Alle Beiträge

2. Dezember 2024

Blackout Poetry 1

Kraftvolles Tun gegen Ohnmachtsgefühle

Die Zeitung morgens aufzuschlagen, fordert mich. Ich erwarte Berichte über Eskalationen der Kriege, über vergebliche Anstrengungen, den Klimawandel zu begrenzen, über den nächsten Femizid, den nächsten rassistischen Anschlag …
Ich will die Augen nichtverschließen, ich will auch nicht nichts tun – aber dieses Gefühl, mit meinen winzigkleinen Anstrengungen im Grunde nichts weiter zu erreichen, als dass ich mir noch im Spiegel in die Augen schauen kann, ist schon stark. Gut, ich kann spenden, ich kann meinen Mund aufmachen, ich kann Projekte gegen oder für initiieren usw. Und dann bin ich ja auch noch Schreibpädagogin. Und als solche empfehle ich einen kreativen Umgang mit der Tages- oder Wochenzeitung: Blackout Poetry.
Nimm die Zeitung, die du gerade gelesen hast. Wähl einen Text, der dich verstört hat. Greif nach einem Edding und streich nahezu alle Wörter. Lass einige Wörter ungeschwärzt, diese sollen eine Art Gedicht, einen Aphorismus o. ä. ergeben.
Vielleicht schwindet mit diesem Tun zumindest das ganz große Ohnmachtsgefühl – und Kopf und Herz werden wieder etwas freier, um darüber nachzudenken, wo im eigenen kleinen Leben Möglichkeiten existieren, etwas zu verändern oder zumindest zu verhindern.


25. November 2024

Adventskalender ohne Schokolade …

… dafür mit täglichen Schreibimpulsen

Vor Weihnachten jeden Morgen ein Türchen im Adventskalender öffnen zu können - das erfreut auch Erwachsenenherzen. Und was könnte es Besseres geben als eine tägliche Wartezeitversüßung mit kreativen Schreibimpulsen?! Schreiben macht Spaß, führt in die Weite und in die Tiefe, aktiviert unsere Lebensenergien, drängt das Gefühl des Wartens in den Hintergrund. Hier setzt die Idee des Adventskalenders mit 24 virtuellen Türchen an. Jeden Morgen verschicke ich per Mail einen einfachen, manchmal gar minimalistischen Schreibimpuls. Das Schreiben gestalten die Teilnehmenden selbst – ob mit oder ohne Schokolade. Vorkenntnisse im Schreiben sind nicht erforderlich. Austausch und Feedback sind nicht vorgesehen, aber die Texte können mit den anderen Teilnehmenden auf einem (kursinternen) Padlet geteilt werden.

Kosten: 48 Euro
Anmeldung: vhs-region-kassel.de
Kursnummer: 242-05457


18. November 2024

Multikrise

Wort der Woche im SWR Kultur

Eine Entdeckung bei der Suche nach einem Impulswort für eine Schreibwerkstatt: Das Wort der Woche wird jeden Samstagnachmittag um kurz nach 14 Uhr im SWR Kultur vorgestellt, für diese Woche erläutert Annette Klosa-Kückelhaus das Wort „Multikrise“. Im Teaser heißt es: „Seit der Coronapandemie liest oder hört man den Begriff häufiger. Er beschreibt die vielfältigen Bedrohungen, denen der Planet, die Gesellschaft oder wir als Bewohner ausgesetzt sind. Von Kriegen über Klimawandel bis hin zur Wirtschaftskrise. Der Begriff Multi ist aus anderen Zusammenhängen positiv konnotiert. Im Fall der weltweiten Krisen fungiert er als Ausdruck der Potenzierung und der Notwendigkeit, Lösungen auf verschiedenen Ebenen zu finden.“
Die Wörter der Wochen findest du hier.

Schreiben kannst du zum jeweiligen Wort der Woche natürlich auch …


Letzte Woche und diese Woche habe ich in meiner Montagsschreibgruppe den Teilnehmenden viel abverlangt: Sie sollten schriftlich Feedback auf jeweils einen Text einer anderen Person aus der Gruppe geben, der ihnen schriftlich und anonymisiert vorlag.
Die Aufgabe letzte Woche lautete: Bring am Text an sechs Stellen Zeichen an: 2 x ein Plus (+), 2 x ein Minus (–), 2 x ein Fragezeichen (?). Erläutere deine Anmerkungen in ganzen Sätzen.
Die Aufgaben heute lauteten: 1. Lass auf den Text einen warmen Lobregen niedergehen. 2. Skizzier das sprachliche und auch das inhaltliche Wagnis, das der Text eingeht.
An beiden Montagen haben wir vorher über Möglichkeiten bzw. Aspekte gesprochen.
Hinterher haben wir ausführlich über das Feedbackgeben und -nehmen gesprochen.

