen) könnten auch als Schreibanregung dienen.
„Ausdruck reduziert Druck“ (Tina B.)
„Dieses Knäul entwickelt sich“ (Monserrat S.-B.)
„Sandkastenliebesleben“ (Ellen V.)
„enttäuschend erwachsen“ (Dagmar H.)
„Blauäugigkeit ist eine Zier“ (Klaus V.)
„das brave ruhige abgefütterte Kind […] immer mit Schwung“ (Ursula T.-B.)
„Meinen Hass kriegt ihr nicht!“
27. März 2023
Herausragende Schreibgruppenkonzepte
Segeberger Preis erstmals verliehen
Preisträgerin Andrea Keller (Foto: Karl Günter Rammoser)
Am 17. März hat der Segeberger Kreis, ein Verein für und mit Schreibpädagog:innen und -didaktiker:innen, erstmals den Segeberger Preis verliehen. Mit ihm werden herausragende schreib- und literaturpädagogische Projekte und Konzepte des Kreativen Schreibens, die als Teil einer kulturellen Praxis konzipiert sind und umgesetzt werden.
Die erste Preisträgerin ist die Schweizerin Andrea Keller, die den Preis für ihr Projekt „Das letzte Wort voraus. Schreib deinen eigenen Nachruf“ erhalten hat.
Andrea Keller hat den Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben an der Alice Salomon Hochschule in Berlin absolviert, an dem ich seit 16 Jahren als Dozentin für Schreibgruppenpädagogik lehre. Andrea Keller war also meine Studentin – und so freue ich mich doppelt: über und für die Preisträgerin sowie über die erfolgreiche erste Preisverleihung.
Mehr nachzulesen über Preis, Preisträgerin und Preisverleihung ist auf der Website des Segeberger Kreises.
Norbert Kruse (Vorsitzender des Segeberger Kreises, Susanne Barth (Lobende Anerkennung), Katrin Girgensohn (Jurorin und Laudatorin), Kirsten Alers (stellvertretende Vorsitzende), Andrea Keller (Preisträgerin), Hans Arnold Rau (Sponsor) (Foto: Karl Günter Rammoser)
2. Januar 2023
Mehr Fachläuten
12 Wünsche für das Neue Jahr
Für euch alle, die ihr mir hier treu folgt, für euch, die ihr hier gerade zum ersten Mal gelandet seid, und für alle Anderen auch:
12 Wünsche für die 12 kommenden Monate
Kommen und Gehen
Hirsebrei statt Kriegsgeschrei
Mehr Fachläuten
Somnambules Geschreibsel ohne Scham und Scheitern
Petrichor-Gesänge
Minimalismusmut
Ausflug ins Tal der Träume
Torte ohne Re
Mehr Grün
Schaukeln mit Lalla
11 Liter Zaubertrank
Weniger Spekulation – Spekulatius für alle
12. Dezember 2022
Ein Knoten
Und doch kein Knoten
Letztes Jahr schickte mir meine Schreibfreundin Barbara R. aus München dieses Foto. Und ich dachte: Solch einen Knoten zerschlägt frau doch nicht … Jetzt habe ich ihn wiedergefunden – und denke: Solch einen Knoten legt frau sich neben das Kopfkissen. Und was denkst du?
17. Oktober 2022
Pause
Ein Blogeintrag von Cambra Skadé
Beim Lesen einer der Prüfungsleistungen, die sich zu Dutzenden gerade auf meinem Tisch stapeln und begutachtet werden wollen, wurde ich auf den Blog von Cambra Skadé hingewiesen, aus dem ich den Beitrag von gestern gern zitieren möchte, er trägt den Titel Pause:
„In all den Turbulenzen, dem Dichten, dem Vielen und Schnellen – eine PAUSE. Überall spüre ich eine große Erschöpfung. Alles ist zu viel und der Wunsch nach Reduzierung von Terminen und Herausforderungen taucht allerorten auf. Weniger, Ruhe, Innehalten … Über leere Dorfstraßen schlendern, den Katzen in der Sonne zusehen, das alte Lied der Sehnsucht nach Mußezeit singen. Dem Wasser zuhören, das bei jedem Ruderschlag an die Planken schlägt. Seltsames mit dem Finger in die Luft kritzeln. THE END OF … IT ist zu spüren. IT? Unser bisheriges Leben? Summertime? Das Funktionieren? Für alle was anderes? Jedenfalls spürbar das Ende von … Mit dem Boot Richtung Meer, auf der Dorfstrasse Richtung Morgen. Wege ans Heimkehrfeuer?“
Ich bin berührt – und aufgescheucht zugleich …
Quelle: https://www.cambraskade.de/
19. September 2022
Die Bücherkiste
Geschenkte Überraschungen
Vor einigen Wochen schrieb mich Beate S., eine Kollegin an, ob ich Abnehmer:innen für rund 20 Bücher aus dem Kontext Schreibdidaktik und -beratung habe, sie wolle sie verschenken, weil sie ihren beruflichen Schwerpunkt verändert habe. Ich zögerte, ich bat um Bedenkzeit. Schließlich schrieb ich ihr, sie solle mir alle schicken, ich würde sie verteilen – dachte dabei auch an einige meiner Schreibschüler:innen, denn manches der Bücher hatte ich natürlich selbst im Regal.
Und dann kam das große gelbe Postpaket. Sooo viele Bücher! Ich schloss meine Werkstatttür und umlagerte mich mit all den Schätzchen. Ein Gefühl breitete sich in mir aus wie früher am 1. Weihnachtstag: Es gibt nichts zu tun als mich durch Bücher zu lesen, halb oder viertel, dann ein anderes, dann noch ein anderes, dann wieder zurück zum ersten … Allein, es fehlte dieser Tage der bunte Teller mit Schokolinsen, zuckerperlenbstreuten Schokotalern und Marzipankugeln.
Ein paar Bücher werde ich verschenken, aber die meisten behalte ich doch selbst wie z. B. die deutsche Erstausgabe des Klassikers Kreativität von Mihaly Csikszentmihalyi (Stuttgart: Klett-Cotta 1997) oder eine uralte Poetik in Stichworten, aus der ich Spannendes erfahren habe über Strophen- und Gedichtformen, das ich noch nicht kannte (dazu mehr in der nächsten Woche), ganz zu schweigen von rhetorischen Mitteln.
Und Beate bekam ein Dankes-Paket voll mit Leckereien aus dem Niederkaufunger Bioladen – Schokolinsen waren auch dabei.
25. Juli 2022
Auf der documenta fifteen
Kreatives Schreiben und Gestalten
Seit gestern läuft der jährlich stattfindende Wochenkurs Grenzüberschreitungen – Kreatives Schreiben und Gestalten, den ich mit meiner Kollegin Yara León bereits zum sechsten Mal leite. Und es ist Documenta in Kassel – daran kann man ja nicht vorbei gestalten, dachten wir uns und luden die Gruppe ein, am zweiten Tag des Kurses, sich mit der documenta fifteen, ihren Grundgedanken und ihrer Kunst zu verbinden, sich berühren zu lassen und in einen Prozess des Ausdruckfindens zu gehen – wie es die 14 auf der 15. Weltkunstausstellung anwesenden Künstler:innen-Kollektive auch tun. Nach einer Einführung von mir in das zentrale Documenta-Prinzip LUMBUNG machte sich jede:r selbst auf den Weg, zunächst durch die Ausstellungsräume im Hübner-Areal in Bettenhausen. Wir gaben den Kursteilnehmenden drei Aufgaben mit auf den Weg, eine für den Gang von Werk zu Werk, eine fürs Verweilen und die letzte zum mutigen Teilen: Ein kleines Holzklötzchen – beschriftet mit einem Wort – sollte irgendwo im Documenta-bespielten Stadtraum hinterlassen werden. Ich wählte ein Treppenpodest um ruruHaus, dem ,Wohnzimmer‘ der documenta fifteen.
2. Mai 2022
Blütenstaubfragmente schreiben
Novalis – geboren heute vor 250 Jahren
Einer der führenden Poet:innen der Frühromantik, Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, wird heute gefeiert anlässlich seines 250. Geburtstages. Ich neige nicht dazu, diesen Jubiläen allzu viel Bedeutung beizumessen, aber weil es gerade heute passt … Novalis schrieb in den wenigen Jahren seines Lebens (er starb schon mit 28) recht viel Wegweisendes. Wegweisend für mich war die Entdeckung seiner Blütenstaubfragmente und die Bedeutung, die er selbst (wie auch andere Frühromatiker:innen) dem Fragmentarischen beigemessen hat. Ist nicht das Fragmentarische, das Bruchstückhafte, das Unabgeschlossene auch geeignet, um unsere Welt, das Nebeneinander unterschiedlichster Realtitäten abzubilden? Hier möchte ich vier seiner Blütenstaubfragmente dokumentieren (die sich übrigens inhaltlich und formal auch als Schreibanregung anbieten könnten).
1. Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.
9. Unser sämtliches Wahrnehmungsvermögen gleicht dem Auge. Die Objekte müßen durch entgegengesetzte Media durch, um richtig auf der Pupille zu erscheinen.
51. Jeder geliebte Gegenstand ist der Mittelpunkt eines Paradieses.
114. Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem Punkt erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind litterarische Sämereyen. Es mag freylich manches taube Körnchen darunter seyn: indessen, wenn nur einiges aufgeht.
21. März 2022
Welttag der Poesie
Mitbringsel vom Fuße des Brocken
In der Kasseler Buchhandlung in Wilhelmshöhe kann man sich heute ein Gedicht vom PoeTree pflücken. Ich serviere hier ein paar lyrische Versuche der letzten drei Tage, die ich auf der Jahrestagung des Segeberger Kreises im Harz am Fuße des Brocken im Kloster Drübeck verbrachte. „Ich hätte singen sollen … Jetzt: Lyrik“ war die Tagung überschrieben. Es ging also um Lyrik.
Ich verbrachte die drei Tage in einer wunderbaren Gruppe, in der wir sieben immer bildnerisches und poetisches Gestalten miteinander verbanden. In einer Sequenz, in der wir mit einer Wortfigur (nach Gabriele Rico) starteten, entstand dann nach dem Zeichnen und dem anschließenden Automatischen Schreiben folgendes Gedicht:
bleibt klein nicht das Kleine
B-A-C-H (zu singen)
der Gesang der winzigen Wasserwesen
breitet sich aus
in Mauerritzen und Spionagetunneln
B-A-C-H (zu singen)
der Gesang der winzigen Wasserwesen
verdichtet sich
zu Oberton- und Sternenclustern
B-A-C-H (zu singen)
der Gesang der winzigen Wasserwesen
nährt
Mitochondrien und das Myzel
28. Februar 2022
Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin
Dichten gegen den Krieg?
Sollen wir denn beten, tanzen, singen, dichten, während ein Krieg in Europa herrscht und Schlimmstes droht? In allen Kriegszeiten haben die Menschen wohl zwecks Analyse, Beschwörung und (Selbst-)Beruhigung geschrieben, gegen den Krieg ohne Waffen agiert – mit Mitteln, die einer anderen Logik als der der Mächtigen und deren Waffen folgen. „Stell dir vor, es ist Krieg – und keiner geht hin“ oder auch „Schwerter zu Pflugscharen“ – so stand es an manche Wand gesprüht, damals, zu Zeiten des Kalten Krieges, des Aufbruchs der Neuen Sozialen Bewegungen wie der Friedensbewegung in den frühen 1980ern. Und heute? Noch habe ich nichts Gesprühtes gesehen, noch kein Gedicht gelesen, das sich auf den aktuellen Krieg bezieht, aber als ich die Bilder sah von der ukrainisch-polnischen Grenze, hinter der die Männer zurückblieben, um hinzugehen, in den Krieg, da kam mir das folgende – zugegeben auch rollenspezifisch etwas antiquierte – Gedicht in den Sinn:
Fantasie von übermorgen
Und als der nächste Krieg begann
da sagten die Frauen: Nein
und schlossen Bruder, Sohn und Mann
fest in der Wohnung ein.
Dann zogen sie in jedem Land
wohl vor des Hauptmanns Haus
und hielten Stöcke in der Hand
und holten die Kerls heraus
Sie legten jeden übers Knie
der diesen Krieg befahl:
die Herren der Bank und Industrie,
den Minister und General.
Da brach so mancher Stock entzwei
und manches Großmaul schwieg.
In allen Ländern gab's Geschrei,
doch nirgends gab es Krieg.
Die Frauen gingen dann wieder nach Haus
zu Bruder und Sohn und Mann
und sagten ihnen: der Krieg sei aus.
Die Männer starrten zum Fenster hinaus
und sahen die Frauen nicht an ...
Und dann fand ich eine Initiative des Kärntner Autors und Verlegers Lojze Wieser (Wieser Verlag), grenzüberschreitend „trotz alledem“ zu sagen
Dichten wir gegen diesen Krieg, der gerade aufgrund seiner besonderen Bedrohlichkeit die Welt umtreibt, wie gegen jeden anderen!
24. Januar 2022
Unterwegs sein
Und schreiben, immer
„Wie schreibe ich moderne Prosa? Ein Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber“, so ist die letzte Seite überschrieben im einstigen Kultbuch Unterwegs von Jack Kerouac (1957 in den USA und 1968 in Deutschland erschienen, meine Ausgabe ist die von 1979, Auflage 129.000 bis 140.000 steht im Impressum). Ich habe das Buch nie ganz gelesen, weil ich bei jedem Anlauf wieder genervt war vom selbstverliebt-überheblichen und im Grunde antisozialen Macho-Road-Man (auch wenn mich natürlich vieles betört und anderes erwischt hat). Auf dieser letzten Seite 285 aber geht es ums Schreiben. Ich habe sie wiedergefunden und wiedergelesen, als ich nach etwas ganz Anderem suchte … Hier ist sie für dich, weil es eben doch ums Unterwegssein geht, immer und bestenfalls auch schreibend.
Wie schreibe ich moderne Prosa?
Ein Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber
Liste der unentbehrlichen Hilfsmittel
1 Geheime Notizbücher und lose Manuskriptseiten, die du zu deinem eigenem Vergnügen vollgekrit- zelt beziehungsweise wild vollgetippt hast. 2 Gib dich jedem Eindruck hin! Öffne dich! Lausche! 3 Versuche, dich nie außerhalb deiner eigenen vier Wände zu betrinken. 4 Sei in dein Leben verliebt! 5 Etwas, was du fühlst, wird die ihm eigene Form finden. 6 Sei immer blödsinnig geistesabwesend! 7 Schlage so tief, wie du schlagen willst! 8 Wenn du etwas Unergründliches schreiben willst, hole es aus dem Grunde deiner Seele empor! 9 Die unaussprechliche Vision des Individuums. 10 Keine Zeit für Lyrik, aber genau Bescheid wissen. 11 Visionäre Krämpfe durchzucken die Brust. 12 Auge haftet in träumerischer Entrücktheit an vor dir befindlichem Objekt. 13 Beseitige literarische, grammatische und syntaktische Hindernisse! 14 Mach es wie Proust: Gehe mit dem Schatz deiner Erfahrungen und Erinnerung hausieren. 15 Erzähle die wahre Geschichte der Welt im inneren Monolog! 16 Im Zentrum des Interesses leuchtet juwelengleich das Auge innerhalb des Auges. 17 Schreibe aus der Erinnerung und sei erstaunt über die Ergebnisse. 18 Geh immer vom Kern der Sache aus, schwimm im Meer der Sprache. 19 Finde dich mit Verlusten ab, und zwar für immer! 20 Glaube daran, daß die Konturen des Lesens heilig sind. 21 Es gilt, die Flut, die in deinem Inneren bereits unversehrt existiert, aufzuzeichnen! Ringe darum! 22 Denke nicht gleich an Worte, wenn du dich nur unterbrichst, um das Bild besser sehen zu können! 23 Bleibe jedem Tag auf der Spur. Sein Datum schmücke deinen Morgen wie ein Wappenschild. 24 Empfinde weder Angst noch Scham, wenn es um die Würde deiner Erfahrungen, deiner Sprache und deines Wissens geht! 25 Schreibe, was die Welt lesen soll worin sie genau das Bild sehen muß, was du dir von ihr machst. 26 Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten, eindeutig die amerikanische Form. 27 Sei des Lobes voll, wenn du in der frostig kalten, unmenschlichen Einsamkeit einen Charakter findest. 28 Komponiere wild, undiszipliniert, rein! Schreibe, was aus den Tiefen deines Innern aufsteigt! Je verrückter, desto besser! 29 Du bist allezeit ein Genie! 30 Autor und Regisseur irdischer Filme, vom Himmel finanziert und heiliggesprochen.
Jack Kerouac, Evergreen Review, New York 1959
10. Januar 2022
BLÜTENLESE 2021
Rückschau auf 365 Tage 2021
Täglich.
Ein Wort.
Wort. Des. Tages.
Essenz. Stellvertretung. Geschenk. Fundstück. Wiederentdeckung. Neuschöpfung.
Eine. Art. Tagebuch. Blütenlese.
Täglich. Eine. Blüte.
Das. Wort.
Im gerade zuende gegangenen Jahr habe ich nicht nur notiert, mit wem ich täglich Kontakt hatte (interessant – auch jenseits von Corona), sondern auch pro Tag ein Wort. Ein deutlich unaufwändigeres Projekt als 2020:366, dennoch wirklich spannend – zumal in der Rück- und in der Zusammenschau.
Interessierte finden die Sammlung BLÜTENLESE 2021 inklusive der gestalterischen Verarbeitung (auch gern als Anregung zur Nachahmung zu betrachten) unter dem Reiter SprachKunst auf meiner Website.
6. Dezember 2021
Wiedergelesen 1
Anaïs Nins Tagebücher
1980 las ich sie zum ersten Mal, die Tagebücher der Anaïs Nin. In der Straßenbahn zu meiner Praktikumsstelle in der Gesamtschule Köln-Holweide. Stehend, weil die Bahn morgens immer voll war, einen Arm um eine Stange geschlungen, das Buch nah am Gesicht, weil ich so kurzsichtig und das Bahnlicht so schummerig war, aber auch, weil ich mich lieber ins Buch und zu ihr, die schon nicht mehr lebte (1903–1977), gebeamt hätte, als mich in diese angebliche Vorzeige-Schule, die mir doch wie eine der brutalsten Anstalten vorkam und nach einem Semester den Entschluss reifen ließ, niemals Lehrerin an einer Regelschule werden zu wollen. Aber zurück zu Anaïs Nin und dem Wiederlesen.
Damals las ich von einer mutigen, lust- und experimentierfreudigen Frau, erotisch-sexuell mutig, lust- und experimentierfreudig – vor allem diesen Aspekt sog ich auf und hob sie, diese wundervolle Person, neben Simone de Beauvoir auf meinen persönlichen Vorbilder-Olymp. Und wandelte mich, mit ihr, mit ihren Tagebüchern als Elexier im Rucksack.