Die Montagsfrage an dich, liebe Leserin*, lautet: Welche Aufgabe würde dir schwer fallen, welche würdest du kritisch sehen?
Schreib mir gern eine Mail: kirsten.alers@wortwechsel-kaufungen.de


4. November 2024

Morgen: Schreibcafé online

Experimentelles Schreiben nach ungewohnten Regeln

Wenn wir schreiben, befolgen wir Regeln. Das tun wir routiniert, manche Regeln sind uns wahrscheinlich gar nicht (mehr) bewusst. Was aber passiert, wenn wir uns bewusst Regeln setzen, wenn Nomen, das Wort Ich oder alle Zeiten außer Futur I und II tabu sind, wenn jeder Satz aus genau vier Wörtern bestehen oder mit jeweils dem letzten Wort des Satzes davor beginnen muss? Welche Auswirkungen hat das auf unser Schreiben und auf die Texte, die entstehen?
Wir spielen, wir experimentieren, wir generieren neue, unerwartete, erstaunliche Texte. Quasi nebenbei erweitern wir unser schriftsprachliches Handwerkszeug. Im freiwilligen Zwangstun offenbart sich das Potenzielle, die Chance, das Kreative.
Komm einfach hinein in die Videokonferenz!

Wer leitet? Kirsten Alers
Wann?5. November, 18.00 bis 19.30 Uhr
Wie teuer?5 bis 20 Euro (nach Selbsteinschätzung)
Wo?via Zoom. Melde dich bei mir, dann schicke ich den Zugangscode.


28. Oktober 2024

10. Heft ist erschienen!

g wie Grammatik, wie grandios, wie gestalten

Ein Drittel des Weges bin ich gegangen – das 10 Heft meiner Reihe zum Kreativen Schreiben ist erschienen, es befasst sich mit dem Thema Grammatik bzw. macht es schmackhaft. Grammatik und Kreatives Schreiben – im und scheint ein Widerspruch zu stecken. Anhand analysierter Text-Beispiele wird erläutert, wie die sprachlichen Möglichkeiten beim Schreiben auszuschöpfen und Texte tiefer zu verstehen sind mit Kenntnissen grammatischer Strukturen. Gezeigt wird, wie bereits minimale grammatische Veränderungen auf der Sinnebene Wirkung zeitigen. Experimentelle Verfahren laden ein zum spielerischen Erproben und Erfahren des Geschenks, das Sprache uns mit ihrem grammatischen Potenzial macht.
ISBN 978-3-935663-43-4 | 44 Seiten | 10 Euro

Mehr zur Reihe 26+4 findest du auf meiner Website.


21. Oktober 2024

Between the Lines

Drei Gedichte in einem

herausfinden: Between the Lines ist nicht ganz unbekannt bei Schreibgruppenleitungen. Hier will ich nun ein Verfahren vorstellen, das das Verfahren adaptiert und erweitert.

Schritt 1 Du hast einen Text geschrieben, der dir als ganzer nicht so zusagt, in dem aber Sätze, Halbsätze aufleuchten, die du einer weiteren wertschätzenden Verwendung für würdig erachtest. Mach aus diesen Sätzen ein Gedicht, frei, ohne Reime und spziellens Rhythmuskonzept. Lass es etwa acht Zeilen lang sein und gib ihm zum Schluss eine Überschrift.
Schritt 2 Schreib das Gedicht ab und lass Platz zwischen den Zeilen. Nun schreib in die Zwischenräume passende Zeilen, die das ursprüngliche Gedicht ergänzen, die sich also anschließen, inhaltlich und grammatisch.
Schritt 3 Schreib diese Zwischenraumzeilen ab und überarbeite sie so, dass sie ein eigenes konsistentes Ganzes ergeben – aber immer noch zum ersten Gedicht, also in die Zwischenräume passen. Gib ihm eine Überschrift.
Schritt 4 Füg beide Gedichte, die über die gleiche Zeilenzahl verfügen sollten, wieder zusammen.

Entstanden ist ein Gebilde, das drei Gedichte enthält. Ein Beispiel von mir, entstanden im Collage-Workshop am 11. Oktober 2024.

DAMALS
ICH WERDE
deine blauen Augen
neun Mal schlagen die Glocken
ohne ausgewiesene Tiefe
ich werde die Konsequenz verraten
dennoch werde ich
,ich kann‘ sagen
den Blick senken
und morgen
als Erste blinzeln
die Augen dann schließen
bevor du mich blendest
meine grünen Augen
mit deinem Orakelspeer
ich werde einen Grund haben


14. Oktober 2024

Die Lyrische Hausapotheke

Lesen und Schreiben als Heilmethoden

Es sind Herbstferien in Hessen. Für mich kursfreie Zeit. Nicht jedoch freie Zeit. Jedes Jahr in den Herbstferien warten auf mich an die 40 Prüfungsleistungen aus dem Studiengang Biografisches und Kreatives Schreiben an der Alice Salomon Hochschule, die ich zu lesen und zu begutachten habe.
Ich liebe es, diese Prüfungsleistungen zu lesen, wirklich! Welch eine Fülle ein Ideen für Schreibgruppenkonzepte mir da entgegentritt! Ich bekomme jedes Jahr hundert neue Ideen für meine Schreibgruppenarbeit geschenkt. Und inspirierende Zitate dazu.
Heute durfte ich in der Arbeit der Studentin Sylvia G. ein Textstück von Erich Kästner lesen, das ich noch nicht kannte und das ich für verbreitenswert halte.
„Es tut wohl, den eigenen Kummer von einem anderen Menschen formulieren zu lassen. [...] Es beruhigt aber auch zuweilen, das gerade Gegenteil dessen, was man empfindet, nachzufühlen. Die Formulierung, die Verallgemeinerung, die Antithese, die Parodie und die übrigen Variationen der Maßstäbe und der Empfindungsgrade, alles das sind bewährte Heilmethoden.“
Die Lyriksammlung, die dann folgt, hat beim Lesen möglicherweise heilende Wirkung – und welche erst, wenn wir sie nutzen als Inspiration zum eigenen Dichten?!

Quelle: Kästner, Erich (1936): Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke. Zürich: Atrium: S. 7f.


7. Oktober 2024

Geheimwissen oder:

Frei sein im Schreiben

In der Erwachsenenbildung ist es üblich, dass die Einheiten eines Seminars zu Beginn desselben recht detailliert gruppenöffentlich gemacht werden, damit die Teilnehmenden sich auf das, was sie erwartet, einstellen und auch den didaktischen Aufbau nachvollziehen können. In meinen zwei- oder dreistündigen Schreibgruppen verzichte ich darauf, den Ablauf zu ,verraten‘ – und werde immer mal wieder gefragt, warum ich so ein ,Geheimnis‘ um die zu erwartenden Schreibaufgaben mache.
Für mein Vorgehen gibt es einen einzigen erfahrungsbasierten Grund: Wenn ich vor dem ersten Schreibimpuls sage, was als zweite Aufgabe folgt, dann schreiben die meisten schon auf diese zweite Aufgabe hin ausgerichtet. Das aber ist nicht das, was ich mit dem ersten Schreibimpuls (in der Schreibgruppen-Szene auch Warm-up genannt) erreichen will. Ich will, dass alle sich frei fühlen, dass sie den Impuls in sich hineinsinken lassen und dann die Wörter, die Sätze aufs Papier fließen lassen.
Das ist eine Gratwanderung, denn ich weiß natürlich, wie es danach weitergeht, habe also eine Art Geheimwissen, das ich in meiner Machtposition als Leitung für mich behalte. Und natürlich darf die folgende Aufgabe auch nicht so strukturiert sein, dass es eine bestimmte Art von Text dafür braucht.
Als ich vor 33 Jahren angefangen habe zu unterrichten, habe ich es schon genauso gehandhabt – und ich bin nach wie vor von dieser Praxis überzeugt. Wenn ich einmal im Monat an einem Schreibabend, den meine Kollegin Carmen Weidemann gestaltet, teilnehmen darf, dann ist es genau das, was mich begeistert: Sie gibt einen Impuls, und ich weiß nicht, was danach kommt, und fühle mich genau deshalb frei in Inhalt, Form und sprachlicher Gestaltung meines ersten Textes.


30. September 2024

Kettenreaktionen lesbar – jetzt!