Und nun las ich die Tagebücher erneut – und las ganz andere Tagebücher … Nein, so kann ich das nicht sagen … Ich las die gleichen Zeilen, aber ich las sie als eine Gewandelte, las sie nicht mehr als die 19-Jährige, die ich damals war, las sie als 61-Jährige und als Schreiblehrerin. Und fand Anderes, was mich anfasste: die besondere Art der Autofiktion, die Ausführungen über das Schreiben … Und ich erneuerte meinen Vertrag mit Anaïs – allerdings ist mein Olymp längst Geschichte, ich habe eine Tafelrunde gegründet, in der ich mich von Zeit zu Zeit mit wundervollen Frauen treffe: Simone ist immer dabei, Rosa, Friederike, Toni, Etel und Andere von Zeit zu Zeit.
Ein Stück, das ich fand beim Wiederlesen:
Wir schreiben […], um unser Bewusstsein vom Leben zu vertiefen […]. Wir schreiben, um das Leben zweimal zu kosten: im Augenblick und in der Rückschau […]. Wir schreiben, um unsere Leben zu transzendieren, um daraüber hinauszugreifen. […] Wir schreiben, um unsere Welt zu erweitern, wenn wir uns stranguliert fühlen, eingeengt und einsam.
Quelle: Nin, Anaïs (1974): Tagebücher 1947–1955. Frankfurt/Main: S. Fischer: S. 214
P.S. Und hier noch die Übersetzungen der Begriffe, die ich am 29. 11. für das Lexikonspiel vorgeschlagen habe, sie sind heute nicht mehr gebräuchlich, sozusagen ausgestorben wie Säbelzahntiger oder Dinosaurier.
- mappieren: Landkarten entwerfen
- kaudern: Zwischenhandel treiben, auch: mäkeln
- aushosen: der Flachs host sich aus, wenn er die Wurzelhülsen fallen lässt
- heunen: heulen, bellen wie Wolf und Fuchs
18. Oktober 2021
Denn was ist Lyrik?
Zur Vorbereitung auf eine Dichtungstagung
Am Samstag und Sonntag tagte eine zehnköpfige Gruppe in Berlin-Schöneberg, um die Segeberger Jahrestagung vorzubereiten. Die Tagung findet im März 2022 im Kloster Drübeck im Harz statt. Ich hätte ihr gern den Titel „abdichten“ gegeben, aber durchgestzt hat sich dann folgender poetischer und auch appellativer Titel: „Ich hätte singen sollen … Jetzt: Lyrik“. Rund 50 Menschen werden sich also dreieinhalb Tage lang mit Lyrik befassen. Sie werden sich kreativ schreibend auch die Frage stellen, was denn Lyrik heute ist, was sie auch ist jenseits des Altbekannten und immer wieder reproduzierten. Mein Vorstandskollege Claus Mischon gab spontan folgendes Gedicht von Nora Gomringer zum Besten – er nannte als Titel „Auf der Alm“, im Netz fand ich es unter zwei anderen Titeln, „Bauernidylle“ und:
Landleben
Vater, Mutter, Rind
Wer sich für den Segeberger Kreis, eine Vereinigung von SchreibpädagogInnen und -didaktikerInnen, und die Jahrestaung interessiert, kann auf der Website mehr erfahren:
13. September 2021
Wie sehr einem das Leben
erst gehört, nachdem man es erfunden hat
Neulich bekam ich ein Bücherpäckchen. Eine meiner langjährigen Schreibschülerinnen Marie-Luise E. hat ihre Regale gelüftet und mir zwei Anthologien mit Literaturvon Frauen geschickt. „Bei den beiden Büchern dachte ich, dass sie bei dir gut aufgehoben sein könnten …“, schrieb sie. Ja, dachte ich, denn ich habe eine umfangreiche kleine Bibliothek mit Literatur von Frauen … Hm, dachte ich, diese Bücher sehen aber alt aus … Dann kamen mir diese Kisten, die überall an den Straßen stehen und dann dem Regen überlassen bleiben, in den Sinn, und ich legte sie weg, erst mal auf den Stapel, der noch irgendwo einzusortierenden Bücher.
Und erst danach sprang mir der Titel des einen ins Auge: „Wie sehr einem das Leben erst gehört, nachdem man es erfunden hat“. Djuna Barnes ist die Autorin dieses Satzes, der zum Titel wurde. Ich war erfasst und traurig und und … Schrieb in der nächsten Schreibwerkstatt dazu, wie sehr mir das Leben erst gehört, seit ich … oder doch nicht …
Jetzt habe ich endlich das Buch auch aufgeschlagen und ertappte mich abermals bei dem Gedanken, dass da etwas vor mir liegt, das alt ist, das in eine andere Zeit gehört, das so heute nicht mehr erscheinen könnte, das nicht (mehr) passt. Vielleicht hat es auch 1997 (das Erscheinungsjahr, Bibilothek Suhrkamp) schon nicht (mehr) gepasst, nur damals hat das der Mainstream des Literaturgeschäfts, der exkludierend war und teilweise immer noch ist, nicht bemerkt – und ich hätte es womöglich auch nicht bemerkt. Versammelt diese Anthologie doch in erster Linie Literatur von weißen und (leider) toten Frauen wie Else Lasker-Schüler, Sylvia Plath oder Marie-Luise Kaschnitz. Die ich verehre, keine Frage. Aber … siehe oben.
Was aber dennoch bleibt: Vorgestern telefonierte ich mit meiner Freundin Ulrike M., einst eine meine Redaktionskolleginnen bei der Wuppertaler Frauenzeitung Meta M. (auch diese gehört in eine ganz andere Zeit), und wieder einmal waren wir uns einig, dass der Dualismus (man könnte auch sagen: der binäre Code), der die Welt regiert und in den Frauen und Männer automatisch einsortiert werden, nicht zuletzt verhindert, weiterhin und bis in die feinsten Verästelungen des Lebens verhindert, dass Frauen das, ihr Leben ,einfach‘ erfinden können.
So also werde ich diese so wunderbar betitelte Anthologie einsortieren und nicht in den Büchertauschschrank vor dem Bioladen stellen.
12. Juli 2021
Franz Mon:
immer mal wieder
Mein erster eigener automatisch geschriebener Text, die Lust an OuLiPo, die Dimensionen der Konkreten Poesie – einer hat mich insbesondere geprägt, angstochen, geradezu erschüttert, 2002 oder 2003 in Wolfenbüttel: Franz Mon. Ohne diese Weiterbildung zur Konkreten Poesie wäre ich eine andere, vielleicht weniger mutige, weniger experimentierfreudige, weniger kraftvolle Schreiblehrerin, vielleicht … Auf jeden Fall: Danke! Ein Text von Franz Mon zum Erfreuen, zum Nachahmen auch …
worttaktik
beschreibungen anritzen: ihre aufgetriebenen, gespannten hülsen reißen unter der niedlichen berührung. wortschaum wie wegerich quillt hervor. den zittrigen riss entlang mit der zunge drüberstreichen: haften die bläschen, die fäden auf den tastkörperchen, bis sie am gaumen breitgedrückt vom speichel ins hinterrücksgedächtnis gespült werden.
Quelle: Frankfurter Anthologie, faz.net< (Abruf: 28. 5. 2021)
28. Juni 2021
Was entstehen kann
OuLiPo – mehr als lustig
Am Wochenende habe ich endlich endlich einen Schreibworkshop durchgeführt, der sich einzig auf die contraintes (Verfahrensvereinbarungen, Regeln) der Gruppe OuLiPo (OuLiPo ist eine Art Akronym für Ouvroir la littérature potentielle – Werkstatt für mögliche Literatur) stützte. Viele Jahre schon wollte ich das tun … Und das, was Raymond Queneau, einer der Gründer der Gruppe 1960, einmal sagte, oulipotisches Arbeiten sei naiv, handwerklich und amüsant, hat sich absolut bestätigt. Sieben Teilnehmerinnen und ich haben gelacht, gespielt, gewerkelt und im Tun erkannt, welche möglichen Literaturen geboren werden können, wenn man sich diesen seltsam mathematisch oder auch absurd anmutenden Regeln stellt.
Recht bekannt sind etwa die oulipotischen Contraintes Tautogramm, Lipogramm und Monovokalismus.
Weniger bekannt ist wahrscheinlich die Regel, keine Satzzeichen verwenden zu dürfen. Ein Beispiel (von mir):
Das Und ist ein grandioses Wort und ersetzt ohne großes Gewese einfach ein Komma oder ein Semikolon oder einen Punkt oder gar einen Doppelpunkt und kann zudem noch alles miteinander verbinden und definiert damit zum Dritten auch noch quasi nebenbei in seiner akustisch unauffälligen und optisch minmalistischen Wesensart die Gleichartigkeit der durch es verbundenen Wörter oder Satzteile oder Sätze und ist so ohne Zweifel als eins der Wörter in der Kategorie „unverzichtbar“ zu diagnostizierenden und würde schmerzlich vermisst und beweint im Falle seines zweifelsohne dann durch allzu reduktions- und selbstverliebte Sprachverschlimmbesserer verursachten Ablebens.
Und wahrscheinlich völlig unbekannt ist die Contrainte Petite boîte (deutsch: Kleine Schachtel), die sich an den Silbengedichten Haiku und Cinquain orientiert und in sechs Zeilen 7 7 8 ? 8 7 Silben erlaubt (die vierte Zeile ist variabel und fordert insbesondere heraus). Ein Beispiel (von mir):
Als das Tabu ich hier traf
und mit Rotlicht nach ihm warf
dann mich fragte, ob ich das darf
kam es noch näher zu mir heran
Oh, dachte ich, jetzt wird es scharf
doch nur mein Bumerang traf
Zum Schluss verlosten wir jeweils einen unserer Lieblingssätze und gestalteten dann aus dem eigenen und dem gelosten Satz einen Text, der ausschließlich mit dem Wortmaterial der beiden Sätze operieren durfte. Teilnehmerin Verena N. las als letzte ihren Text vor, der mit dem Satz endete, der hier auch den Schlusssatz dieses Posts bilden soll (und der zeigt, welch Ernst aus dem Spiel entstehen kann): „Schwierigkeit ist nicht im Frausein inbegriffen, Schwierigkeit wird Frauen zugeschrieben.“
14. Juni 2021
Konzeptentwicklung
mit Zettelwirtschaft
Am Wochenende besuchte ich meine Kollegin Yara Semmler in Leipzig (www.pieceofpie.de) – wir wollten unsere fünfte gemeinsame Sommerwoche Grenzüberschreitungen – Kreatives Schreiben und Gestalten vorbereiten, die vom 18. bis 23. Juli in Kaufungen stattfinden wird.
Viele Themen, viele Ziele, dutzende von Übungen in unseren Köpfen … Wie entsteht daraus ein Konzept? Die beiden Bilder mögen es illustrieren.
Zuerst (in der Morgensonne) in die Breite, unsortiertes Notieren auf Zetteln, rund 100 waren es schließlich … Am Ende (kurz vor Mitternacht) Sortierung in sechs Kolonnen für die sechs Kurstage … na ja, also eher viereinhalb, traditionell lassen wir die Tage 5 und 6 noch sehr offen, um auf die Entwicklungen der Teilnehmenden reagieren zu können.
Wir sind zufrieden – ein neues Roh-Konzept steht, wie ein Roh-Bau, gefeiert haben wir das Richtfest mit Chips und Gewürztee!
7. Juni 2021
Friederike Mayröcker ist tot!
Ein Verlust für die deutschsprachige Literatur
Gerade stand sie noch auf derf Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, gerade habe ich ihr neuestes Buch gekauft: da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete (schon der Titel!!!). Und nun ist sie nicht mehr da, die alte … nein, nicht Dame, eher. Furie der deutschsprachigen Literatur. Am 4. Juni ist sie mit 96 Jahren gestorben, sie war und bleibt eine meiner LieblingsdichterInnen! Und weil in der HNA neben dem Nachruf ein Gedicht schon ewig toten Mannes stand – Peter Hebbel – (Bettina Fraschke ist sonst sensibler), poste ich hier einen der Texte von Friederike Mayröcker, denen ich als erste begegnet bin vor Jahrzehnten. Diesen habe ich geliebt, verschenkt und in Schreibwerkstätten als Impuls und/oder zum Nachahmen gegeben.
wie ich dich nenne
wenn ich an dich denke
und du nicht da bist
meine Walderdbeere
meine Zuckerechse
meine Trosttüte
mein Seidenspinner
mein Sorgenschreck
meine Aurelia
meine Schotterblume
mein Schlummerkind
meine Morgenhand
mein Vielvergesser
mein Fensterkreuz
mein Mondverstecker
mein Silberstab
mein Abendschein
mein Sonnenfaden
mein Rüsselhase
mein Hirschenkopf
meine Hasenpfote
mein Treppenfrosch
mein Lichterkranz
mein Frühlingsdieb
mein Zittergaul
meine Silberschnecke
mein Tintenfasz
mein Besenfuchs
mein Bäumefäller
mein Sturmausreiszer
mein Bärenheger
mein Zähnezeiger
mein Pferdeohr
mein Praterbaum
mein Ringelhorn
meine Affentasche
meine Winterwende
meine Artischocke
meine Mitternacht
mein Rückwärtszähler
(da capo!)
Ich nehme mir ein Beispiel an dir, oftmals schon und weiterhin. Radikal schreiben, keine Konsistenzen vortäuschen, Furie sein. „Ich bin noch jung in meinen Träumen, in meinen Träumen bin ich high“, schreibst du – vielleicht kann frau das ja auch ein bisschen im Leben. Mach’s gut, Friederike.
17. Mai 2021
2020:366
Was eine Schreibpädagogin sonst noch so treibt
Seit ein paar Jahren überschreite ich in meiner Arbeit als Schreibpädagogin Grenzen zu anderen Domänen, historisch zuerst zum Yoga, seit fünf Jahren zur Bildenden Kunst. So wenig, wie ich glaube, dass ich Yogi bin, so wenig glaube ich, dass ich Bildende Künstlerin bin – aber auf einer ganz anderen Ebene bin ich: Ich lasse mein Schreiben sich ausdehnen, lasse hinein, was hineinstrebt, verknüpfe es mit Nicht-Sprachlichem, verknüpfe mich mit Nicht-Sprachlichem. Experimentiere. Ich schreibe jeden Tag, seit Jahrzehnten. Es gibt genug Gelegenheiten in Kursen, aber hinzu gestellt sind Rituale wie das Morgenseitenschreiben, das mäandernde Notieren im Journal usw. Um auch im Künstlerischen eine Routine zu schaffen, sodass ich ,dranbleibe‘, erfand ich für das Jahr 2020 ein Jahresprojekt und gestaltete jeden Tag ein Bild, über das ich einen Text legte, 366 Tage. Und dann brach das Jahr 2021 an – und die 732 Blätter lagen geordnet in einem Pappkarton … Irgendwann beim Schneeschippen bei minus 15 Grad Anfang Februar war klar: Ich will es zeigen, ich will mich zeigen. Mit dem Jahresprojekt, mit meinen anderen zum Künstlerischen grenzüberschreitenden Projekten will ich mich zeigen. So entstand ein neuer Reiter im Menü meiner Homepage: SprachKunst .
Drei Beispiele aus dem Jahresprojekt:
5. April 2021
Funde am Karfreitag
Wörter auf der Untersuchungsliege
durch ein paar Zeitungsstapel gelesen (nicht weniger prokratinierend), also genauer gesagt habe ich die meisten Zeitungen und Zeitschriften (ZEIT, SZ … inkl. aller Magazine) nur durchgeblättert, irgendwie auch ein bisschen pflichtschuldig, einfach wegschmeißen geht eben doch nicht, selbst wenn sie schon sechs Wochen da liegen und ich die Lektüre nicht vermisst habe … Und dann finde ich ja auch immer etwas, das mich erreicht, das mich angeht.
Ausgerechnet in chrismon (4/2021) habe ich dann zwei mich erreichende, mich angehende Dinge gefunden:
- Ursula Ott, Chefredakteurin von chrismon, hat seit Kurzem einen Podcast: „Sprachstunde“. In diesem untersucht sie mit jeweils einem Gast zusammen ein Wort, das Menschen weh tut – und wenn diese Menschen ihr Verletztsein äußern, vehement verteidigt wird. Das jeweilige Wort kommt auf die Untersuchungsliege, bisher lagen dort die diese drei Wörter:
- Exotisch (die Mannheimer Schulamtsdirektorin Florence Brokowski-Shekete ist zu Gast),
- Problemstadtteil (die ehemalige Lübecker Kultursenatorin Annette Borns ist zu Gast),
- Männlichkeit (Gianni Jovanovic ist zu Gast, Unternehmer, Performer, Roma-Aktivist).
- Außerdem habe ich folgendes Zitat von Wladimir Kaminer gefunden (im Gespräch mit Barbara Schöneberger): „Mich hat meine Tochter aufgeklärt, dass ich sexistisch und rassistisch bin, das habe ich nicht gewusst. Aber wir sind alle so, nicht weil wir schlechte Menschen sind oder andere nicht mögen, sondern weil wir es nicht anders kennen, deshalb merken wir es nicht und empören uns, wenn uns jemand darauf hinweist. Meine Tochter lernt europäische Ethnologie und Genderstudies, sie macht jetzt den Master – und ich möchte auch den Master machen und die veränderte Welt besser verstehen" (S. 30). Wie schön, dass es Menschen gibt, die sich öffnen.
22. März 2021
Kleines. Täglich.
Texte aus dem Vorfrühlingskalender II
24 Mal bis zum 20. März habe ich tägliche Schreibimpulse versendet (siehe Blog-Post vom 22. Februar). Nun ist der Frühling da – und noch einmal (wie schon vor zwei Wochen, siehe Blog-Post vom 8. März) haben mir einige der Teilnehmerinnen Texte zur Veröffentlichung überlassen. Deutlich werden Motiv-, Themen- und Formenvielfalt. Viel Vergnügen beim Lesen. Und vielleicht regen auch wiederum die Impulse sowie die Texte zu eigenen Schreibversuchen an.
Türchen 13, 9. März: Beichte (Gedicht von Eva Strittmatter)
Keimzelle
Ruht in unsrem
Denken.
Ruht in unsrem
Traum.
Zerstörerisches
Lenken.
Zerstörerisches
Schaun.
Ruht in unsrem
Herzen.
Ruht in unsrem
Sein.
Erlöser
Aller Schmerzen.
Erwachter
Sonnenschein.
Sandra Engelbrecht
Türchen 16, 12. März: B-Mannschaft oder: Plan B
Die Bremer Stadtmusikanten hatten einen guten Plan. Sie wollten nach Bremen und richtig was erleben. Doch im Wald da sind die Räuber, und nachts sind alle Katzen grau. Da griff Plan B, denn der Hahn auf dem Dach ist allemal besser als der Knüppel aus dem Sack.
Doris Apel
Türchen 17, 13. März: Zeit für ein Corona-konformes Abenteuer
GERISSENERGEDULDSFADENNERVENKOSTÜMSSAMTHANDSCHUHE
Doris Apel
Türchen 19, 15. März: Betrachtungen über Brillen und andere Alltäglichkeiten
Venedig
Es ist unglaublich. Sogar beim Nachdenken über Brillen fällt mir ein Film ein, der in Venedig spielt, meinem Sehnsuchtsort. Märchenhaft unwirklich und doch auch real in dieser realen Lagunenstadt. Der Film heißt Brot und Tulpen.