Projekt des Vereins Nordhessischer Autorenpreis 2024

22 Wochen Kettenreaktion sind beendet. 176 Schreibende haben von Ende April bis Ende September 2024 acht (!) parallel sich entwickelnde Ketten gestaltet. Das Projektteam des Vereins Nordhessischer Autorenpreis (Carmen Weidemann und ich) durfte jeden Samstag immer schon die Fortsetzungen lesen, um dann die anonymisierten Texte an die jeweils nächste Person in der Kette zu verschicken.
Alle Ketten starteten mit dem gleichen Text als Impuls. Dieser ist entstanden in einer kollektiven Schreibaktion Mitte April, an der sieben Personen beteiligt waren. Die ab dem 22. April Schreibenden hatten nur zwei Regeln zu beachten: Es musste ein Satz aus dem vorherigen Text übernommen und es musste sich auf eine DIN A4-Seite Text beschränkt werden. Ob auch inhaltlich an den Vortext angeknüpft wurde, war freigestellt.
So nun sind acht Ketten gewachsen, die mit Fortsetzungen und Brüchen, mit Prosa und Lyrik, mit Autobiografischem und Experimentellem, mit Themen von Liebe bis Klimawandel Aspekte des derzeitigen Lebens in unseren Breiten wie ein kaleidoskopisches Quodlibet abbilden. In den intertextuell verwobenen Gemeinschaftswerken behalten doch die individuellen Texte ihren je eigenen Wert.
Hier kannst du die Ketten lesen.


23. September 2024

Alles zu viel

Deshalb mal weniger

Gestern habe ich etwas gelesen und gehört zum Erschöpft-Sein, hier kannst du es auch lesen bzw. hören.
Und daraus ergab sich folgende sehr reduzierte und so auch Ressourcen sparende Schreibanregung: Schreib einmal eine Zeitlang am Abend sieben Wörter in ein kleines Heft.
Mehr ist dazu jetzt erst einmal nicht zu sagen (auch wegen des Reduzierens und Ressourcenparens).


16. September 2024

Literatur als Zeichen gegen Rechts

4 Statements von 4 Schriftsteller:innen

„[…] Literatur kann die Sprache durchleuchten, die öffentliche Diskurse prägt, kann Bedeutungsebenen und Mechanismen offenlegen. Sprachbarrieren sind Grenzen, die durch Übersetzungen in Dialog aufgelöst werden können. Literatur kann den Dialog eröffnen, Utopien erschaffen, kann Zweifeln und Zeichen setzen. Im Schreiben können wir uns gegen dogmatische Ideologien stellen, Grenzen überschreiten, thematisch und ethisch, ebenso Grenzen setzen im Namen der Menschenwürde, des Mitgefühls, der Vielfalt.
Das Politische ist dem Poetischen immer inhärent, als innerer Widerstand, der jedes Wort treffen muss, gegen Erwartungshaltungen, gegen gewohntes Denken, gegen gelernte Strukturen und Muster, gegen die Einordnung von Realität, als close reading des Geschriebenen und als Beschreibung gesellschaftlicher Soll- und Ist-Zustände. Literatur, die Verantwortung übernimmt. Auch das kann passieren.“ Das schreibt die Schriftstellerin Sandra Gugić in der taz vom 28. 3. 2019. Sie spricht mir aus dem Herzen und aus dem Verstand. U. a. deshalb lese ich, u. a. deshalb unterrichte ich Kreatives Schreiben. Das vollständige Statement sowie drei weitere von Jörg-Uwe Albig, Maja Präkels und Thomas Wagner findest du unter folgender Überschrift:
„Literatur als Zeichen gegen Rechts. Welche Ansprüche stellt Rechtspopulismus an Romane, Gedichte und Sachbücher? Vier Statements.“
Hier kommst du zu den Texten.