Ich sehe den Ehemann vor mir, der seine Ehefrau an einer Autobahnraststätte vergessen hat – was schon grotesk genug ist. Er steht in Venedig an einem kleinen Kanal und scheint wie aus der Zeit gefallen. Mollig, um nicht zu sagen: dick, ungeschickt gekleidet, schwitzend dank der sommerlichen Hitze schaut er auf einen maroden, alten Kahn. Den hat er eben von einem etwas zwielichtigen Vermittler als Unterkunft gemietet, da angeblich jedes Bett in Venedig an Touristen vermietet sei. Getoppt wird die unrealistische Szene – es gibt in Venedig keine Wohnkähne, schon gar keine maroden, und doch passt dieser in die Szenerie –, also getoppt wird die Szene durch die Brille, die er auf der Nase trägt. Sie ist konventionell und unauffällig, gäbe es da nicht diesen grauenvollen Aufsatz gegen das helle Sonnenlicht. Er ist praktisch, da man ihn hochklappen kann, wenn es zu dunkel wird. Da in die engen Gassen Venedigs jedoch kaum Sonnenstrahlen fallen, trägt der Mann ihn ständig hochgeklappt wie einen Baldachin vor sich her. Auch er scheint wie aus der Zeit gefallen, wie fast alle Protagonisten im Film. Alles ist erfüllt von Melancholie, Abschied, Vergangenem, Sehnsucht, Verfall, von vergänglicher Schönheit, und alles ist dennoch liebenswert in und an diesem Film. Und Venedig ist die passende Kulisse. Nicht die Prachtbauten bestimmen sie, sondern das Alltägliche, Vernachlässigte und dennoch Großartige. Filmhandlung und Kulisse sind eins. Die grotesk anmutende altertümliche Brille gehört zu dem Ehemann, der nicht begreifen kann, warum er das Wichtigste verloren hat. Was für eine Symbolik für Venedig.
Brigitte Warlich-Schenk
Türchen 23, 19. März: Zum Greifen nah
Zum Greifen nah
Seit einem Jahr sind sie immer zum Greifen nah
unsere unangemeldeten Begleiter
sie zerknittern in der Hosentasche
verstecken sich im Handschuhfach
und hängen am Rückspiegel
Seit einem Jahr sind sie vor aller Munde
unsere neuen Accessoires
sie lassen uns nicht los
wollen nicht mehr verschwinden
und entführen unser Lächeln
Seit einem Jahr sind sie zum Greifen nah
die Masken
obwohl gar kein Maskenball auf uns wartet
Schade
Agnes Heisler
8. März 2021
Kleines. Täglich.
Texte aus dem Vorfrühlingskalender
Seit dem 25. Februar versende ich jeden Tag einen einfachen Schreibimpuls an Menschen, die sich zu diesem Kurs (siehe Blog-Post vom 22. Februar) angemeldet haben. Nun ist Halbzeit – und einige haben mir jeweils einen Text zur Veröffentlichung überlassen. Deutlich wird, dass die unterschiedlichen Impulse sehr unterschiedliche Texte hervorlocken. Viel Vergnügen beim Lesen.
Türchen 1, 25. Februar: Stifte-Skulptur
(Foto: Kirsten Alers)
Stiftewand
Der Himmel ist klar in hellblau getaucht und von keinem Wölkchen getrübt, und die Sonne grüßt mit freundlich wärmenden Strahlen. Frühlingserwachen überall. Die Außentemperatur liegt im zweistelligen Bereich. Dabei lag sie vor zwei Wochen noch zweistellig im klirrend kalten Minusbereich. Vergessen sind die dicke Schneedecke, die zugefrorenen Flüsse und Seen, die in ihren Parkbuchten festgesetzten, von Schneebergen umwallten Autos, die im Depot gebliebenen Straßenbahnen und die am Himmel fehlenden Flugzeuge.
Eine ungewohnte Ruhe bestimmte das Leben. Und die Menschen erinnerten sich fast ungläubig an die Winter, wie sie einmal waren. Nach dem ersten Schock genossen sie den Ausnahmezustand, der über sie gekommen war. Der helle Schnee lockte sie raus mit Schlitten und Skiern. Sie bauten Schneemänner und Iglus. Kinder kugelten dick eingepackt über Schneehänge und freuten sich. Die Sonne weckte erste Frühlingsgefühle und nährte die Hoffnung auf bessere Zeiten als die zurückliegende Corona-getränkten.
Und jetzt, zwei Wochen später, ist der Schnee fort, aber die Sonne geblieben. Erste Frühblüher recken plötzlich überall ihre Köpfe aus der Erde gen Himmel, und Vogelgezwitscher füllt die Luft. Erste Pollen quälen die Allergiker und die wärmende Winterkleidung bringt die Menschen zum Schwitzen. Die Umstellung ging zu schnell. Aber alle sind glücklich.
Die Sonne liegt warm auf der nahezu weißen Wand mit der davor schwebenden Skulptur aus drei parallel angeordneten Buntstiften einem gelben, einem grünen und einem roten. Man kann sie für Düsenjets halten, die synkron mit leicht gesenkter Nase im Sinkflug lautlos über eine Wüste – vielleicht die Sahara – streifen, unaufhaltsam ihrem imaginären Ziel entgegen, und ihren Schatten auf dem Sand zurücklassen. Frühlingserwachen ist Sehnsuchtserwachen. Wie schön wäre es, frei zu sein, um wie ein Vogel einfach davonzugleiten zu einem fernen Ziel, begleitet von den ersten wärmenden Sonnenstrahlen und einem kühlenden Lufthauch und voller Hoffnung.
Brigitte W.
Türchen 7, 3. März: ICH MAG DICH TEN
(Grafik: Yara Semmler)
Ich mag Gedichte
Ich – AngelSchnur
Ich – BackPinsel
Ich – ChatRoom
Ich – DeckMantel
Ich – EssZimmer
Ich – FegeFeuer
Ich – GrabHügel
Ich – HaltePunkt
Ich – IrrLichter
Ich – JubelPaar
Ich – KnallErbsen
Ich – LiebReiz
Ich – MischPult
Ich – NagelSchere
Ich – OpferStock
Ich – PlanÄnderung
Ich – QuasselStrippe
Ich – RufMord
Ich – SehHilfe
Ich – TretBoot
Ich – UlkNudel
Ich – VexierBild
Ich – WarnWeste
Ich – X-Beine
Ich – JoyStick
Ich - ZiehVater
Nicole Ohm-Hansen
Türchen 9, 5. März: Rosa Luxemburg, geboren am 5. 3. 1871
Berlin, 15. Januar 2019
Ich ziehe meine Mütze über die Ohren,
puste in meine Hände
und steh vor deinem unscheinbaren Grab
mit deinem großen Namen
ROSA LUXEMBURG
Polin, Bürgerin, Jüdin?, Übersetzerin,
Intellektuelle, Feministin, Revolutionärin,
Frau, Märtyrerin.
Deine kleine Gestalt mit Damenhut hinkt
unbeirrt den Herren und Arbeitern voraus,
um ihnen den Weg zur Freiheit zu zeigen.
Verschmäht, verehrt, gehasst, verfolgt,
festgenommen.
Die verwelkten Nelken wirbeln auf
und legen dein Grab frei.
ROSA LUXEMBURG
ERMORDET
15. JANUAR 1919
Ich schiebe meinen Schal über die Nase,
trete von einem Bein auf das andere
und sehne mich nach dir.
Wie gerne würde ich einen Tee mit dir trinken,
bevor dein geschändeter Körper
aus dem Landwerkanal gezogen wird,
damit du mir den Weg zur Freiheit zeigst.
Agnes Heisler-Intetrad
Türchen 10, 6. März:
Gedicht aus gezeichneten Pflanzenteilen (Mary Plant)
All die weißen Tage.
All die leisen Tage.
All die heißen Tage.
Sind sie Plage
oder nur
der Dinge Lage.
U. H.
Klone
Leise Linien
bilden Bilder
bilden Worte
bilden Dich
Zarte Zeichen
zeichnen Pflanzen
zeichnen Kräuter
zeichnen Mich
Freie Formen
formen Leben
formen Welten
formen Uns
Dich aus Linien
Mich aus Zeichen
Uns aus Formen
Klone der Kunst
Marlies Lamberg
1. März 2021
Magisches
Fund im Bücherregal
Manchmal ist es magisch – du gehst an deinem Bücherregal entlang, weil du ein Buch suchst, dessen AutorIn dir entfallen ist, das aber in deiner Erinnerung einen pinken Umschlagsrücken hat … und dann wirst du von einem magisch angezogen, obwohl es einen orangefarbenen Rücken hat … Es heißt Magische Blätter III. Du kannst dich nicht erinnern, jemals darin gelesen zu haben, du kannst dich noch nicht einmal erinnern, wie es in dein Regal gekommen ist. Manchmal nimmst du aus einer dieser Kisten vor den Häusern ein Buch heraus, manchmal bringen dir SchreibschülerInnen ihre aussortierten Bücher mit … Nun, jedenfalls ist es nicht verwunderlich, dass du es genommen oder behalten hast – es ist nämlich von einer der AutorInnen, die dich magisch anziehen: Friederike Mayröcker. Du schlägst es auf und liest:
„blauer Bericht / Erdichtungen
blauschielend der Morgen : hatte ich nicht seit Wochen auf einen solchen Morgen Morgenhimmel gewartet, gehofft, sehnsüchtig bin ich auf die Suche gegangen nach blau, alle Tage bin ich auf die Suche gegangen, habe kein blau gefunden, das mir unter die Röcke gefahren, mich angezischt, durchblitzt, durchflutet, aufgewühlt und geschunden hätte. Endelich, heute!, blauschielend der Morgen! an den Fenstern sinken stahlblaue Stores herab usw. […]“ (S. 38).
Friederike Mayröcker: Magische Blätter III. edition suhrkamp 1991
25. Januar 2021
Q-Spiele
Was aus Gesprächen werden kann
Am 12. Januar – ich war zu Besuch bei meinen Eltern in Mülheim – ging ich mit meiner Schwester Imke an der Ruhr spazieren, den ganzen Weg von der Mendener Brücke bis zur Ruhrtalbrücke und wieder zurück, sieben Flusskilometer. Wir sprachen über unsere Eltern, unsere Sorgen, unseren Umgang mit der Pandemie, unsere Söhne – und über Spiele mit Sprache, Lautpoesie, Vertonungen usw. (Imke ist Oboistin bei den Duisburger Philharmonikern und Musikvermittlerin im Verein Dinslakener Kinderkonzerte. Kaum war ich wieder in Kaufungen, bekam ich das folgende Blatt per Mail von Imke. Ich mag es sehr. Und es könnte (oder dürfte) anregend wirken!
21. Dezember 2020
Erfreuliche Einsichten
Sprache lebt und prägt das Denken
Beim Stöbern auf der Website des Hermann Schmidt Verlags fand ich in der Beschreibung des Buches von Maren Martschenko Design ist mehr als schnell mal schön (2020) folgenden Textausschnitt unter der Überschrift „Ein Wort zur Sprache“:
„Dieses Buch ist das erste Schmidt-Buch, in dem wir alles daran gesetzt haben, gendergerecht zu formulieren. Maren Martschenko und wir haben viele Varianten ausprobiert. Wir sind miteinander oft gescheitert an Binnen-I‘s und Gendersternchen.
Schließlich haben wir uns entschieden, hoffentlich konsequent, Gestalterinnen und Gestalter zu benennen und selten Gerundivformen zu bilden. Sprache lebt und Sprache prägt unser Denken. Wenn wir Gleichberechtigung ernst nehmen, ist es wichtig, sie sprachlich abzubilden. Wenn das noch ungewohnt ist, müssen wir uns daran gewöhnen. Das tun wir, indem wir es üben. Wir wissen nicht, welche Form sich durchsetzen wird. Bücher sind Zeugen ihrer Zeit. Dieses wird neben seiner inhaltlichen Bedeutung für immer das Erste sein, das in dem wir es immerhin konsequent versucht haben …“.
Der Hermann Schmidt Verlag ist nicht verdächtig, besonders feministisch zu sein, der so begründete Umgang mit dem Thema gendergerechte Sprache aber kann m. E. als nachahmenswert bezeichnet werden.
2. November 2020
Das war vorher
Ein Einfach-so-gesagt-Satz
Mit einigen meiner KursteilnehmerInnen wechsle ich manchmal schnell Mails hin und her, wenn wir gerade beide am Rechner sitzen.
Aus dem wildem Hin und Her mit Sanne, einer der Donnerstagsschreiberinnen und Nachbarin in Kaufungen, vom 3. Mai 2019, in dem es auch darum ging, was am Schreiben in der Gruppe so besonders ist, habe ich einen Satz herausgefiltert: „[…] mir machts auch deutlich Spaß – im Sinn von nachhaltigem tiefsinnigen Vergnügen!!!“, schrieb Sanne.
Und jetzt sitze ich wieder hier und weiß nicht, wie ich das nachhaltige tiefsinnige Vergnügen auch virtuell ermöglichen kann. Denn die Volkshochschulen haben zwar irgendwie geöffnet, aber nicht in allen Räumen usw.
Vor dieser Pandemie war es ein einfach zu habendes Vergnügen, das Schreiben in der Gruppe …
5. Oktober 2020
Manchmal ist etwas dabei
in diesen Kisten auf den Straßen
In den letzten Jahren hat sich eine neue ,Sitte‘ eingeschlichen: Wenn Menschen ihre Schränke leerer bekommen wollen, stellen sie nach dem Ausmisten ihren Mist, äh, ihre (ehemaligen) Schätze in Kartons an die Straße – vielleicht nimmt ja jemand etwas mit und erfreut sich daran noch eine Weile (und dann muss man sich nicht selbst um die Entsorgung kümmern).
Aus der Wortwahl und den Untertönen können die geneigten LeserInnen auf mein uneindeutiges Verhältnis zu dieser Sitte schließen, denn: Einerseits bleibt der Rest, den dann doch kein Mensch zu ,würdigen‘ weiß (angestoßene Suppenterrinen, von wem oder was auch immer zernagte Bilderbücher etc.) wochenlang und aufgeweicht einfach stehen, bis irgendjemand den Müll entsorgt, ich vermute, weil ich schon oft solch eine Kiste in meine Mülltonne gekippt habe, dass es in den meisten Fällen auch hierbei nicht nach dem VerursacherInprinzip geht; andererseits finde ich tatsächlich in jeder zweiten Kiste etwas, das ich – und das macht sogar irgendwie ein bisschen glücklich – an mich nehme: ein blaues Weinglas, ein Messbecher, an dem man tatsächlich die Skalen noch lesen kann, einen baumwollenen Strampler (der passt jetzt gerade Yuri, meinem dreieinhalb Wochen alten Enkel) oder ein Buch (und noch ein Buch für Uli und noch eins für Moja …). Mein letztes Mitnehmsel: Älter werden (2006) von Sylvia Bovenschen (es lag ganz alleine und ohne Kiste und nur ein bisschen augewellt vom Nachttau auf einem großen Sandstein vor Evas Einfahrt).
In den Bücherfunden finde ich natürlich dann Wunderbares. In Sylvia Bovenschens Langessay oder poetischem Bericht über das komplexe Thema Älterwerden fand ich direkt auf der ersten Seite diesen Satz: „Wann habe ich angefangen, die Menschen auf der Straße einzuteilen in diese, die leben wollen, und jene, die leben müssen?“ Und ich stellte mir direkt die Frage: Gehören die, die ihre Sachen an die Straße stellen, zur diesen oder zu jenen? Und mich fragte ich auch. Ich jedenfalls will und muss leben.
21. September 2020
Könnte sein, …
… weil genial
„immer n bißchen extrem / son poem“ – Raymond Queneau wird dieses Gedicht, dieser Zweizeiler, dieser Vers zugeschrieben (https://schreibheft.de/, Abruf 15. 9. 2020, 14.55 Uhr). Da ich Queneau (einer der Gründer der von mir hoch geschätzten Gruppe OuLiPo) sehr verehre, insbesondere, weil ich ihm einige meiner immer wieder verwendeten Lieblingsschreibimpulse verdanke, möchte ich das glauben, Queneau war Franzose, und mir ist nicht bekannt, dass er der deutschen Sprache mächtig war – vielleicht ist also Gedicht/Zweizeiler/Vers nicht von ihm, aber es/er könnte von ihm sein: weil witzig, weil verblüffend, weil kurz und prägnant, weil sprachspielerisch mutig, weil nur auf den ersten Eindruck banal, weil eben (fast unnachahmlich) genial.
31. August 2020
Wie sehr wir auch wollen –
manches bekommen wir niemals geschenkt
In Vorbereitung auf den Schreibworkshop, den ich nächsten Samstag in Bad Hersfeld leite (Rote Krähen hinterm Mond – Geschichten (er)finde mit Kreativem Schreiben) stieß ich auf folgenden Text: „Hör zu, Bea, was das Wichtigste ist und das Schlimmste, am schwierigsten zu verstehen und, wenn du’s trotzdem irgendwie schaffst, zugleich das Wertvollste: dass es keine Eindeutigkeit gibt. Das muss ich hier, ganz zu Anfang, schon mal loswerden – weil ich es immer wieder vergesse. Und vermutlich vergesse ich es deshalb, weil meine Sehnsucht nach Eindeutigkeit so groß ist und die Einsicht, dass es keine gibt, mich so schmerzt. Aber gleichzeitig ist sie auch tröstlich.“
So beginnt der 2018 im Berliner Verbrecher-Verlag erschienene Roman Schäfchen im Trockenen, der 2019 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Die Autorin Anke Stelling erzählt darin vom komplizierten Zusammenleben in einer alternativen Hausgemeinschaft.
Jetzt habe ich diesen Romananfang auf der Folie der Corona-Pandemie ganz neu gefühlt. Ich will denen, die in den USA Trump zujubeln, oder denen, die in Berlin individuelles Wollen mit Grundrechten verwechseln, zurufen: Ja, tatsächlich, es gibt keine Eindeutigkeiten, da ist die tägliche Herausforderung, immer wieder mit sich selbst und mit den vielen vielen Anderen mit ihren so unterschiedlichen Interessen ins Gespräch zu gehen, jeden Tag sich neu auszurichten, denn es gibt für diese auf der Erde so noch nicht erlebte Pandemie-Situation kein Handlungsraster mit Vorbildfunktion, und auch wenn die Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten noch so groß ist – sie wird sich nicht erfüllen, denn es gibt in einer solch herausfordernden Situation keine einfachen, vielleicht sogar überhaupt keine Wahrheiten, außer der jeweils individuell-eigenen – und die stößt bekanntlich, kaum verlasse ich mein Kämmerchen, an die erstbeste oder erstgruseligste einer Nachbarin oder eines Kollegen etc.
Viele haben Angst und/oder sind mit dem Alltag überfordert – wie gut das zu verstehen ist! Aber die daraus erfolgenden Übersprungshandlungen machen mir Angst! Weshalb es nicht egal ist, mit wem und mit welchen Argumenten ich versuche, meine Interessen in die Welt zu stellen, ist in einem lesenswerten, vielschichtig argumentierenden Artikel „Corona-Rebellen – Paranoia, Taktik und Spektakel - »Corona-Rebellen« und »Covid-Leugner«: Versuch einer Demaskierung“ von Georg Seeßlen nachzulesen.