9. September 2024

Haiku, Tanka, Petite boîte

– und heute mal ein Cinquain

Neulich haben wir in der Schreibwerkstatt Silbengedichte verfasst – und was sonst so gut wie nie vorkommt: Mir wurde die Zeit beim Schreiben und für den Gruppenablauf knapp, obwohl wir ja nur Mini-Gedichte mit wenigen Silben verfasst haben … Jedenfalls hatten viele insbesonderen Spaß am Gestalten von Cinquains. So will ich dir diese Form zum Ausprobieren mal vorstellen.
Erste Cinquains verfasste – inspiriert vom japanischen Haiku – die US-Amerikanerin Adelaide Crapsey (1878–1914), die 1915 veröffentlicht wurden. Hier das Schema und ein Beispiel:

Schema
1. Zeile: 2 Silben  Titel/Inhalt
2. Zeile: 4 Silben  Beschreibung des Titels
3. Zeile: 6 Silben  eine Aktion
4. Zeile: 8 Silben  eine Empfindung
5. Zeile: 2 Silben  Synonym für den Titel

Peggy Bertrand
She does
Cutting, chopping
Slicing, stirring, cleaning
Whipping, serving, creating, hosting
Housewife


2. September 2024

Mehr Bücher

Ein neuer Literaturzirkel in Kaufungen

Seit diesem Quartal kann man jeden ersten Donnerstag im Monat in der Bücherei in Oberkaufungen neue, alte und wiederentdeckte Bücher kennen lernen. Das Team um Büchereileiterin Lea Müller freut sich über Menschen, die neugierig sind auf Lesestoff – Interessierte können aber auch eigene Lieblingsbücher mitbringen und vorstellen.
Die Veranstaltung findet statt in Kooperation mit der Initiative Dorfbuchladen.

Literaturzirkel
Donnerstag, 5. 9., 18.30 bis 20 Uhr
Gemeinde- und Schulbücherei, Niester Straße, Kaufungen
Eintritt frei


26. August 2024

Schnipseln …

… statt Fernsehen

Es macht Spaß, ist meditativ und bringt erstaunliche Ergebnisse: das Collagen von Texten aus Wörtern, Halbsätzen und Schlagzeilen. Meine Freundin Veronika hat die Schnipsel-Texte der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller wiederentdeckt – und ist versunken im Schnipseln, Mit-den-Augen-über-die-Schnipsel-Schweifen, Meditieren, Wörter-Schieben und Kleben. Eins ihrer Werke möge dich inspirieren.


19. August 2024

Spielerisch die Regeln brechen

Futuristische Anregungen

Unter dem Einfluss von gesellschaftlicher Destabilisierung und Krieg im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhundert haben die vom italienischen Futurismus beeinflussten Expressionist:innen (bekannte sind z. B. Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler) mit dem Ziel der Erneuerung des Menschen zur Sprengung der konventionellen Formen der Sprache aufgerufen, um einen adäquaten Ausdruck für das zu finden, was sie empfanden: Ekel und Angst, Lust an Visionen und Revolte gegen Krieg, Maschinenherrschaft, Individualismus und Geniekult … Gearbeitet haben sie mit Verknappung, Verdichtung und Zerstörung der Syntax. Einige der Aufforderungen des bedeutendsten Futuristen Filippo Tommaso Marinetti im Technischen Manifest der futuristischen Literatur (1912) seien hier zur Nachahmung empfohlen.

  1. MAN MUSS DIE SYNTAX DADURCH ZERSTÖREN, DASS MAN DIE SUBSTANTIVE AUFS GERADEWOHL ANORDNET, SO WIE SIE ENTSTEHEN.
  2. MAN MUSS DAS VERB IM INFINITIV GEBRAUCHEN, damit es sich elastisch dem Substantiv anpaßt, und es nicht dem Ich des Schriftstellers unterordnen, der beobachtet und erfindet. Nur das Verb im Infinitiv kann das Gefühl für die Fortdauer des Lebens und die Elastizität der Intuition, durch die sie wahrgenommen wird, vermitteln. […]
  3. MAN MUSS DAS ADJEKTIV ABSCHAFFEN. […].
  4. MAN MUSS DAS ADVERB ABSCHAFFEN, diese alte Schnalle, die ein Wort an das andere bindet […]“ (litwiss-online.uni-kiel.de/avantgarde/futurismus/).


12. August 2024

Sommerlektüres

Leserausch an der Ostsee

Eine Woche lang machte ich Ferien an der Ostsee, in einem Haus, das die Eltern einer Freundin 1961 als Ferienhaus hatten errichten lassen. Die Mutter der Freundin hatte es lange Jahre ganzjährig bewohnt – und alle Dinge sind noch dort. Vor allem sind alle Bücher noch dort. Viele rororo-Taschenbücher, Biografien ,großer‘ Männer, Kunstbände, historische Bildbände und einige gebundene Romane aus renommierten Verlagen. Ich blätterte ein bisschen in den Kunstbänden und dachte, ich müsse doch in eine Buchhandlung fahren, weil die jüngsten der Bücher, die mich vielleicht interessieren könnten, in den 1990er Jahren erschienen waren – aber dann nahm ich das erste und las … und las, unter dem Sonnenschirm, am Strand, im Sessel, im Bett … In sechs Tagen fünf Bücher, ein seltener Rausch, der so wohl nur jenseits des Alltags gelingt …