17. August 2020
Sparen oder nicht
Die Frage von woanders aufgerollt
Zu meinem Geburtstag letzte Woche bekam ich von meinem Cousin die abgebildete Karte (was er mir auf der Rückseite schrieb, spare ich hier aus). Jenseits dessen, ob ich dem Inhalt zustimme (mal ja, mal nein, je nach Situation, je nach Kontext): Die Gestaltung des Satzes überzeugt durch die gelungene Passung zwischen Inhalt und Form. Spiele mit Sprache sind lustig – aber nur dann, wenn sie in irgendeiner Facette über das bloße Spiel hinausgehen.
6. Juli 2020
Zum Beherzigen:
Corita Kent zum Kreativen Tun
Gestern hat der Kurs Grenzüberschreitungen begonnen. In der Vorbereitung auf diese Woche Kreatives Schreiben und künstlerisches Gestalten mit meiner Kollegin Yara Semmler (Leipzig) habe ich, wie ich das immer tue, Impuls-Zitate gesucht – und bin noch einmal auf eine Frau gstoßen, die mich schon seit Jahren fasziniert: Corita Kent. „Die Ordensschwester Mary Corita leitete dreißig Jahre lang – bis 1968 – das Immaculate Heart College, eine katholische Hochschule in Los Angeles, welche sich durch ihre fortschrittlichen Kunstkurse rasch einen guten namen machte. Schwester Mary selbst war dank ihrer einzigartigen und gewagten Siebdruckeeine Vorreiterin der Pop-Art-Bewegung, darüber hinaus war sie mit Größen wie Alfred Hitchcock, Saul Bass und John Cage befreundet. Während ihrer Lehrzeit am College erstellte sie eine Liste von Regeln für das Insititut.“ Das steht in dem wunderbaren Buch Lists of Note (herausgegeben von Shaun Usher) auf S. 168. Regel Nummer 6 gaben wir den Teilnehmenden im Kurs Grenzüberschreitungen mit auf den Weg in ihre Wahrnehmungs- und Gestaltungswoche: „Es gibt keine Fehler. Es gibt keinen Sieg, es gibt kein Scheitern. Es geht nur um den Schaffensprozess.“ Möge diese Idee, die so entlastend und gleichzeitig so motivierend wirkt (meine ich), und in diesem Sommer zum kreativen Tun, welcher Art auch immer (Schreiben wäre eine Möglichkeit), ermutigen.
29. Juni 2020
Zum Denken:
Joseph Beuys
Ich liebe kluge Sätze mit du zum Denken. Klar, auch diesen ganz berühmten von René Descartes: „Ich denke, also bin ich!“ Ich habe vor einigen Jahren ein T-Shirt in einer dieser Kisten gefunden, die jetzt überall an den Straßenrändern stehen mit Dingen, die die Leute nicht mehr brauchen und die man einfach mitnehmen kann, auf diesem T-Shirt steht quer über der Brust: „Denken lohnt sich“. Ich mag die Farbe nicht so (irgendwie braun), deshalb trage ich das T-Shirt gern beim Arbeiten im Garten oder beim Renovieren – wenn Andere dabei sind, wird, sobald es warm wird und ich den Pullover ausziehe, eifrig genickt. Seit noch viel mehr Jahren hängt an meinem Schrank in der Schreibwerkstatt ein Zeitungsausriss aus irgendeiner Alternativzeitschrift aus den 1980er Jahren, darauf steht: „Niemand hungert, weil wir zu viel essen, sondern weil wir zu wenig denken.“ Das Nicken der diesen Satz Lesenden kommt zumindest verzögert, wenn es nicht ganz ausbleibt. Und jetzt habe ich einen ebenfalls alten Satz (wieder)gefunden, er stammt von Joseph Beuys – und ich würde ihn nicht ungerahmt in meiner Werkstatt aufhängen oder auf einem T-Shirt tragen, obwohl ich ihn derzeit so gern allen möglichen Menschen entgegenschleudern würde und dann auch zu gern die Macht hätte, ihn in die Tat umzusetzen: „Wer nicht denken will, fliegt raus!“
21. Oktober 2019
Sprache ermöglicht
... und engt ein
Manchmal sammle ich Zitate, die ich irgendwann noch mal gebrauchen will. Dann speichere ich sie irgendwohin und ... vergesse sie. Wenn ich sie dann wiederfinde, bin ich ganz beglückt, wenn sie immer noch ein Nicken, ein lautes Ja, begeisterte Zustimmung in mir auslösen. Ich fand folgendes Zitat also wieder, als ich nach Material zum Lesetagebuch suchte (das mit dem Lesetagebuch verfolge ich dann ab morgen weiter):
„Wenn verschiedene Sprachen den Geist ihrer Sprecher auf unterschiedliche Weise beeinflussen, dann nicht wegen der Dinge, die jede einzelne Sprache den Menschen zu denken gestattet, sondern vielmehr wegen der Art von Informationen, zu deren gedanklicher Berücksichtigung jede Sprache ihre Sprecher gewohnheitsmäßig verpflichtet.“
Genau, rufe ich Guy Deutscher, dem Verfasser dieses Satzes zu. Er ist Linguist und Mathematiker und unterrichtet an der Universität Manchester. Genau. Wobei ich sagen möchte: Auch den ersten Teil des Satzes, den Deutscher verneint, würde ich bejahen, denn es macht doch wohl einen Unterschied eben auch fürs Denken und das Verständnis von Welt, ob ich sechs grammatische Zeiten oder zwölf zur Verfügung habe oder ob ich es gewöhnt bin, ein Genus (wie im Englischen) zu verwenden oder drei Generi (wie im Deutschen: Femininum, Maskulinum, Neutrum). Oder ist das etwa das, was Deutscher meint? Dass ich gedanklich zu berücksichtigen habe, von welcher Vergangenheit ich spreche und ob ich, wenn ich Studenten sage, wirklich nur männliche Studierende meine?
Auf jeden Fall ein Zitat, um darüber nachzudenken – und über die Struktur von Sprache und was sie uns verpflichtet, gedanklich zu berücksichtigen. So wäre also z. B. weiter zu fragen, ob die Sprache, in deren Verbreitungsgebiet ich lebe und die ich gewohnheitsmäßig spreche, meine Weltwahrnehmung prägt oder ob meine Weltwahrnehmung Sprache prägt.
Quelle: Deutscher, Guy (2010): Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. München: C. H. Beck
9. September 2019
Ein Verlust
Toni Morrison ist tot
Als erstes Buch von Toni Morrison las ich Menschenkind. Und war erschüttert. War aufgewühlt, wollte das alles nicht hinnehmen – obwohl es lange her und weit weg geschehen war und ich doch gar nicht betroffen, oder etwa doch? Obwohl ich nicht schwarz und nicht arm bin, (fast) nicht diskriminiert werde? Toni Morrison zog mich, wie andere WegweiserInnen zuvor, hinein in (m)eine Verantwortung für das Hinschauen, für das Nicht-Hinnehmen.
Heute ließ mir meine Kollegin Lahya Aukongo ein Zitat von Toni Morrison zukommen, das ich hier sehr gern wiedergeben möchte, nicht zuletzt weil auch ich eine Lehrerin bin: „Ich sage meinen Studierenden: ,Wenn Sie diese Jobs bekommen, für die Sie so hervorragend ausgebildet wurden, dann denken Sie daran, dass Ihr eigentlicher Job darin besteht, wenn Sie frei sind, einen anderen Menschen zu befreien. Wenn Sie etwas Macht haben, dann ist es Ihre Aufgabe, jemand anderen zu ermächtigen […]’.“ („I tell my students, ,When you get these jobs that you have been so brilliantly trained for, just remember that your real job is that if you are free, you need to free somebody else. If you have some power, then your job is to empower somebody else [...]’.”)
Toni Morrison starb am 5. August mit 88 Jahren in New York. Sie war Schriftstellerin und bekam 1993 den Literaturnobelpreis, sie war aber auch als Lektorin Förderin der afroamerikanischen Literatur und unterrichtete bis 2006 als Professorin Literatur und Creative Writing an der Princeton University.
26. August 2019
Nichts ist schwerer
Nur Mut!
Ein Zitat (das ich neulich am Eingang zur Küche der Kommune Niederkaufungen fand) soll den schreibkreativen Altweiber- oder auch IndianerInnensommer einläuten: „Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“, schrieb Kurt Tucholsky.
Nein sagen zu Ausbeutung von Mensch und Tier und Erde. Nein sagen zu Diskriminierung und Menschenverachtung. Nein sagen zu Hass, Rassismus und repressiver Toleranz. Nein sagen und Nein schreiben – in Briefen an FreundInnen, in Sozialen Netzwerken, in der Straßenbahn usw. Wer wenn nicht wir. Wann wenn nicht jetzt.
Meine Arbeit als Schreibpädagogin verstehe ich als politisch – anfangend beim Umgang miteinander und mit unseren Texten in der Gruppe über die Idee, dass Schreiben emanzipatorisch wirkt, bis hin zur bewusstseinserweiterndern Befruchtung in literarischer Geselligkeit. In diesem Sinne lade ich ein zum Schreiben – und bitte, den aktuellen Newsletter zu beachten.
29. Juli 2019
Gute Reise!
Oder einfach: frohes Sommern
Es ist ja auch in Deutschland Sommer, es gibt sogar zwei Meere und noch das Steinhuder Meer und weitere Seen und viele Flüsse und Plätzchen zum Schreiben und Lesen in Hülle und Fülle. Also, falls die Fridays-for-Future-Bewegung Früchte trägt oder Anderes die Flugreise verhindert (ja!), hier ein Trost- und Lach-Gedicht von Joachim Ringelnatz (gefunden und ausgesucht von einer, die sowieso nur einen Platz im Schatten mit Tisch und Stuhl im Sommer braucht), zum Lesen (und möglicherweise ja auch als Schreibimpuls).
Die Ameisen
In hamburg lebten zwei Ameisen
die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der der Chaussee
da taten ihnen die Beine weh
und da verzichteten sie weise
dann auf den letzten Teil der Reise
29. April 2019
Kein Tag ohne Zeile
Schreiben – auch ohne Sinn und Verstand
„Nulla dies sine linea“, soll einst Gaius Plinius Secundus d. Ä., ein römischer Universalgelehrter (23–79 n. u. Z.) gesagt (oder geschrieben oder vom Maler Apelles übernommen) haben. Paul Klee, Künstler und Bauhaus-Lehrer, notierte im Jahre 1938 in sein Werk-Verzeichnis unterhalb der Werknummer 365 (eine Bleistiftzeichnung mit dem Titel Süchtig): „kein Tag ohne Linie“. Und so sollte es doch sein, nehme ich das Tun, das künstlerische, ernst. Auch wenn ich nichts zu sagen habe, wenn ich gar nicht weiß warum – ich nehme jeden Tag mehrmals den Stift in die Hand. Und schreibe. Setze Linien, Bögen, Schleifen, Zeile um Zeile. Kein Tag ohne Zeile also. Ist empfehlenswert. Ist irgendwie auch wie Zähneputzen – da frage ich mich ja auch nicht jeden Tag, warum und wieso und ob das nötig ist usw.
8. April 2019
Spiele mit dem Konjunktiv (1)
Auch schon vor 50 Jahren
Manchmal finde ich etwas und schreibe es auf einen Zettel und stecke den Zettel irgendwo hin und finde ihn mehrmals im Jahr, werfe ihn nicht weg, obwohl ich nie etwas mit ihm direkt anfangen kann, er passt in keinen Text, hat sich bisher noch nicht als Schreibimpuls aufgedrängt, gerät auch nicht an die Pinnwand – aber irgendetwas ist mit dem Gefundenen ... So geht es mir mit folgendem Zitat des Philosophen Ernst Bloch: „Vieles fiele leichter, könnte man Gras essen.“
Vieles fiele leichter, könnte man ... – auch in reduzierter Form als Schreibimpuls geeignet.
Vor 50 Jahren schrieb Bloch diesen Satz. 1969 war ich neun Jahre alt. Vielleicht hätte ich damals den Satz so beendet: Vieles fiele leichter, könnte man Geschwister gegen Bücher eintauschen.
Und was heute so alles leichter fiele, könnten wir Gras essen – oder verzeihen oder zurückweichen oder an eigenen Konstrukten zweifeln oder ... eben Gras essen.
(aus Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung, 1969)
25. März 2019
Komplizierte Verhältnisse
und das Ende des Stammbaum-Denkens
Als ich gestern im Zug saß, wieder einmal auf der Rückfahrt von einem Kurs auf Sylt, schenkte mir eine der Teilnehmerinnen einen Zettel mit folgendem Text mit dem Titel Komplizierte Verhältnisse von Heribert Prantl, der hiermit weitere Verbreitung finden soll.
„Jungfrauengeburt meint etwas ganz anderes, nichts Biologisches, sondern etwas Geistliches. Die Wahrheit über diese Jungfräulichkeit findet man nicht bei einer gynäkologischen Untersuchung. Die Evangelisten, die über die Jungfrauengeburt schreiben, sind Theologen, keine Sexologen. Sie sprechen nicht von der menschlichen Fortpflanzung, sondern vom Fortschritt des Menschlichen. Die Jungfrauengeburt ist eine Chiffre für die emanzipatorische Idee, sie ist ein Freiheitsbegriff. Die Sprache der Bibel und des Credos ist hier eine mythische, keine historische oder naturwissenschaftliche.
,Jungfrauengeburt’ soll besagen, dass etwas ganz Neues zur Welt kommt, das nicht männlicher Macht entspringt. Die Weihnachtsgeschichte beginnt mit dem Abschied vom Patriarchat. Das Neue kommt ohne Zutun männlicher Potenz zur Welt – durch die Macht des Geistes. ,Geist’ ist in der hebräischen Bibel feminin, eine Die, eine schöpferische, weibliche, pfingstliche Kraft: Sie reformiert, revolutioniert, sie macht neu. Daher heißt es Magnifikat, im Lobgesang Marias: ,Gott stürzt die Mächtigen vom Thron’.
Die Legende von der Jungfrauengeburt legt also die Axt ans Stammbaum-Denken und die klassischen Machtstrukturen. Die Geschichte, dass alles vorbestimmt ist durch die Abstammung und dass es nur einen Vater geben kann, ist zu Ende. Die Weihnachtsgeschichte ist also auch eine tröstliche Geschichte für all die Menschen, die in komplizierten Familienstrukturen leben. Schon für das Kind in der Krippe sind die Verhältnisse kompliziert.“
Quelle: Der andere Advent, 2015.
Heribert Prantl ist Jurist, Journalist und Autor, war lange Jahre Leitartikler, Redakteur und Ressortleiter bei der Süddeutschen Zeitung.
18. März 2019
Im Kasseler Stadtmuseum
Tragbare Feldbüchereien für die Front
Gestern besuchte ich mit meiner Donnerstagsschreibwerkstatt die Ausstellung 1918: zwischen niederlage und neubeginn im Stadtmuseum Kassel. In der ,Schützengraben-Abteilung’ war eine Tragbare Feldbücherei ausgestellt – noch nie hatte ich von so etwas gehört.
„Auf Anregung eines Soldaten entwickelte Reclam 1914 die ,Tragbare Feldbücherei. Eine Auswahl für Schützengraben und Standquartier aus Reclams Universal-Bibliothek’. Es erschienen fünf verschiedene Büchereien mit je 100 Nummern (nicht 100 Heften), darunter auch einige Doppelnummern, jeweils zum Preis von 20 Mark. Die Feldbüchereien bestanden aus festem, handlichem Karton und verfügten über eine Trage- und eine Verschlussvorrichtung.“ (Quelle: Literarisches Museum e.V., Leipzig)
Gemütliches Lesen im Schützengraben? Die Klassiker an der Front? Wozu? Zur Ablenkung vom großen Donnern, vom eigenen Zittern? Zur Erbauung oder um die Hoffnung auf ein Danach nicht zu verlieren? Mir entschlüpft ein bitter-sarkastisches Auflachen, weiß ich doch, dass im 1. Weltkrieg Millionen Soldaten vergeblich auf ein Danach gehofft haben – immerhin durften sie vorher Goethe und Schiller, vielleicht sogar Heines Wintermärchen lesen, pah!
25. Februar 2019
Zufällige Begegnung im Zug
mit einem 2. Gedicht mit Amsel
Als ich im Zug saß nach Sylt, setzten sich zwei Männer mir gegenüber – von denen ich sogar einen flüchtig kannte. Der andere bekam während der Zugfahrt (sie wollten zur Biike-Woche, ebenfalls ins Jugendseeheim, so hatten wir viel Zeit, etwas von uns zu erzählen) von einer Berliner Freundin ein Gedicht geschickt. Diese Freundin schickt jeden Monat ein Gedicht an ihren Freundeskreis – was für eine schöne Idee (die Versuchung, die Idee zu klauen, ist groß). An diesem 17. Februar also bekam er – passend zum Februar und zu den sich täglich vermehrenden Vogelstimmen draußen – folgendes Gedicht von Eva Strittmatter (1930–2011):
Ansprache an die Amsel im Februar
Turdus merula merula,
liebe Amsel, wann singst du uns wieder?
Dein Name lateinisch klingt lieblich.
Und lieblich, als wären es Lieder,
füll’n deine Zeichen aus Tönen das Tal.
Ach ja, liebe Amsel, das war einmal!
Doch kommt es nun wohl bald wieder.
Du bliebst ja bei uns und frissest Spreu,
wenn die Sperlinge Korn dir nicht lassen.
Vor ihrem Schwarm bist du Sänger scheu.
Doch bald wird die Zeit dir passen,
und du herrschst wieder mit Stimmgewalt
über Garten, Wiese, Bach und Wald,
und sie können’s wieder nicht fassen,
dass dein plumper schwarzer Balg so klingt,
all über ihre Begriffe!
Und ihr ganzes schwirrendes Volk vollbringt
nichts als Tschilpen und flüchtige Pfiffe!
Amseln scheinen DichterInnen zu inspirieren. In meinem Blogeintrag vom 13. März 2017 habe ich auch schon ein Amselgedicht (von Wallace Stevens) zitiert, jenes ist noch inspirierender für das eigene Schreiben (siehe Blogeintrag vom 24. Juli 2017).
4. Februar 2019
AMVK-Vibrationen
Nach einem Ausstellungsbesuch
Noch bis zum 24. Februar zu sehen ist die Ausstellung AMVK (Anne-Mie Van Kerckhoven, belgische Künstlerin, geboren 1951) im Fridericianum Kassel. Ich bin einfach hingegangen, spontan am letzten Donnerstag. Wollte sehen, wollte wissen – warum gerade diese Ausstellung? Ich wusste es nicht, irgendetwas zog mich an, hin ... Jetzt weiß ich es. Es ist zweierlei: Zum Einen ist es der feministische Blick auf die Welt, der sich in so vielen Werken spiegelt. Zum Anderen ist es das Verständnis von Kunst-Machen, das meinem ähnelt: als Akt, zu demonstrieren und zu dekonstruieren, radikal aufzudecken und auf den Dialog zu hoffen, als Versuch, Perspektiven zu verstehen und Menschlichkeit zu gestalten, als Forschung auch. „Die Forschung ist kein exklusives Privileg derer, die wissen, sondern ist die Domäne derer, die nicht wissen“, so Robert Felliou (Dichter und Künstler, zit. nach der Begleitzeitung des Fridericianums).
Besonders fasziniert haben mich (was wahrscheinlich nicht verwunderlich ist) die Werke, in denen auch Wörter, in denen Sprache eine Rolle spielen. Wörter wie BASIC, DEEPER, ENDLESS EMOTIONS, INDEPENDENCE, SUPPORT, VIBRATIONS. Oder die Ausdrücke/Sätze „Variation als Prinzip”, „Die Wahrheit hat keinen Stil”. Zur Nachahmung angeregt haben mich Vam Kerckhovens Verwendungen von alten Teppich-, Stoff- und Tapetenkatalogseiten, die sie mit Akrylfarbe und Lackstiften (oder Lebensmittelfarbe?) bearbeitet hat.
Auch ansprechend fand ich die mathematisch inspirierten Experimente, ein Beispiel: Kunst verhält sich zur Politik wie die Zeit zur Philosophie.
Und dann ist da noch der Rausch der Variation, hunderte Zeichnungen, einige wenige Themen mit Variationen. Nicht das EINE große Werk, sondern das Kaleidoskop, das dann irgendwann das Werk ist, eigentlich aber Blicke zeigt, Augenblicke in Augenblicken des Gewahrwerdens, der Auffindungen, der Erkenntnis, aber auch des wieder und wieder das gleiche sagen, zeigen müssen, vertiefter, komplexer, immer wieder. Analog und digital, körperlich und abstrakt, mit Zeichnungen, Collagen, Installationen, Filmen, mit und ohne Wörter. Versuche, Wiederholungen, Umkreisungen, Grabungen. Lebenslang. Hier bin ich in innigster Verbindung mit AMVK.
31. Dezember 2018
Wünschen, Wagen, Spielen
Gutes Neues und Glückauf!
„Es ist doch nicht des Habens wegen, dass man lebt, sondern des Wünschens, des Wagens, des Spielens wegen, dass man lebt.“ Das schrieb B. Traven (1882–1969) in seinem Roman Das Totenschiff, der 1954 bei Rowohlt erschien. Das erscheint mir ein gutes Motto, um leichtfüßig und gleichzeitig demütig ins neue Jahr zu gehen oder zu hüpfen oder zu rutschen, um 2019 zu wünschen, zu wagen, zu spielen! Glückauf (trotz Schließung der letzten Steinkohlezeche im Ruhrgebiet letzte Woche muss ich diesen Ruf versenden) für 2019!
Wer mehr über B. Traven alias Ret Marut alias Otto Feige (?) wissen will, schaue hier.
19. November 2018
Nicht unglücklich verharren:
Anleitung zum Perspektivenwechsel
Der österreichische Psychologe Paul Watzlawick hat einiges mehr verfasst als sein vielleicht berühmtetes Buch Anleitung zum Unglücklichsein (1983). Ich habe schon vor langer Zeit einen Satz gefunden (im Kontext seiner Kommunikationstheorie mit fünf Axiomen der menschlichen Kommunikation), der mich immer wieder, wenn ich ihn lese, erschüttert. „Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, bevor ich die Antwort meines Gegenübers gehört habe.“
29. Oktober 2018
Ein Kellerfund
Manchmal überraschen wir uns selbst
„Ich habe das Gefühl, Sie glauben, daß Sie verstanden hätten, was Sie meinen, was ich gesagt habe – aber ich bin nicht sicher, daß Sie begriffen haben, daß das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich gemeint habe.“ (Notiz aus einer vergangenen Zeit von Emmi Poguntke, den sie im Oktober 2018 in ihrem Keller fand und mir zum Vergnügen schickte)
2. Juli 2018
25 Jahre Schreiblehrerin
… und kein bisschen müde!
Am 23. Juni haben wir gefeiert. Also, ich ließ mich feiern: Mit den SchreibschülerInnen aus meinen aktuell fünf fortlaufenden Kursen durfte ich einen halben Samstag lang im Mitbringbüffet und in literarischen Beiträgen schwelgen.
1993 leitete ich den ersten Schreib-Workshop in Wuppertal, damals einen mit journalistischer Ausrichtung: Rund ums Zeitungmachen. Viele Menschen sind seither zu mir gekommen, um zu schreiben, etwas zu lernen, sich die Zeit zum Schreiben zu nehmen, literarische Geselligkeit in der Gruppe zu erleben, sich und der Welt schreibend Ausdruck zu verleihen. Menschen von 8 bis 88. Es hat sich in meiner Art zu unterrichten einiges verändert, aber die Grundsäulen (Vermittlung kreativer Schreiblust, von Handwerkszeug und Zutrauen zum eigenen Blick auf die Welt) stehen nach wie vor. Und dass ich mich als Texthebamme verstehe, als Schreibprozessbegleiterin.
Seit 1999 bin ich freiberuflich unterwegs – und seit 2006 lebe ich nahezu ausschließlich vom Unterrichten, u. a. an der VHS, an der Alice Salomon Hochschule (Berlin), an der Uni Kassel – dem Ruf gefolgt zu sein, der mich in einer Schreibwerkstatt, an der ich ebenfalls 1993 in Wuppertal teilnahm, macht mich heute noch staunen und überaus zufrieden, gehöre ich doch zu den Privilegierten, die ihre Berufung zum Beruf machen konnten. Auch das galt es zu feiern.
Hier nun, als Dank und Wertschätzung, ein Text von den vielen, die mir am vorletzten Samstag geschenkt wurden:
Ein Limerick von C. K.
Literarisches Schreiben lehrt Kirsten
vom Grundstein bis hoch zun den Firsten
da stöhnt manche voll Glut
der Gedanke war gut
aber willste ihn fassen, verliersten
11. Juni 2018
Haikus
oder so etwas Ähnliches
Eigentlich sind Haikus mir heilig, ich lehne es ab, sie für jede Art von Inhalt einzusetzen, versuche, das Meditative des Herstellens mit zu vermitteln usw. Dennoch – als ich (in alten Unterlagen) auf die folgenden Haikus stieß, hatte ich doch Spaß daran:
Polizeiku von meiner Kasseler Jana Ißleib (2012)
Stillgestanden Halt!
Bevor die Knarre schallt
Ausweiskontrolle
Keks-Haiku vom Poetry Slammer Jan Philipp Zymny (2014)
Tuc Tuc Tuc Tuc Tuc,
Tuc Tuc; Tuc Tuc Tuc; Tuc Tuc.
Tuc Tuc Tuc Tuc Tuc!
21. Mai 2018
Von wo aus ich spreche
Ein Essay zu einer falsch geführten Debatte
In letzter Zeit bin ich stark beschäftigt mit dem Thema Feminismus und Genderphilosophie, versuche mich zu positionieren, meinen Standort, von dem aus ich denke, spreche, schreibe, zu klären. Dabei stoße ich auf Positionierungen Anderer, die mich berühren, Ja sagen lassen. So wie der von Miriam N. Reinhard, die mir freundlicherweise erlaubt hat, ihr Essay, das ich vor einigen Wochen in der Krampfader las, hier zu posten.
(Eine Erstfassung dieses Essays erschien in: Krampfader, der Kasseler Frauen- und Lesbenzeitschrift IV 2017: http://www.feminismus-zeitung.de)
FEMINISMUS CONTRA GENDERPHILOSOPHIE?
Position zu einer aktuellen Debatte
von Miriam N. Reinhard
1. Scheingefechte
Die Ausgaben der EMMA im Juli/August und September/Oktober 2017 bieten Artikel, die Paukenschläge sind und damit auch über ein feuilletonistisches Interesse an feministischen Themen hinaus Kreise ziehen. So lobt etwa die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) in einem Interview mit Focus-Online vom 27. 8. 20171 ganz ausdrücklich, dass Schwarzer „Fehlentwicklungen an Genderlehrstühlen“ kritisieren würde, ohne dazu auch nur einen einzigen inhaltlichen Punkt zu nennen, den sie an Schwarzers Kritik nun konkret für unterstützenswert hält. Vielleicht liegt es daran, dass Schwarzer selbst ihre Kritik auch kaum inhaltlich in Bezug auf Genderphilosophie konkretisiert. In einem in der Juli/August-Ausgabe der EMMA publizierten Dossier werden die Gender-Studies, wie sie maßgeblich von der Philosophieprofessorin Judith Butler vertreten werden, u.a. als „Sargnägel des Feminismus“2 bezeichnet. So legen etwa Sabine Wettig und Vojin Saša Vukadinović in ihren Beiträgen dar, dass die Genderphilosophie und Theorien, die in ihren Augen mit ihr korrespondieren, einen „reaktionären Kern“3 enthalten; sie würde sich unkritisch und verklärend zum Dschihadismus verhalten und „Studierende oftmals nicht schlauer, sondern in vielen Fragen dümmer machen“4. In derselben Weise haben bereits die Aufsätze des im Februar 2017 im Queer-Verlag erschienen Sammelbandes „Beißreflexe“ Kritik an der Genderphilosophie und den Critical Whiteness Studies geübt; die Essays des EMMA-Dossiers sind zum Teil von denselben Autor_innen verfasst.
Gegen die im EMMA-Dossier erhobenen Vorwürfe argumentieren Judith Butler und die Berliner Professorin Sabine Hark in einem Artikel in DIE ZEIT vom 2. August 20175 und beklagen das „Erstarken autoritär grundierter Ressentiments“ in öffentlichen Debatten. Sie werfen EMMA vor, dass diese „kein Problem mit Rassismus habe und nicht bereit ist, rassistische Formen und Praktiken der Macht zu verurteilen.“ Darauf wiederum reagierte Alice Schwarzer mit einem ZEIT-Artikel vom 9. August 20176, in dem die bereits im EMMA-Dossier erhobenen Vorwürfe an Butler wiederholt werden. Neu ist hier allerdings der explizite Bezug auf Butlers Schriften, der in den vorangegangenen Auseinandersetzungen weitestgehend fehlt. Schwarzer geht auf Butlers 1990 erschienenes Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ ein und stellt heraus, dass mit Butler die „Geschlechterrolle nicht mehr zwingend an ein biologisches Geschlecht“ gebunden sei. Damit komme man, so Schwarzer, bei dem Gedanken des „Queeren“ an. Dieser habe jedoch nichts mit der Realität zu tun, denn: „In der Realität […] sind die weiblichen Menschen in unserer Kultur weiterhin die Anderen, es gilt für sie ein anderes Maß als für Männer. Entsprechend sind sie zum Beispiel in erster Linie zuständig für Einfühlsamkeit und Fürsorge, Kinder und Haushalt, sie verdienen weniger und können selbst in Liebesbeziehungen Opfer von (sexueller) Gewalt werden. In anderen Kulturen – wie in islamischen, in denen die Scharia Gesetz ist – geht es noch viel ärger zu. Da sind Frauen vollends relative Wesen, sind rechtlose Mündel […]. Diese Verhältnisse werden von Butler im Namen einer „Andersheit der Anderen“ gerechtfertigt.“7
Diese Kritik wiederholt Schwarzer in der September/Oktober-Ausgabe der EMMA und nimmt zugleich dort eine anti-rassistisch motivierte Kritik an ihren Positionen vorweg, indem sie formuliert, dass genau eine solche Kritik „Methode“ habe: „Denn Kritikerinnen, denen man unterstellt, sie seien Rassistinnen niederer Machart, die den eigenen Gedanken kaum folgen können, solche Kritikerinnen brauchen den Mund gar nicht erst aufzumachen.“8
Es ist nicht ganz einfach, die wirkliche Frontlinie hier im Blick zu behalten; beide Seiten werfen sich Unsachlichkeit vor und Blindheit gegenüber der Argumentation der Anderen und der Realität. Dennoch läuft meines Erachtens die Kritik, die Schwarzer übt, zu einem großen Teil ins Leere, weil sie das, worum es der Genderphilosophie geht, nur oberflächlich zur Kenntnis genommen hat und an manchen Punkten daraus nicht die richtigen Schlüsse zieht.
Mit der von ihr konstruierten Opposition ‚Genderphilosophie/Feminismus‛ führt sie schon deswegen ein Scheingefecht, weil ihre Fragen als Journalistin, die auf tagespolitische Ereignisse reagiert und diese in einen Zusammenhang konkret politischer Debatten verortet, zunächst einmal völlig andere sind als die einer Philosophin, die die Bedingungen der Konstitution von Identität reflektiert und mit dieser Fragestellung an philosophische Traditionen des Denkens anknüpft. Wenn Schwarzer kritisiert, dass Butler das biologische Geschlecht relativiere und damit das Unrecht nicht mehr sagbar mache, das Frauen als Frauen widerfahre, so trifft sie damit das Anliegen der Genderphilosophie nicht.
2. Der Zeitpunkt des Sprechens
Die Genderphilosophie setzt früher ein, als die Reflexionen des Journalismus beginnen. Das, was der Journalismus uns in seinen Auseinandersetzungen präsentiert, ist bereits durch verschiedene diskursive Ebenen geprägt. Dies soll nicht bedeuten, dass es deswegen keinen kritischen Journalismus geben könnte, sondern, dass die Voraussetzungen des eigenen Sprechens diesem nicht immer zugänglich sind. Wenn Schwarzer darauf insistiert, es würde ein biologisches Geschlecht existieren und dies sei bedeutend dafür, dass man überhaupt von Frauen sprechen und dann auch für Frauen Partei ergreifen könne, so reproduziert sie damit eine Denkfigur, die eine Geschichte besitzt.
Genderphilosophie setzt bei dieser Geschichte ein. Sie geht davon aus, dass sich in Wissen und Sprache nicht einfach abbildet, was tatsächlich empirisch vorhanden ist, sondern, dass durch sie mitproduziert, reproduziert, inszeniert und in verschiedenen Formen spezifiziert wird, was dann als Reales in Erscheinung treten kann. Der Philosoph Michel Foucault hat mit dem Begriff des ‚Diskurses‛ und seinen Analysen zu verschiedenen diskursiven Ebenen versucht, beschreibbar zu machen, in welcher Weise in bestimmten historischen Konstellationen sich Wissen formiert, in welcher Weise es die Wahrnehmung und Lebenswelt der Menschen zu organisieren beginnt. Der Diskurs ist eine Art Archiv des Wissens, das sich selbst verschließt und ständig erneuert, das seine eigenen Zutrittsbedingungen reguliert, und damit über Möglichkeiten des Sprechens entscheidet. Der Diskurs sammelt das Wissen, etwa der Medizin, der Biologie, der Psychiatrie. Er ermöglicht damit das Sprechen von Ärzt_innen, von Therapeut_innen. Er prägt bestimmte Vorstellungen von Verhalten, von Normalität, von Gesundheit und Krankheit. Er hat auch die ‚Geschlechtsidentität‛ hervorgebracht, wie wir sie heute verstehen. Anhand der Analyse eines Falls aus dem 19. Jahrhundert, wo ein hermaphroditischer Mensch plötzlich von Medizin und Justiz gezwungen wird eine Geschlechtsidentität anzunehmen, in der er zuvor nicht gelebt hat (und der sich dann schließlich unter dem Zwang dieser verordneten Identität das Leben nimmt), zeigt Foucault, dass erst ab dem 17. Jahrhundert das Wissen sich so spezifiziert, dass es einem Hermaphroditen ein ‚eindeutiges Geschlecht‛ zuordnen will.9 In der Zeit vor dem 17. Jahrhundert geht man – so beschreibt es Foucault – nicht davon aus, dass der Hermaphrodit ein eindeutiges Geschlecht besitzt; erst mit der Spezifizierung des Wissens entwickelt sich die Vorstellung, dass es sich bei Hermaphrodismus nur um ‚Scheinhermaphrodismus‛ handelt, einem raffinierten Versteckspiel der Natur, das das wahre Geschlecht eines Menschen nur verschleiert, das die Medizin fortan zu enthüllen beauftragt ist. Was sich hier ab dem 17. Jahrhundert am Beispiel des Hermaphrodismus herauskristallisiert, ist nichts weniger als die Norm, die fortan die Eindeutigkeit der Geschlechtsidentität mit einer Wahrheit versieht, die ihr zuvor nicht zugesprochen worden ist. Betrachtet Foucault besonders den Zeitpunkt des Erscheinens einer solchen eindeutigen Geschlechtsidentität innerhalb einer Chronologie des Wissens, so geht es Butler darum, zu zeigen, wie durch bestimmte Inszenierungen ein solches Wissen und der aus ihm folgende Effekt einer Geschlechtsidentität immer wieder eine Aktualisierung erfahren.
Damit geht es ihr nicht darum zu behaupten, dass ein biologischer Körper oder ein biologisches Geschlecht nicht existent seien, sondern darum zu zeigen, in welcher Weise der biologische Körper eine Figuration des Wissens ist.
3. Gesellschaftliche Funktionsweisen, gesellschaftlicher Konflikt
Ausgehend von der Sprechakttheorie, die beschreibt, dass Sprechen nicht eine objektiv vorhandene Wirklichkeit abbildet, sondern an ihrer Konstitution beteiligt ist– im Sprechen also handelt – analysiert Butler jene Sprechakte, die das biologische Geschlecht beglaubigen und damit seine Identität performativ generieren. Der erste Sprechakt, mit dem ein Mensch in diesem Zusammenhang konfrontiert wird, der die Rolle innerhalb seines Mensch-Seins fortan determiniert, ist die Benennung seines biologischen Geschlechts nach der Geburt: „Es ist ein Mädchen“, sagt eben auch: Dieser Mensch wird (so die Norm) eine Frau werden, er wird (so die Norm) sich in einen Mann verlieben; Butler: „Das Benennen setzt zugleich eine Grenze und wiederholt eine Norm“.10 An das benannte biologische Geschlecht knüpfen sich also Vorstellungen von Identität, die genau jene Normen manifestieren, die diesen Körper mitkonstituieren, zu dem das Geschlecht gehört; Butler fragt: „In welchem Ausmaß ist das ,Geschlecht’ [sex] eine erzwungene Produktion, ein Zwangseffekt, der die Grenzen dafür setzt, was sich als ein Körper qualifizieren kann, indem er die Bedingungen reguliert, von denen Körper getragen und nicht getragen werden?“11
Diese Frage, die Butler aufwirft, ist politisch, denn sie problematisiert die Konstellationen, in denen ein Körper zu einem diskursiv legitimierten Körper eines Menschen wird. Wo wird die Praxis einer solchen diskursiven Legitimierung sichtbar? Noch am 22. 6. 2016 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass eine intersexuelle Person, nicht als ‚inter‛ in das Personenstandsregister eingetragen werden kann, sondern dass eine eindeutige Geschlechtszugehörigkeit für die Eintragung benötigt wird.12 Als intersexueller Mensch ist man bis jetzt also keine Rechtsperson, man existiert in der Ordnung dieses Staates nicht. Jemand, dessen Geschlechtsidentität nicht in Eindeutigkeit überführt werden kann, oder diese Eindeutigkeit verweigert, kann als Rechtssubjekt damit nicht sichtbar werden. Das bedeutet ja mehr, als nur nicht in einem Register aufgeführt zu sein. Es bedeutet, nicht handlungsfähig zu sein, es bedeutet die Aberkennung des Person-Seins, die Aberkennung des Status des Sozialen. In diesen Praktiken der Identifizierung entscheidet sich in letzter Konsequenz, wie und ob Dasein möglich ist. Zu Recht hat deswegen das Bundesverfassungsgericht am 8. 11. 2017 eine Korrektur dieser Praxis verlangt und die Bundesregierung aufgefordert, das Personenstandsrecht bis Ende 2018 dahingehend zu verändern, dass auch ein drittes Geschlecht abgebildet werden kann. Denn hier, an den Fragen der Geschlechtsidentität, scheint eine Grenze des Menschlichen zu verlaufen.