Ich begann mit einem kleinen Büchlein, weil es so einen schönen Einband hatte und weil ich noch einmal von dieser Autorin, die mich (so meine ich) zum inneren Wandel gebracht hatte, als ich elf, zwölf Jahre alt war, angezogen wurde: Die springende Flut von Pearl S. Buck (mit einer Original-Widmung auf dem Vorsatzpapier, ohne Erscheinungsjahr), auf etwas mehr als 100 Seiten im Postkartenformat die Geschichte zweier japanischer Jungen, von denen der eine seine Familie bei einem Tsunami verliert: anrührend, philosophisch, sprachlich und auch ansonsten aus einer anderen Zeit …
Es folgte eine Art Kontrastprogramm mit Die Frau in der Hecke von Joan Barfoot (Verlag Antje Kunstmann 1995): zwei Freundinnen in den USA, beide in den 1920ern geboren, die mit 70 auf ihre unglaublich unterschiedlichen Leben zurückblicken und insbesondere ihre gewählten Liebesverhältnisse betrachten: sehr differenziert, zur Selbstspiegelung einladend und staunen machend über die Möglichkeiten der Generation meiner Mutter …
Das Highlight kam dann: Geschehnisse am Wasser von Kerstin Ekman (Neuer Malik 1995). 1974 beginnt die Geschichte mit einem Mord in der Nähe einer Kommune in Nordschweden nahe der norwegischen Grenze, und 18 Jahre später endet sie nach mannigfaltigen aus falschen Annahmen sich ergebenden Verstrickungen mit einem weiteren Mord, und all das hat mit den großen und den ganz kleinen Dingen und dem Wesentlichen zu tun: fast 550 Seiten, von denen ich drei Tage nicht loskam, grandios erzählt. Und das ich unbedingt zu lesen empfehle!
Zwischendurch zur ,Erholung‘ las ich die Rowohlt-Monografie über Max Ernst, (von Lothar Fischer, 1969), erfuhr noch mehr, als ich schon wusste, über den großen Künstler, der mich mit seinen Collagen und Frottagen seit einigen Jahren fasziniert.
Und dann zum Schluss noch ein Büchlein im Postkartenformat: Zwei alte Frauen von Velma Wallis (Piper 2005), ich hatte es schon einmal vor vielen Jahren gelesen hatte; die athabaskische Autorin erzählt die Geschichte zweier von ihrem Stamm in einer winterlichen Hungersnot zurückgelassener alter indigener Frauen am Yukon River, die sich auf die Fertigkeiten besinnen, die sie einst erlernt hatten, und mehr als überleben: auch hier das Einfache, das mich anrührte …

Neulich hatte ich meine Freundin Veronika noch gefragt, was es sei, dass sie die Bücher kiloweise fressen ließ. Sie konnte darauf gar nicht wirklich antworten – so wie ich jetzt auch nicht … Ob, wäre ich noch eine weitere Woche dort geblieben in diesem Häuschen hinter dem Deich, es so weitergegangen wäre mit dem Glücksleserausch? Ich glaube nicht. Vielleicht gelingt ein neuer im nächsten Sommer …


5. August 2024

Ein Sommer-Impuls

Alphabet der Bedeutungslosigkeiten

Manchmal treten die großen Dinge in den Hintergrund, manchmal bedeuten kleine Dinge die Welt, manchmal ist etwas bedeutsam, was gestern noch gar nichts bedeutete, manchmal werden die großen Dinge noch größer und viele andere verlieren ihre Bedeutung im persönlichen Leben oder gar im philosophischen Sinne ganz und gar … Jedenfalls ist es gar nicht so einfach, ein Alphabet der Bedeutungslosigkeiten aufzustellen. Hier mein 5 ½ Minuten-Versuch vom 1. August 2024. Nachahmungen – in welcher Weise auch immer – sind erwünscht.