Ein Feminismus, der dies nicht in seine Überlegungen mit einbezieht, der nicht danach fragt, wie gesellschaftliches Dasein – und damit auch die Norm der Geschlechtsidentität – produziert wird, bleibt blind auch für die Bedingungen seiner eigenen Produktion, für die Vorrausetzungen, auf denen sein Sprechen sich gründet.
Einem feministischen Journalismus, wie etwa Alice Schwarzer ihn vertritt, müssen diese Bedingungen des Sprechens nicht in jedem Satz präsent sein; der Ort des Wirkens ist ein anderer als der der Genderphilosophie, wie sie etwa von Judith Butler vertreten wird. Der Zeitpunkt des Sprechens bleibt verschieden.
Wenn Ort und Zeit des Sprechens nicht miteinander geteilt werden, bedeutet dies jedoch nicht, dass man in seinem Anliegen unversöhnbar voneinander abgespalten bleibt. Man findet an dem Punkt wieder zusammen, an dem jene Bedingungen zutage treten, die das Sprechen reglementieren, die die Norm als Norm verteidigen wollen, die als ‚abweichend‛, ‚unnormal‛, ‚krank‛ und ‚gestört‛ all jene Stimmen und Zeugnisse zu diskreditieren und aus der Ordnung zu verbannen versuchen, die nicht männlich, nicht weiß, nicht heterosexuell, nicht eindeutig männlich oder weiblich sind. Vom Standpunkt der Norm aus betrachtet, sind diese Stimmen ‚queer‘ – lange bevor ‚Queerness‛ dieses Stigma in eine Kraft des Sprechens zu wenden versucht.
Genau an diesem Punkt sollte der Feminismus sich fragen, wo er die Front eröffnen will – bevor er genau jene Stimmen zum Verstummen zu bringen versucht, die im Augenblick der Gefahr mit ihm durch das, was sie bezeugen, solidarisch sind.
(Endnotes)
- Interview mit Kristina Schröder, Focus-Online am 27. 8. 2017, http://www.n-tv.de/politik/Den-Kohl-Starschnitt-gab-es-nie-article19993643.html, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017.
- Vojin Saša Vukadinović: Gender Studies. Die Sargnägel des Feminismus, in: EMMA, Juli/August 2017, S. 66–69.
- Ebd., Hannah Wettig: Beissreflexe. Gewalt als Antwort auf Kritik, ebd., S. 64.
- Ebd., Vojin Saša Vukadinović: Gender Studies, ebd., S. 69.
- Judith Butler/Sabine Hark: Die Verleumdung, in: DIE ZEIT, vom 2. 8. 2017, http://www.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminismus-emma-beissreflex, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017.
- Alice Schwarzer: Der Rufmord, in: DIE ZEIT, vom 9. August 2017, http://www.zeit.de/2017/33/gender-studies-judith-butler-emma-rassismus, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017.
- Ebd.
- Alice Schwarzer: Eine Antwort auf Butler, in: EMMA. September/Oktober 2017, S. 6–7.
- Michel Foucault: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Joseph Vogl und Wolfgang Schäfer(Hrsg.). Übersetzt von Annette Wunschel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998.
- Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 29.
- Judith Butler: ebd:, S. 49.
- http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2016&Sort=3&nr=75539&linked=bes&Blank=1&file=dokument.pdf, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017. Eine Stellungnahme vom LSVD dazu findet sich hier: http://www.lsvd.de/newsletters/newsletter-2016/lsvd-kritisiert-entscheidung-des-bundesgerichtshofs-zum-personenstandsrecht.html, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017.
7. Mai 2018
Einen Sprengsatz legen
Ingrid Strobl 1989
VAls ich gestern in meinem Regal nach einem Buch suchte, ich weiß nicht mehr, ob von George Sand oder von Marlene Streeruwitz, das war dann auch nicht mehr so wichtig, stieß ich auf auf Ingrid Strobl: Frausein allein ist kein Programm heißt das kleine Bändchen (1989 erschienen bei Kore in Freiburg/Br.), voll mit Bleistiftmarkierungen von vor fast 30 Jahren, ich las es Anfang der 1990er Jahre, damals war ich Redakteurin der Wuppertaler Frauenzeitung Meta M. und in die damals in der Wuppertaler FrauenLesbenSzene heftig geführte Auseinandersetzung zwischen feministischen und genderphilosophen Positionen involviert (dazu nächste Woche mehr). Damals las ich Ingrid Strobl.
Gefunden habe ich gestern das, was ich vergessen hatte, dass ich es jemals gelesen hatte, und also wiederfinden konnte, in dem Essay „Gibt es eine weibliche Literatur?“, den sie 1985 verfasste: „Wir müssen eine Tradition weiblicher, was heißt: von Frauen geschriebener, Literatur nicht erst mühsam nach dem Lehrbuch schaffen. Wir haben sie bereits! Und wir müssen nicht von den heutigen und zukünftigen Schriftstellerinnen eine feministische Literatur einfordern, denn auch die gibt es bereits. Allerdings nicht als Tendenzliteratur, sondern als eine Literatur, die Utopie in sich birgt. Die die nicht eingelösten Sehnsüchte thematisiert, und deren Spannung sich aus den nie gelösten Widersprüchen entlädt. Eine Literatur, die die Grenzen, die Frauen gesteckt sind, kennt, die sie aber nicht erträgt und so einen Sprengsatz legt, der auch bei uns, den Leserinnen und Kritikerinnen, die Sehnsucht weckt, unsere Grenzen zu sprengen“ (S. 119).
Ingrid Strobl (geboren 1952) ist österreichische Journalistin und Autorin, arbeitete u. a. 1979 bis 1986 bei der EMMA. Sie arbeitete zu Rhetorik im Dritten Reich, jüdischen Frauen und feministischen Fragen. Seit 2009 ist sie auch Kollegin in Sachen Kreatives Schreiben (https://de.wikipedia.org/wiki/Ingrid_Strobl).
9. April 2018
50 Jahre danach
Ulrike Meinhof zum Anschlag auf Rudi Dutschke Ostern 1968
In der Zeitschrift konkret (Hg. Damals Klaus Rainer Röhl) erschien in der Nr. 5/1968 der im Folgenden dokumentierte Text von Ulrike Meinhof, in dem es um die Macht der Medien geht. Ich möchte ihn zum Lesen und Reflektieren empfehlen, zum Einen, weil das Attentat in diesen Tagen genau 50 Jahre her ist, zum Anderen, weil die aktuellen Medienberichte dazu fast alle dasselbe tun, wie es Ulrike Meinhof analysiert hat: verschleiern, Heuchlern nach dem Mund reden, Aktion und Reaktion verwechseln.
Auch kann dieser Text Anlass sein, sich (autobiografisch schreibend) zu erinnern – an das eigene Leben 1968, an die Auswirkungen der Protestbewegungen auf die Gesellschaft, in der man selbst lebte und sich entwickelte.
Vom Protest zum Widerstand
»Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle andern auch nicht mehr mitmachen.« So ähnlich – nicht wörtlich – konnte man es von einem Schwarzen der Black-Power-Bewegung auf der Vietnamkonferenz im Februar in Berlin hören.
Die Studenten proben keinen Aufstand, sie üben Widerstand. Steine sind geflogen, die Fensterscheiben vom Springerhochhaus in Berlin sind zu Bruch gegangen, Autos haben gebrannt, Wasserwerfer sind besetzt worden, eine BILD-Redaktion ist demoliert worden, Reifen sind zerstochen worden, der Verkehr ist stillgelegt worden, Bauwagen wurden umgeworfen, Polizeiketten durchbrochen - Gewalt, physische Gewalt wurde angewendet. Die Auslieferung der Springerpresse konnte trotzdem nicht verhindert werden, die Ordnung im Straßenverkehr war immer nur für Stunden unterbrochen. Die Fensterscheiben wird die Versicherung bezahlen. An Stelle der ausgebrannten Lastautos werden neue ausfahren, der Wasserwerferbestand der Polizei wurde nicht verkleinert, an Gummiknüppeln wird es auch in Zukunft nicht fehlen. Also wird das, was passiert ist, sich wiederholen können: Die Springerpresse wird weiter hetzen können, und Klaus Schütz wird auch in Zukunft dazu auffordern können, »diesen Typen ins Gesicht zu sehen« und die Schlußfolgerung nahelegen, ihnen reinzuschlagen – was am 21. Februar bereits geschehen ist –‚ schließlich zu schießen.
Die Grenze zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand ist bei den Protesten gegen den Anschlag auf Rudi Dutschke in den Osterfeiertagen erstmalig massenhaft, von vielen, nicht nur einzelnen, über Tage hin, nicht nur einmalig, vielerorts, nicht nur in Berlin, tatsächlich, nicht nur symbolisch - überschritten worden. Nach dem 2. Juni wurden Springerzeitungen nur verbrannt, jetzt wurde die Blockierung ihrer Auslieferung versucht. Am 2. Juni flogen nur Tomaten und Eier, jetzt flogen Steine. Im Februar wurde nur ein mehr amüsanter und lustiger Film über die Verfertigung von Molotowcocktails gezeigt, jetzt hat es tatsächlich gebrannt. Die Grenze zwischen Protest und Widerstand wurde überschritten, dennoch nicht effektiv, dennoch wird sich das, was passiert ist, wiederholen können; Machtverhältnisse sind nicht verändert worden. Widerstand wurde geübt. Machtpositionen wurden nicht besetzt. War das alles deshalb sinnlose, ausufernde, terroristische, unpolitische, ohnmächtige Gewalt?
Stellen wir fest: Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Steinwürfe und Brandstiftung hier verurteilen, nicht aber die Hetze des Hauses Springer, nicht die Bomben auf Vietnam, nicht Terror in Persien, nicht Folter in Südafrika, diejenigen, die die Enteignung Springers tatsächlich betreiben könnten, stattdessen Große Koalition machen, die in den Massenmedien die Wahrheit über BILD und BZ verbreiten könnten, stattdessen Halbwahrheiten über die Studenten verbreiten, deren Engagement für Gewaltlosigkeit ist heuchlerisch, sie messen mit zweierlei Maß, sie wollen genau das, was wir, die wir in diesen Tagen - mit und ohne Steinen in unseren Taschen - auf die Straße gingen, nicht wollen: Politik als Schicksal, entmündigte Massen, eine ohnmächtige, nichts und niemanden störende Opposition, demokratische Sandkastenspiele, wenn es ernst wird den Notstand. - Johnson, der Martin Luther King zum Nationalhelden erklärt, Kiesinger, der den Mordversuch an Dutschke telegrafisch bedauert - sie sind die Repräsentanten der Gewalt, gegen die King wie Dutschke angetreten sind, der Gewalt des Systems, das Springer hervorgebracht hat und den Vietnam-Krieg, ihnen fehlt beides: Die politische und die moralische Legitimation, gegen den Widerstandswillen der Studenten Einspruch zu erheben.
Stellen wir fest: Es ist dokumentiert worden, daß hier nicht einfach einer über den Haufen geschossen werden kann, daß der Protest der Intellektuellen gegen die Massenverblödung durch das Haus Springer ernst gemeint ist, daß er nicht für den lieben Gott bestimmt ist und nicht für später, um einmal sagen zu können, man sei schon immer dagegen gewesen, es ist dokumentiert worden, daß Sitte & Anstand Fesseln sind, die durchbrochen werden können, wenn auf den so Gefesselten eingedroschen und geschossen wird. Es ist dokumentiert worden, daß es in diesem Land noch Leute gibt, die Terror und Gewalt nicht nur verurteilen und heimlich dagegen sind und auch mal was riskieren und den Mund nicht halten können und sich nicht bange machen lassen, sondern daß es Leute gibt, die bereit und fähig sind, Widerstand zu leisten, so daß begriffen werden kann, daß es so nicht weiter geht. Es ist gezeigt worden, daß Mordhetze und Mord die öffentliche Ruhe und Ordnung stören, daß es eine Offentlichkeit gibt, die sich das nicht bieten läßt. Daß ein Menschenleben eine andere Qualität ist als Fensterscheiben, Springer-LKWs und Demonstranten-Autös, die bei der Auslieferungsblockade vor dem Springerhochhaus in Berlin von der Polizei in Akten blanker Willkür umgeworfen und beschädigt wurden. Daß es eine Offentlichkeit gibt, die entschlossen ist, das Unerträgliche nicht nur unerträglich zu nennen, sondern dagegen einzuschreiten, Springer und seine Helfershelfer zu entwaffnen.
Nun, nachdem gezeigt worden ist, daß andere Mittel als nur Demonstrationen, Springer-Hearing, Protestveranstaltungen zur Verfügung stehen, andere als die, die versagt haben, weil sie den Anschlag auf Rudi Dutschke nicht verhindern konnten, nun, da die Fesseln von Sitte & Anstand gesprengt worden sind, kann und muß neu und von vorne über Gewalt und Gegengewalt diskutiert werden. Gegengewalt, wie sie in diesen Ostertagen praktiziert worden ist, ist nicht geeignet, Sympathien zu wecken, nicht, erschrockene Liberale auf die Seite der Außerparlamentarischen Opposition zu ziehen. Gegengewalt läuft Gefahr, zu Gewalt zu werden, wo die Brutalität der Polizei das Gesetz des Handelns bestimmt, wo ohnmächtige Wut überlegene Rationalität ablöst, wo der paramilitärische Einsatz der Polizei mit paramilitärischen Mitteln beantwortet wird. Das Establishment aber, die »Herren an der Spitze« - um mit Rudi zu reden -‚ in den Parteien, Regierungen und Verbänden haben zu begreifen, daß es nur ein Mittel gibt, »Ruhe & Ordnung« dauerhaft herzustellen: Die Enteignung Springers. Der Spaß hat aufgehört. »Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht.«
12. März 2018
Schreiben muss sein –
das ist die Übung
„Aber Schreiben muss sein, das ist die Übung. [...] Schreiben bis zum Schmerz und hindurch.“
Ich war auf Sylt, eine Woche Meer schreiben, mit zwölf Teilnehmenden, einer davon war Friedrich Wiest. Wenn in einer Vorleserunde mich Sätze berühren, notiere ich sie. Friedrichs Satz hat mich berührt, erfasst, ich habe genickt und mir gewünscht, es wäre so, immer, bei mir, bei meinen SchreibschülerInnen. Noch einmal: „Aber Schreiben muss sein, das ist die Übung. [...] Schreiben bis zum Schmerz und hindurch.“ Wie wahr, wie schön, wie – ach ...
25. Dezember 2017
Zum Jahresausklang
Etwas, das stimmt
Es ist Weihnachten, die Probleme oder Konflikte verflüchtigen sich erfahrungsgemäß nicht gerade, wenn viele Menschen mit dem Vorsatz, endlich friedlich und freundlich und fröhlich drei Tage besisammen zu sein, aufeinander treffen. Da hilft vielleicht der Benjamin Franklin zugeschriebene Satz: „Jedes Problem ist eine verkleidete Gelegenheit.“
Und für mich passt er zudem zum bald zuende gehenden Jahr ganz hervorragend!
13. November 2017
Über das Lernen
in bedeutungsvollen Zusammenhängen
„Most learning ist not the result of instruction. It is rather the result of unhempered participation in a meaningful setting.” (Ivan Illich) Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren, war später als US-Bürger Rektor einer Hochschule in Puerto Rico, um schließlich als Priester in Lateinamerika für ein demokratisches Eziehungssystem zu streiten. Eins seiner ersten auf Deutsch erschienenen Bücher heißt Entschulung der Gesellschaft. Zudem setzte er sich mit dem Ausbeutungsinstrument Entwicklungshilfe auseinander. Illichs Name steht für die Befreiungstheologie und für die Pädagogik der Unterdrückten.
2. Oktober 2017
Leben …
Um davon zu erzählen
„Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert – um davon zu erzählen“, lautet das Motto der Memoiren des Gabriel García Márquez. Erhält nicht so das Erinnern, das Erzählen, das Schreiben insbesondere den Stellenwert des Konstrukteurs des Lebens? Erinnern wir uns, erzählen wir, schreiben wir also! (Und nicht vergessen: zwischendurch immer mal wieder LEBEN!)
11. September 2017
Das Mindeste?
Oft schon das Ausreichende!
„Wenn du dich in Situationen der Ungerechtigkeit neutral verhältst, hast du dich auf die Seite des Unterdrückers gestellt.“ (Desmond Tutu, anglikanischer Geistlicher und Menschenrechtler aus Südafrika)
Dazu empfehle ich auch die Lektüre des Intros Eine Antwort auf Butler in der EMMA 5/2017 (September/Oktober), in dem Alice Schwarzer sich positioniert – gegen die Versuche falsch verstandener, nur den Machtverhältnissen in die Hände spielender Toleranz gegenüber frauenverachtenden kulturellen Traditionen.
5. Juni 2017
Welche Hautfarbe hat Kreativität?
Ein Denkanstoß zu Pfingsten
Im Schaukasten am Zaun der Kommune Niederkaufungen, der derzeit Flucht und Rassismus fokussiert, fand ich Folgendes:
„62 Personen besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, also 3,6 Milliarden Menschen. [...]
Welche Hautfarbe hat Kreativität? [...]
Welche Augenfarbe hat Freundlichkeit?“
15. Mai 2017
30 Jahre alt
... und so wahr wie damals
Als man in Deutschland noch die Schreibbewegung belächelte oder gar lächerlich machte, schrieb Umberto Eco:„Der Mensch ist ein Wesen, das dazu neigt, sich interesselos auszudrücken, ohne ein praktisches Ziel, aus reinem Vergnügen am Ausdruck - durch Singen, durch Tanzen, durch Bilder, durch Worte und somit auch durch geschriebene Texte. Fast alle singen aus Freude am Singen, sei’s einsam unter der Brause oder gemeinsam auf einem Fest, aber die Mehrheit denkt nicht daran, zur Scala zu gehen. Viele zeichnen und malen und zeigen womöglich im Freundeskreis Karikaturen, Skizzen und Aquarelle, aber sie streben nicht in die Uffizien. Sehr viele spielen ein Instrument, tun sich zu Gruppen zusammen und geben kleine Konzerte, aber sie trachten nicht nach einem Auftritt in der Carnegie Hall. Und bringen sich nicht um, wenn sie’s nicht schaffen. Mithin sollte auch das Schreiben von Gedichten, Geschichten, Tagebuchseiten und Briefen etwas sein, was alle tun, so wie man Fahrrad fährt, ohne dabei an den Giro d’Italia zu denken“ (DIE ZEIT, 13. 2. 1987).
Ist das nicht schön?! Warum schreiben? Warum nicht schreiben? Warum nicht schreiben?
1. Mai 2017
Eine Einladung
3 Wörter, 10 Sätze
„Willkommen zu einer neuen Runde Wörter, liebe Befallene vom 10-Satz-Wahn, liebe abc.etüden-Fans und alle, die sich immer noch überlegen, ob sie es vielleicht werden könnten, und hallo ihr da draußen, die ihr noch nie was davon gehört habt und nur zufällig hier gelandet seid.“ So beginnt der Aufruf, bei dem ich gestern gelandet bin, weil eine ehemalig nach Franken verzogene Schreibschülerin mich ,aufforderte’, doch mal ... Also, da gibt es eine Seite im Netz, auf der jede Woche drei Wörter veröffentlicht werden, die alle, die dort landen, wie ich gestern, dazu aufrufen, aus diesen, mit diesen drei Wörtern einen 10-Sätze-Text zu machen. Was für eine Idee! Die Wörter für diese erste Mai-Woche: Paradeiser, Schlawiner, Kinkerlitzchen (gespendet von Jule Pfeiffer-Spiekermann. Also dann – auf geht’s. Und wenn’s diese Woche nicht geht, hier ist der Link, nächste Woche gibt es bestimmt wieder drei inspirierende Wörter (oder auch ohne inspirierende, denn Wörter sind das doch für Schreibende immer: inspirierend!).
Schreibeinladung
19. Dezember 2016
Feiert schön –
– meistens gibt es etwas, was sich zu feiern lohnt!
„Die meisten Leute feiern Weihnachten, weil die meisten Leute Weihnachten feiern.“
(Kurt Tucholsky, 9. 1. 1890 bis 21. 12. 1935)
12. Dezember 2016
Literatur oder kann das weg?
Ein ganzer Roman in Fragen
Eine Entdeckung. Eine Einladung. Eine Herausforderung. Eine Belustigung. Ein Ärgernis. Ein Versuch. Ein Experiment. Eine Lebensaufgabe. Keine Bett- oder Strand-Lektüre!
„Sind Ihre Gefühle rein? Sind Ihre Nerven anpassungsfähig? Wie stehen Sie zur Kartoffel? Sollte es immer noch Konstantinopel heißen? Macht ein Pferd ohne Namen nervöser oder weniger nervös als ein Pferd mit Namen? Riechen Kinder Ihrer Ansicht nach gut? Wenn Sie jetzt welchen hätten, würden Sie Hundekuchen essen? Könnten Sie sich hinlegen und auf dem Bürgersteig ein Päuschen machen? Haben Sie Vater und Mutter geliebt, und finden Sie das Buch der Psalmen ganz toll? Wenn Sie in jeder Kategorie auf den letzten Platz absteigen, macht Ihnen das genug zu schaffen, dass Sie sich wieder ochkämpfen? Klingelt es je bei Ihnen an der Tür? Haben Sie Sand im Kropf? Könnte Mendelejew Sie korrekt in einem Quadratseines periodischen Systems der Elemente unterbringen, oder würden Sie sich auf die ganze Tabelle verteilen? Wie viele Liegestütz schaffen Sie?“
Das ist der erste Absatz des Buch von Padgett Powell: Roman in Fragen. Die Übersetzung von Harry Rowohlt ist in 2. Auflage 2012 im Berlin Verlag erschienen.
Auch wenn es keine Bett- oder Strand-Lektüre ist – anregend und spaßig ist die Lektüre trotzdem, auch wenn ich nicht glaube, dass irgendjemand dieses Buch komplett liest (verkraftet). Als Schreibanregung kann es allemal diesen. Etwa als Vorlage zur Selbstbefragung am Ende eines Jahres oder an einem Scheideweg.
24. Oktober 2016
Zum freien, assoziativen Schreiben
Basiserkenntnisse aus 1993
Ich habe etwas 23 Jahre Altes (wieder)gefunden, das mich bestärkt: das freie, assoziative Schreiben in meiner Arbeit in Schreibgruppen, gleich welcher Art, als zentrale Arbeitsweise zu sehen. Einer der ersten und bis heute führenden DidaktikerInnen des Kreativen Schreibens, Kaspar H. Spinner, schrieb 1993 in der Zeitschrift Praxis Deutsch:
„Durch die Integration des Verdrängten in das bewußte Selbst kann das Phantasieren eine heilende Wirkung haben. Die freie Assoziation, mit der die tiefenpsychologische Therapie arbeitet, wird in verschiedenen Formen auch im kreativen Schreiben eingesetzt, damit seelische Gehalte, die dem realitätsorientierten Alltagsbewußtsein entzogen sind, darstellbar werden. Nach Freud tritt das Verdrängte allerdings nicht direkt in Erscheinung, die Zensur durch das realitätsorientierte Ich bewirkt Verdichtungen, Verschiebungen und Symbolisierungen. Dies ist, gerade im Hinblick auf das kreative Schreiben, nicht als Verfälschung der inneren Gehalte, sondern als Chance zu sehen: Durch Verdichtung, Verschiebung und Symbolisierung entsteht die literarische Ausdrucksform, die einen Lustgewinn (auch dies ein Begriff Freuds) vermittelt und die oft überhaupt erst ermöglicht, daß wir uns dem Verdrängten stellen. Der (m. E. wichtige) Unterschied zwischen Psychoanalyse als Therapie und kreativem Schreiben kann gerade darin gesehen werden, daß bei letzterem die manifeste Struktur mit ihren Verdichtungen, Verschiebungen und Symbolisierungen das angestrebte Ziel ist. In ihr sind die verdrängten Inhalte enthalten und zugleich geschützt, so daß sie nicht Krisen heraufbeschwören, die nur noch der Therapeut auffangen kann“ (Kaspar H. Spinner: Kreatives Schreiben. Basisartikel. In: Praxis Deutsch, Heft 119).
17. Oktober 2016
Essenzen
Sätze nach dem Freewriting
In den letzten Stunden in der Donnerstagsgruppe meiner Frauenschreibwerkstatt haben wir uns am Freewriting ohne Thema bzw. Fokussierung versucht. Wir lasen uns diese Texte nicht vor, sondern schrieben jede einen Satz nach der zehnminütigen Session: einen schönen, einen zum Weiterdenken, einen Essenzsatz ... Diese Sätze lasen wir uns vor und waren ganz entzückt, jede vom eigenen Schreiben und dem einen gefundenen Satz wie auch von den Sätzen der anderen, weil sie etwas sagten über die jeweilige Schreiberin, ohne dass wir wussten, was denn eigentlich vorher geschrieben worden war, wohin das Freewriting, das Schleuesen-Öffnen diejenige geführt hatte. Einige haben mir ihre Sätze zur Dokumentation zur Verfügung gestellt.
Martina Vaupel: „Ich suche die Katzen, versinke im Morast aus Pferdeäpfeln, umarme Menschen die über Brücken gehen und bekomme meine Stiefel aus dem Sumpf der drängenden Eile nicht heraus.“
Rosemarie Gögler: „Wenn ich es recht bedenke, vergeht kein Tag, an welchem mir nicht mindestens einmal ein Spruch aus der Kindheit, genauer: eine wegweisende Bemerkung meiner Mutter oder meines Vaters oder aber eine damals vielleicht gar nicht beachtete oder gar nicht geschätzte Verhaltensweise von Vater oder Mutter begegnen.“
Gisela Hohmann: „Ich bewege, du bewegst, wir bewegen; alles ist in Bewegung.“
Charlotte Vortmann: „Es gibt Gedanken, die nützlich sind, wie früher ein Pferd auf dem Acker seine Arbeit verrichtete, und Gedanken, die eher der Art des Reitpferdes ähneln, das nur für das Hobby der Reichen gezüchtet wurde.“
Ute Baumgärtl: „Jetzt sitze ich hier im Kreis der schreibenden Frauen, darf zu Papier bringen was ich will, was mir einfällt, und es kommen mir keine genialen Gedanken, aber gut, schreib’ ich halt einfach, was mir so durch den Kopf schwirrt.“
27. Juni 2016
Was ich sagen will, könnte ...
... nicht das sein, was ich sagen wollte
„Wenn die Sprache nicht stimmt, dann ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist. So kommen keine guten Werke zustande. Also dulde man keine Willkür in den Worten“(Konfuzius, 551–479 v. u. Z.). Übersetzt auf das Kreative Schreiben heißt das, was der antike Philosoph gesagt hat, für mich: Je mehr Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks ich mir schreibhandelnd aneigne, desto mehr Varianten stehen mir zur Verfügung, um meine Inhalte sprachlich zu gestalten, um einen poetischen Selbstausdruck zu finden, der tatsächlich das Gefühlte und/oder Gedachte wiederspiegelt.
25. April 2016
Die Schublade ...
... auf und zu – oder?
„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen die Dinge, wie wir sind“, sagte Ken Keyes. Der US-amerikanische Bewusstseinsforscher formulierte damit auf einfache Weise die erschrecken machende Erkenntnis des Konstruktivismus. Und warum steht das jetzt hier, im Schreibblog? Der Satz könnte Schreibanregung sein, er könnte auch Aufforderung zur Konstruktion einer möglichen besseren Welt sein, die es nur geben kann, wenn sie antizipiert wird von Utopie-KonstrukteurInnen.
21. März 2016
Ins neue Sonnenjahr
mit einer erstaunlichen Erkenntnis?
„Niemand kann dir, ohne deine Zustimmung, das Gefühl geben, minderwertig zu sein.“ (Eleanor Roosevelt)
7. März 2016
Üben, schreiben, üben, schreiben
und vertrauen
„Wir sind so ungeübte Schreiber, weil wir so viel Zeit damit verschwenden, mitten im Satz anzuhalten und uns über das Geschriebene Gedanken zu machen.“ (Peter Elbow) Peter Elbow ist derjenige Schreiblehrer, der in den USA Anfang der 1970er Jahre als einer der Ersten das zunächst einmal unsortierte, einfach den Stift in Bewegung haltende Schreiben als hilfreiche Methode für alle Arten von Schreibaufgaben oder -vorhaben beschrieben hat. Freewriting heißt es seitdem. Und es hilft. Und es befreit.
15. Februar 2016
Auf einer Insel
Eine Woche Sylt
Zum 10. Mal fahre ich nach Sylt. Eine Woche Meer schreiben, 13 Teilnehmende, wie immer. Wir schreiben, wie immer. Und doch immer anders. In der Vorbereitung fand ich ein Gedicht wieder. Das mich wieder berührt hat.
Auf einer Insel
Rose Ausländer (1901–1988)
Mit Purpurflügeln
streift der Sommer
mein Herz
Ich liege auf einer Insel
die keinen Namen hat
in einem namenlosen Meer
Fische besuchen mich
und sprechen Gedichte
Ich bemühe mich
sie zu erlernen
Ein Delfin bringt mir
Grüße von Freunden
Sie laden mich ein
allein ich
kann nicht schwimmen
(Quelle: Das Geschlecht der Engel, Piper1992)
11. Januar 2016
Selbst-Wertschätzung
Noch ein guter Vorsatz
Noch ist das Jahr jung, jung genug für noch einen guten Vorsatz. Schreiben Sie sich in eine selbst-wertschätzende Grundhaltung, mit der Sie dann auf den Weg machen durch das Jahr 2016. Vielleicht hilft der folgende Satz als Impuls: „Niemand kann dir, ohne deine Zustimmung, das Gefühl geben, minderwertig zu sein.“ (Eleanor Roosevelt)
4. Januar 2016
Das Schreibjahr beginnt
Gute Vorsätze gehören dazu ...
„Schreiben ist wichtiger als Surfen im Internet, E-Mailen, Twittern, Facebook. Kappe die Verbindungen!“ (Yiyun Li)
28. Dezember 2015
Das Schreibjahr endet
Auf ein neues!
„Das Schreiben befriedigt im Ich schreibe, nicht im Ich habe geschrieben.“
Frank Cioffi spricht mir aus dem Schreibherzen.
26. Oktober 2015
Was Literatur ...
... kann und soll
Meinen Blog-Eintrag vom 13.10. 2015 zur Verantwortung von Literatur möchte ich ergänzen. Harald Martenstein schreibt im ZeitMagazin vom 15. 10. 2015 Über engagierte Literatur: „Ich könnte eine engagierte Geschichte über ein Flüchtlingsmädchen schreiben, das gibt es ja tausendfach und ist auch gut geschrieben. Nicht dass ich so was nie gelesen hätte. Das lesen die ohne Überzeugten, das ist wie politisches Kabarett anno 1970, nur in rührend. Die NPD-Ortsgruppe wird, wie so oft, auch dieser Lesung fernbleiben. Was Literatur im besten Fall erreichen kann, wenn sie den unbedingt etwas erreichen soll: Sie kann das Denkvermögen stärken. Und je länger du nachdenkst, desto weniger Gewissheiten hast du, desto misstrauischer wirst du in Bezug auf dich selbst. Und eine Welt, in der alle an ihren Gewissheiten zweifeln, wäre tatsächlich eine bessere Welt.“ Wenn denn diese Zweifel sich auch in Veränderung von Handeln neiderschlagen.
28. September 2015
Kreativität als Zwang
Kreativität braucht ein Feld
Wer hat ihn nicht, den Anspruch an sich selbst, kreativ zu sein? Und wer hat neben aller Lust am kreativen Sein nicht auch schon einmal das Gefühl gehabt, sich vom Zwang überfordert zu sehen: Ich muss kreativ sein, sonst bin ich nicht tauglich, nicht im Beruf, nicht als Elternteil, nicht in der Freizeit. Und wenn ich es nicht bin – Andere sind ja permanent kreativ, Hilfe!
Da ist es sehrt hilfreich zu erfahren, dass Kreativität nicht eine individuelle Leistung oder Nicht-kreativ-Sein kein individuelles Versagen ist. „Kreativität ist weniger in der isolierten Leistung eines herausragendes Individuums zu verorten, sie entsteht vielmehr in Feldern, die in sehr spezifischer Weise aufgebaut sind“, sagt Olaf-Axel Burow, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Uni Kassel, auf Seite 18 in seinem Buch Team-Flow: Gemeinsam wachsen im Kreativen Feld (Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2015). Empfehlenswert. Weil es entlastet. Weil es Kreativität anders denkt. Und weil es aufzeigt, wie diese Felder aussehen.
19. August 2015
Noch ein Sommergedicht
Eindrückliche Verdichtung
Mein Vorstandskollege im Segeberger Kreis Karl Günter Rammoser hat 2014 während der schreibkreativen Jahrestagung des Vereins die Verantwortlichkeit und Hilflosigkeit angesichts der verunglückten Flüchtlinge auf dem Mittelmeer auf sehr eindrückliche Weise gefasst. 2015 hat es seine Aktualität nicht verloren.
lampedusa
lampe sie sa
lampe er sa
lampe es sa
lampe wir sa
lampe ihr sa
lampe sie sa
lampe ich sa
nicht hin
27. Juli 2015
Ganz und gar Mensch sein
Susan Sontag über Bücher
Beim Aufräumen und Schreibtisch-Sortieren fand ich einen alten Zeitungsausriss vom 14. 12. 2014. Das Zitat in diesem (von der großartigen, leider bereits verstorbenen US-amerikanischen Essayistin Susan Sontag) stimmt vielleicht sowieso, passt aber besonders gut zum Sommer, wenn alle endlich dazu kommen, die Bücher zu lesen, die sich seit dem letzten Sommer gestapelt haben:
„Wenn Bücher verschwinden, wird die Geschichte verschwinden, und die Menschen werden ebenfalls verschwinden. Manche Leute halten Lesen bloß für eine Art Flucht: eine Flucht aus der ,wirklichen’ Welt des Alltags in eine imaginäre Welt, die Welt der Bücher. Bücher sind viel mehr. Sie sind eine Art und Weise, ganz und gar Mensch zu sein.“
Und das ist ja ein Ziel, das unser Streben immer begleitet: ganz und gar Mensch zu sein.
26. Mai 2015
Der Schrankkoffer
Beginn einer autobiografischen Reise
Nuala O’Faolain, eine irische Journalistin und Schriftstellerin, berichtet in ihrem autobiografischen Roman Sein wie das Leben (Claassen 2004)über die Entstehung der Einleitung für einen Sammelband mit eigenen Kolumnen. Hier der so von ihr selbst beschriebene Start: „In einem der Zimmer im Obergeschoss des Hauses stand im obersten Regal ein Schrankkoffer, den ich bei jedem Umzug behalten hatte, obwohl der Schlüssel schon vor dreißig Jahren verschwunden war. Jetzt schubste ich ihn mit solchem Schwung vom Regal, dass er aufsprang, setzte mich, vom Duft verstaubter Papiere umgeben, auf den Boden und las die Briefe aus dem Koffer so begierig, als führten sie mich zu einem Schatz. [...]
Hätte es den Schrankkoffer nicht gegeben oder wären andere Dinge darin gewesen, dann wäre meine Geschichte vielleicht eine andere geworden. Autobiographien sind, denke ich, genauso einseitig und vorläufig wie alle anderen Erzählungen auch. Trotzdem bemühte ich mich, als ich das Projekt anging, von Herzen und nach Kräften um die Wahrheit. Warum denn auch nicht?“ (S. 27)
Man muss mit etwas beginnen. Es ist nicht wichtig, was es ist. Es wird eine Erzählung des eigenen Lebens. Und würde man mit etwas Anderem beginnen müsste man die Fäden anders, zu einem anderen Muster zusammenknüpfen – es gibt nicht die eine Geschichte, die wie das Leben ist, das gelebt wurde. Manchmal hält man diese Erkenntnis schlecht aus – denn wer ist man den dann? Und manchmal ist es wie ein Geschenk, die eigene Lebensgeschichte noch einmal neu, ganz anders, mit ganz anderem Vorzeichen, einer ganz anderen Färbung erzählen zu dürfen.
27. April 2015
Die richtigen Wörter finden
Was Kreuzworträtsel mit dem Schreiben zu tun haben
Irgendwann entdeckte ich Erri de Luca. Der Himmel im Süden nahm mich mit, in den Süden, in ein meinem Wesen so fremdes Sein, bis ich weinte, und dann war das Büchlein schon ausgelesen ... Jetzt entdeckte ich wieder, in einer Bahnhofsbuchhandlung, ein Buch von de Luca: Fische schließen nie die Augen. Das Buch ist ebenso eine Entdeckung wie das erste, wenn es sich auch ein wenig mehr sperrt, mich nicht so hineinsaugt. Darin aber dieser Fund: „Heute denke ich, dass Rätselraten eine gute Schule für das Schreiben ist, es erzieht zum präzisen Umgang mit dem Wort, da jedes einzelne der geforderten Definition entsprechen muss. Es schließt verwandte Wörter aus, und wer Geschichten schreibt, bildet einen Großteil seines Vokabulars durch das Ausschließen von Wörtern. Das Rätselraten hat mir die spielerische Begabung geschenkt, die die Worte brauchen. Was ich damals für ein einsames Laster hielt, war in Wirklichkeit die Montagewerkstatt der Sprache“ (S. 25).