Anthrazit
Blusen
Chic
Damenwahl
Ewigkeit
Freibier
Glibber
Hamburg
Insistieren
Jungsein
Kabelfernsehen
Langsamkeit
Mondfinsternis
Nägelkauen
Olympiade
Prüfsteine
Quadrate
Rasenmähen
Sendungsbewusstsein
Tafelsilber
Understatement
Vasen
Wandfarbe
X-en
Y-Chromosomen
Zerstreutheit


29. Juli 2024

Neuer Literaturzirkel in Kaufungen

Kooperation mit dem mobilen Dorfbuchladen

Gemeinsam neue, alte und wiederentdeckte Literatur kennen lernen: Lea Müller und Monika Schönig von der Gemeinde- und Schulbücherei Kaufungen stellen im Literaturzirkel eine Buchauswahl vor und laden dazu ein, auch eigene Lieblingsbücher und Empfehlungen mitzubringen. Dieses neue Angebot findet seit Juli dieses Jahres jeden ersten Donnerstag im Monat statt. Am Donnerstag also sind die Türen der Bibliothek in Oberkaufungen auch am Abend noch geöffnet. Lesebegeisterte oder die, die es werden wollen, können einfach vorbeikommen, ob mit Büchern und Neugier oder ohne Bücher und mit Neugier.

Was:  Literaturzirkel Kaufungen
Wann: Donnerstag, 1. August, 18.30 bis 20.00 Uhr
Wo: Bibliothek Oberkaufungen, Niester Straße
Kontakt: Mail: lesen@dorfbuchladen.de, Tel.: 05605-8021950


22. Juli 2024

Wunsch II

Ein Text als Impuls

Ein Text von mir, Mitte Juli entstanden zur Überschrift „Wunsch II“, möge dich inspirieren – oder du liest ihn (erst einmal) nicht, sondern lässt dich ebenfalls inspirieren von diesem grandiosen Titel.

Wunsch II
Wunsch I war gestern, Wunsch III kommt vielleicht, vielleicht aber, möglich ist das immerhin, jedenfalls wenn ich das Schreiben insofern wirklich und wahrhaftig ernst nehme, als dass ich es als immaterielle Versuchsanordnung betrachte, als Möglichkeit zum Probehandeln, als Visionenentwicklungswerkstatt, als Labor für Zukunftsszenarien, wenn ich das Schreiben also insofern wirklich und wahrhaftig ernst nehme, dann ist das vielleicht bezüglich Wunsch III angebracht, denn sollte sich Wunsch II erfüllen, wäre Wunsch III mit neunzigprozentiger Sicherheit nicht mehr nötig, sollte sich aber Wunsch II, der für heute vorgesehen ist, was ich deutlich spüre, auch wenn ich nicht zu sagen weiß, wer das so vorgesehen hat, wer Wunsch I für gestern und Wunsch II für heute für mich vorgesehen hat, ob es eine Fee war, Amaryllis oder wie Feen eben so heißen, seit sie in Büchern gelandet sind, sollte sich also Wunsch II erfüllen und Wunsch III nicht mehr notwendig sein, dann wäre also heute ein Tag, der mit Fug und Recht (um wessen Fug und um wessen Recht es auch immer gehen mag) ein absoluter Tag zu nennen wäre, der es verdient hätte, als absoluter Tag gekennzeichnet zu werden und in die Annalen einzugehen, in meine Annalen sowieso, aber auch in die der allgemeinen Geschichtsschreibung, denn man stelle sich einmal vor, dass es eine Person geben könnte, in dem Fall, der hier beschrieben wird, also ich, dass es eine Person geben könnte, die am Ende eines Sommertages im Jahr 2024 sagen könnte, sie könne auf Wunsch III verzichten, weil mit der Erfüllung von Wunsch II alles an weiterer Wünscherei sich erübrigt hat, man stelle sich das also einmal vor und überlege dann einfach sehr genau, was denn, um solch einen persönlich absoluten Tag erleben zu dürfen, von dessen Bedeutung es sich ja lebenslang zehren ließe, was denn dann Wunsch II sein müsste, wie Wunsch II beschaffen sein müsste, wie also Wunsch II beschaffen sein müsste, um dieses Erhabene quasi als Belohnung zu bekommen.