16. Februar 2015
Beenden tut gut
ein-sil-big 2014 erschienen
Ein guter Entschluss, mal ein (Schreib-)Jahr auch mit einem Produkt abzuschließen.
Schreiben ist mir ja grundsätzlich erst einmal eine Lust! 2014 habe ich das Essay Schreiben? Schreiben!> veröffentlicht, das sich mit der Frage beschäftigt, woher die Lust am Schreiben kommt. Es ist in der Berliner Anthologie – Essays rund ums Schreiben (herausgegeben von Andreas Dalberg) erschienen. 2014 habe ich auch etwas ganz Anderes gemacht, als ein Essay zu schreiben. Fast bin ich geneigt zu sagen: etwas Gegensätzliches. Während es beim Essay quasi keine Regeln gibt, an die es sich zu halten gilt, weder für Wörter oder Sätze noch für Inhalte oder Strukturierung, habe ich mir für mein zweites Jahresprojekt eine überaus strenge Regel auferlegt: Ich habe eine große Anzahl Texte geschrieben, in denen ausschließlich Wörter vorkommen, die aus nur einer Silbe bestehen. (Zum Thema Einsilbig-Schreiben siehe auch Blog-Eintrag vom 28. Juli 2014.)
Mit diesem Projekt habe ich mich und mein Haupt-Jahresthema begleitet. Jetzt habe ich es abgeschlossen, das Jahr und das einsilbig-Projekt – und habe ein Heftchen daraus gemacht: ein-sil-big 2014 kann sogar erworben werden, direkt bei mir für 5 Euro (plus Versand).
Und auch das Heftchen Wortschatz 2011 kann noch zum gleichen Preis erworben werden.
6. Februar 2015
Der erste Schritt zum Schreiben
Sean Connery in Forrester
„Überlegen kommt später. Den ersten Entwurf schreibst du mit dem Herzen. Anschließend nimmst du den Kopf und schreibst alles neu. Der erste Schritt zum Schreiben ist Schreiben. Allein der Fluss des Tippens bringt dich voran.“ Das sagt ein alter, schreibblockierter und deshalb frustrierter Schriftsteller zu einem jungen Mann, dessen Talent zum Schreiben er schließlich fördert – in einem Film: Forrester (auf Deutsch: Gefunden). Sean Connery spielt den Alten.
Diese Sätze könnte ich in jeder meiner Schreibwerkstattstunden von mir geben. Und meine Erfahrung ist: Die besten Erstfragmente, die besten Entwürfe, die besten Ideen, die eigentlich-eigenen Themen, die eigentlich-eigenen Ausdrucksformen entstehen genau so.
5. Januar 2015
Sich selbst überraschen
Frei nach Gerhard Richter
Einer der Wettbewerbsteilnehmer am Nordhessischen Autorenpreis, Jan Ivo Krosing, schickte mir ein Zitat von Gerhard Richter aus der TV-Dokumentation Gerhard Richter malt, das ich hier einfach so wiedergebe, ohne es überprüft zu haben: „Wenn ich weiß, was ich malen will, kann ich es auch gleich bleiben lassen.“ Das ist ganz einfach aufs Schreiben zu übertragen. Jedenfalls verfahre ich meistens so. Oder es passiert mir einfach: Ich überrasche mich selbst mit Inhalten und Formen meiner Texte, die in den Schreibwerkstätten entstehen.
27. November 2014
E-Mail-Vernetzung
Fluch und Segen
Im Telefonat einig mit Guido Rademacher: Die Vernetztheiten – auch wenn man kein Handy hat und nicht bei Facebook & Co. unterwegs ist – sind ein Fluch. Gerade heute Morgen habe ich erst einmal 90 Minuten E-Mails bearbeitet, bevor ich anfangen konnte, mich meinen Projekten zu widmen. Einfach alles wegklicken – das geht ja nicht. Das hat man dann von der schnellen und einfachen Kommunikation (es ist ja nicht so, dass ich keine Massenmails verschicken würde, auf die dann 30 Leute freundlicherweise auch reagieren, von denen ich dann wieder auf 15 reagieren muss usw.).
Und dann, als ich mich gerade den studentischen Arbeiten widmen wollte, bekam ich eine Mail von Heike Lange, die mich berührte und meinen E-Mail-Frust sofort vergessen ließ: „... weil ich bei Dir zwei große Stärken sehe. Ich finde Du kannst Schreibübungen gut verständlich zusammen fassen, schriftlich erklären, nicht so lapidar, wie andere! Ebenso haben mir, aber immer deine ,Werke’ und Texte von Dir gefallen. Sie sind für mich deine zarte, sinnliche Seite ...“
Ich sollte vielleicht wieder die Regel einführen, dass ich nur morgens eine Stunde und noch mal mittags eine Stunde das E-Mail-Programm eingeschaltet habe ... Und die Notwendigkeit mancher Massenmail und mancher Mitgliedschaft in Verteilern noch mal überdenken ...
10. November 2014
Nicht nur Sibylle Berg
Frettchenhaft in der Dichterwerkstatt
„Wie sieht Ihre ,Dichterwerkstatt’ in Zürich aus?“, fragte die WAZ-Autorin Elisabeth Höving die Schriftstellerin Sibylle Berg (WAZ, 28. Oktober 2014). Sibylle Berg antwortete: „Ich arbeite ab halb sieben am Morgen, bis sieben abends. Immer an verschiedenen Projekten parallel. Der Schlüssel, um vom Schreiben leben zu können, ist frettchenhaftes Arbeiten.“
Meine Schwester Imke schickte mir die Zeitungsseite. Sie meinte wohl, dass auch ich ... Ja, sie hat recht. Nun arbeite ich zwar nicht in einer Dichterwerkstatt, sondern in einer Werkstatt für Kreatives Schreiben, aber immer an mehreren Projekten gleichzeitig und frettchenhaft – ja, so gestaltet sich, so gestalte ich mein Leben auch. Auch, um davon leben zu können. Und auch, weil das künstlerisch-pädagogisch-freiberufliche Dasein das so mit sich bringt. Und auch, weil es mir leider nicht vergönnt ist, sieben Leben parallel zu leben.
Manchmal hätte ich gern ein Jahr für nur ein Projekt. Aber meistens ergeben sich wunderbarerweise unerwartete Synergieeffekte. Und überhaupt: Ich möchte mit niemandem tauschen!
8. September 2014
Ein Gedicht übers Schreiben
Oder: Sollte man es nicht lieber lassen?
Niemals hätte ich dieser Dichterin dieses Gedicht zugetraut. Schon allein, weil es keine Reime hat. Habe ich nicht auch Die Judenbuche (inkl. der rezeptiven Besprechung im Deutschunterricht der Mittelstufe) in guter Erinnerung? Nun, ich werde mir wohl doch noch einmal Anderes von ihr anschauen ...
Unbeschreiblich
Dreitausend Schreiber auf Teppichen saßen
Und rührten den Bart mit der Feder;
Sie schrieben, schrieben so manchen Tag,
Dass grau geworden die Bärte,
Dass trüb geworden die Augen längst
Und längst erkrummet die Finger;
Wer aber, was sie geschrieben, liest
Und liest das, was sie geschrieben,
Der spricht: Ist es ein Schatten wohl?
Oder ist es der Schatten des Schattens?
(Annette von Droste-Hülshoff, 1797–1848)
25. August 2014
Die Rechte des Lesers
Ein (abermaliger) Fund
Bei der Vorbereitung der Schreibwerkstätten (Beginn des Herbstsemesters: 15. September) bin ich auf ein Buch gestoßen, das seit Langem in meinem Regal steht: Daniel Pennac: Wie ein Roman (Köln 1994/2006). Pennac schreibt überaus unterhaltsam und tiefsinnig über Leseunlust und Bildungsdruck. Ich schlug das Buch also wieder einmal auf und fand (überraschenderweise erinnerte ich mich daran nicht) im Inhaltsverzeichnis (als Kapitelüberschriften) die „unantastbaren Rechte des Lesers“:
- Das Recht, nicht zu lesen
- Das Recht, Seiten zu überspringen
- Das Recht, ein Buch nicht zuende zu lesen
- Das Recht, noch einmal zu lesen
- Das Recht irgendwas zu lesen
- Das Recht auf Bovarysmus (die buchstäblich übertragbare Krankheit, den Roman als Leben zu sehen)
- Das Recht, überall zu lesen
- Das Recht herumzuschmökern
- Das Recht, laut zu lesen
- Das Recht zu schweigen
Und die Rechte von Schreibenden?
Auf ein Buch schreibend zu reagieren, einen neuen Schluss (oder Anfang) zu erfinden, sich von einem Satz zu einem eigenen Roman inspirieren zu lassen, eine Rezension und einen Tagebucheintrag zu schreiben, dem Autoreinen Brief zu schreiben, aus dem Roman ein Gedicht zu machen, etwas ganz Anderes zu schreiben ...
19. Juli 2014
Zur Nachahmung empfohlen
Wasserfragen
Für das Foto-Text-Projekt „Blickwinkel Wasser“ (Vernissage mit Lesung am 17. 7. 2014 um 19 Uhr im Café Buch-Oase in Kassel, die Ausstellung bis zum 7. 9. 2014 zu sehen) hat Margareta Driesen sich anregen lassen von Pablo Nerudas Fragen (s. 14. Juli 2014) und monatelange Fragen an das Wasser gestellt. Mir ist nicht bekannt, ob es geantwortet hat, aber mit dem Fragenprojekt hat sie sich selbst beflügelt. Man könnte sich inspirieren lassen und beispielsweise Fragen an den Himmel (oder die Hölle ...) stellen. Hier sind die ersten zehn (es sind über 120) von Margareta Driesens Fragen.
Kann sich Wasser wundern? – Warum verbirgt sich der größte Teil des Wassers, das uns umgibt? – Was ist dem Meer näher, der Himmel oder das Land? – Wir spiegeln uns im Wasser – worin spiegelt sich das Wasser? – Vermisst das Meer die Muscheln, die ich mit mir nahm, oder vermissen die Muscheln das Meer? – Weiß das Wasser, das verdunstet, wohin es ,geht’? – Ist ein Tropfen allein einsam? – Stiehlt das Wasser seine Farben vom Himmel? – Wollen alle Sandkörner gern an den Strand? – Bemerkt das Meer etwas von meiner Ehrfurcht und Liebe zu ihm?
16. Juni 2014
Museumsinsel-Fundstück
Am Kupfergraben abgeschrieben
Auf Betonbegrenzungsblöcke gepinselt von PalmArtPress, Zitate, halb verdeckt von den Bücherflohmarktbeschickern. Am Kupfergraben (Berlin, gegenüber der Museumsinsel), nicht gezählt, wie viele, zwei abgeschrieben:
„Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.“ (Philippe Dijan)
„Wer zur Quelle gehen kann, gehe nicht zum Wassertopf.“ (Leonardo da Vinci)
4. Juni 2014
Lieblingszitate einsenden
von Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner
Ich musste nicht lange suchen ... Es geht um Folgendes (ich zitiere einen Auszug aus einer Pressemitteilung von Dr. Friedrich Block, Kurator der Brückner-Kühner-Stiftung): Vor 30 Jahren wurde die Stiftung Brückner-Kühner vom Kasseler Schriftstellerpaar Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner ins Leben gerufen. Die Stiftung vergibt seither jährlich gemeinsam mit der Stadt Kassel den „Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor“. Zudem wirkt sie als Literaturzentrum vom Wohnhaus der beiden Schriftsteller aus, das auch als Museum zugänglich ist. Aus Anlass des Jubiläums ruft die Stiftung ihre Freunde dazu auf, sich an einem literarischen Projekt zu beteiligen: Senden Sie uns für Sie bedeutsame Zitate aus dem Werk von Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner. Die kurzen Zitate sollten möglichst nur einen Satz oder ein bis zwei Verse umfassen. Dann jedenfalls besteht die Möglichkeit, dass sie für eine Präsentation in der Kasseler Innenstadt ausgewählt werden: Ende September werden die Zitate auf den Kandelaber-Flächen in Kassels Fußgängerzone, der Oberen Königsstraße, zu sehen und zu lesen sein. Unter den Einsendungen ermitteln wir per Los fünf Personen, die zu einem exklusiven Literaturabend mit Lesung, Wein und Imbiss ins Dichterhaus eingeladen werden, ausgerichtet vom Freundeskreis Brückner-Kühner. Einsendungen (mit Quellenangabe) bis 15. Juni 2014 per E-Mail, Brief oder Fax an: Stiftung Brückner-Kühner, Hans-Böckler-Straße 5, 34121 Kassel, Fax: (05 61) 2 88 80 45, E-Mail: block@brueckner-kuehner.de.
Meine Lieblingszitate: Christine Brückner: Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1983 Darin fasziniert mich besonders die „Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle“, die Christine Brückner Gudrun Ensslin in den Mund gelegt hat, daraus folgende Zitate: 1. „Illusionshaft ist Mord!“ (S. 110); 2. „Anders kriegt ihr mich nicht“ (S. 110); 3. „Ich will nicht in eurem Strom schwimmen, ich will nicht gegen den Strom schwimmen, ich bin eine Sperrmauer im Strom der Zeit!“ (S. 114)
Otto Heinrich Kühner: Pummerer und andere skurrile Verse, R. Piper & Co. Verlag, München 1968 Darin faszinieren mich besonders die Verse, die sich mit Sprache befassen, daraus folgendes Gedicht (S. 18):
Orthographie
In einem Brief an den Obersten v. Schratt in G. Schrieb Pummerer das Wort Miene ohne ,e’ Und hatte den Fehler erst erkannt, Als er den Brief schon abgesandt. In G. gab es dann auch – er las davon – Am Tage darauf eine Detonation.
Ein kleines ,e’, dachte er, ein Buchstabe bloß, Und die Folgen dann gleich so grenzenlos! Seither glaubt Pummerer irgendwie An die Wichtigkeit der Orthographie.
1. Juni 2014
Wiedergefunden
Zwei Lieblingsliebesgedichte
Das erste muss laut gelesen werden – es ist so voller Klang! Und das zweite: so einfach – einfach genießen!
Ein alter Tibetteppich (Else Lasker-Schüler)
Deine Seele, die die meine liebet, Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.
Strahl in Strahl, verliebte Farben, Sterne, die sich himmellang umwarben.
Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit, Maschentausendabertausendweit.
Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron, Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?
wie ich dich nenne wenn ich an dich denke und du nicht da bist (Friederike Mayröcker
meine Walderdbeere meine Zuckerechse meine Trosttüte mein Seidenspinner mein Sorgenschreck meine Aurelia meine Schotterblume mein Schlummerkind meine Morgenhand mein Vielvergesser mein Fensterkreuz mein Mondverstecker mein Silberstab mein Abendschein mein Sonnenfaden mein Rüsselhase mein Hirschenkopf meine Hasenpfote mein Treppenfrosch mein Lichterkranz mein Frühlingsdieb mein Zittergaul meine Silberschnecke mein Tintenfasz mein Besenfuchs mein Bäumefäller mein Sturmausreiszer mein Bärenheger mein Zähnezeiger mein Pferdeohr mein Praterbaum mein Ringelhorn meine Affentasche meine Winterwende meine Artischocke meine Mitternacht mein Rückwärtszähler
(da capo!)
17. Mai 2014
Frei nach Laotse
Fund auf Sylt
„Jeder Anlauf beginnt mit einem Rückschritt und jeder Weg mit einem ersten Schritt.“ (gefunden an der Wand eines Tagungsraumes im Hamburger Jugenderholungsheim Puan Klent auf Sylt/OT Rantum)
13. Mai 2014
Nordhessischer Autorenpreis
Neues Vorstandsmitglied gewählt
Kennen Sie diese wunderbar auf nostalgisch kolorierte Karte mit dem Spruch „Ein Leben ohne Kuchen ist möglich, aber nicht sinnvoll“? Ich übersetze wie folgt: Ein Leben ohne Schreiben ist möglich, aber nicht sinnvoll. Wenn ich nicht gerade das Kreative Schreiben unterrichte, bin ich auf der Suche nach Möglichkeiten, wie ich Menschen zum Schreiben motivieren kann. Also habe ich 2004 Jahren gemeinsam mit meinen Kolleginnen Henrike Taupitz und Carmen Weidemann den Nordhessischen Autorenpreis erfunden – um literarisches Leben, Gegenwartliteratur und AutorInnen in Nordhessen zu fördern. Im Moment läuft der fünfte Durchgang. Man findet dazu mehr auf der Website des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V.
Pressemitteilung Jana Ißleib (33) ist auf der Jahreshauptversammlung des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V. am 12. Mai 2014 als neues drittes Vorstandsmitglied gewählt worden. Sie ist erfahren in Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und im Organisieren von Kulturveranstaltungen und wird in den kommenden Monaten die seit fast zehn Jahren aktiven Vorständlerinnen Kirsten Alers (53) und Carmen Weidemann (48) bei der Durchführung des 5. Nordhessischen Autorenpreises unterstützen. Gunther Neumann hat den Vorstand nach drei Jahren Engagement aus persönlichen Gründen verlassen, er bleibt dem Verein als unterstützendes Mitglied treu. Zum 5. Autorenpreis können bis zum 17. Juli 2014 (Einsendeschluss) lyrische, erzählerische und experimentelle Arbeiten zum Thema „Himmel, Hölle, Heimatkunde“ eingereicht werden. Die unveröffentlichten Texte müssen in siebenfacher Ausfertigung eingehen bei: Henrike Taupitz, Uhlenhorststraße 14, 34132 Kassel
Der neue Vorstand des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e. V.: (von links nach rechts) Jana Ißleib, Kirsten Alers und Carmen Weidemann (Foto: Uli Ahrend | satzmanufaktur).
4. Mai 2014
Josef Haslinger zum distanzierten Lesen
Fundstück in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen
Anlässlich des Literarischen Frühlings in Waldeck-Frankenberg, bei dem Josef Haslinger als Lesender zu Gast war, interviewte Bettina Fraschke den Leipziger Professor für literarische Ästhetik (Deutsches Literaturinstitut Leipzig) für die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (15. März 2014).
Ich zitiere einen kleinen Auszug:
Bettina Fraschke: Was können Schreibschüler bei Ihnen lernen? Josef Haslinger: Sie sollen herausfinden, was sie eigentlich wollen. Wir können sie mit Aufgaben stimulieren. Wir geben ihnen ein Echo. Der erste Schritt der Professionalisierung eines Autors ist, dass er den Text so liest, als wäre er von einem anderen geschrieben. Man lernt das Werkzeug Sprache besser handzuhaben. Sprache ist aber nicht nur ein Werkzeug. Ein Autor lebt auch in ihr, denn darin sind die eigenen Erinnerungen deponiert. Josef Haslinger spricht über die Arbeit mit Studierenden, die sich als AutorInnen auf dem Literaturmarkt positionieren wollen. In meinen Schreibwerkstätten versuche ich tatsächlich aber Ähnliches – auch wenn nie der Anspruch besteht, AutorInnen auszubilden. Denn erst durch die distanzierte Wahrnehmung des eigenen Textes kann jedwedes Feedback gewünscht, verstanden und produktiv reflektiert werden.