15. Juli 2024

Hochsommerrot

oder auch Himbeerpink

Es ist Hochsommer, nicht nur auf dem Papier, sondern auch tatsächlich draußen, jedenfalls in Kaufungen. Ich sitze in meiner schönen kühlen Werkstatt und schreibe dies und das, räume auf, reflektiere das erste Halbjahr – und freue mich auf die freien Zeiten, die vor mir liegen … Auf was ich mich immer am meisten freue, sind nicht etwa lange rotweinselige Abende im Garten, Strandspaziergänge oder exzessives Bücherverschlingen (obwohl diese Aktivitäten auch nicht zu verachten sind), sondern aufs Denken und Schreiben am Stück, ohne dass ich unrerbrochen werde. Die nächsten beiden Hefte der Reihe 26+4 wollen und sollen geschrieben werden: r wie Rückkopplung (Feedback) und p wie Plural (die Kraft der Schreibgruppe). Aber vorerst heute: Pause. Und ein bisschen schreiben, z. B. zu einem hochsommerroten oder himbeerpinken Blütenteppich.


8. Juli 2024

Begegnungen mit Buch und Sprache

Kaufungen braucht wieder einen Buchladen

Ende März 2023 hat der Kaufunger Buchladen Terra Cotta seine Türen geschlossen – die Besitzerin war 75 Jahre alt geworden und hatte sich lange vergeblich bemüht, eine buchhändlerische Nachfolge zu finden. Natürlich sprach sich die traurige Tatsache im Ort schon vorher herum – und es bildete sich eine Initiative, die sich dafür einsetzen wollte, dass es möglichst bald wieder einen Buchladen in Kaufungen gibt.
Ich habe mich im Frühjahr 2023 dieser Initiative angeschlossen. Denn, so meine ich (mit vielen anderen in Kaufungen): Ein Buchladen gehört in einer solch großen Gemeinde zum notwendigen Nahversorgungsangebot.
In Kooperation mit der Kasseler Buchhandlung am Bebelplatz und dem Kaufunger Bio-Mitgliederladen MiLa O. organisiert die Initiative DORFBUCHLADEN, dass in Kaufungen Bücher bestellt werden können – seit knapp einem Jahr immerhin das schon wieder. Und hofft, dass die Buchhandlung bald geeignete Räume findet, um eine Filiale eröffnen zu können!
Die Initiative will aber noch mehr: Begegnungen mit Buch und Sprache an verschiedenen Plätzen und in Kooperation mit unterschiedlichen Menschen und Institutionen im Dorf. Sie initiiert z. B. Kneipenabende zu aktuellen Themen im Kaufunger Hof, einen Schnupperkurs in Gewaltfreier Kommunikation oder einen Literaturzirkel in Kooperation mit der Bücherei in Oberkaufungen.
Jetzt ist unser erstes Programm (für die Monate Juli bis September) erschienen. Wir sind froh und stolz!
Am Herbstprogramm werde auch ich mich mit Veranstaltungen beteiligen. U. a. werde ich eine offene Lesebühne organisieren, mehr dazu demnächst. Wenn du die Initiative kennen lernen möchtest und Fragen hast: Im Rahmen des Feierabendmarktes auf dem Brauplatz in Oberkaufungen findest du uns am 25. Juli ab 16 Uhr. Oder du schaust auf die Website.


1. Juli 2024

48 Stunden Neukölln

Nachahmenswert auch für die Provinz

Wenn man solche Studierenden unterrichten darf, wie ich sie unterrichten darf, an einer so wunderbaren Hochschule wie der Alice Salomon Hochschule, an der der nicht minder wunderbare Studiengang Biografisches und Kreatives Schreiben angesiedelt ist, dann wird man ununterbrochen inspiriert von den Innovationen der Studierenden in ihren kreativen Hausarbeiten, durch ihre innovativen Praxisprojekte und diverse sonstige Aktivitäten. Ein Beispiel: Lucia Biller und ihre Partnerin Marlies Pahlenberg waren am vergangenen Wochenende beteiligt am Berliner Kiezkunstprojekt 48 STUNDEN NEUKÖLLN. Einen kleinen Einblick bekommt man in einem kurzen Regionalfernsehbeitrag des rbb.
Lucia und Marlies haben ihren Beitrag genannt: „Was die urbane Stille durchbricht – Found Poetry im Stadtraum“. Sie haben versucht, die Geräusche der Stadt aufzuzeichnen und/oder sich davon inspirieren zu lassen. Das Beispiel auf dem Foto (von Lucia Biller) zeigt einen Versuch. Könnte man sich nicht auch etwas Ähnliches vorstellen in der nordhessischen Provinz? 48 STUNDEN KAUFUNGEN?


24. Juni 2024

Tag 3: forschen, finden, formen

Erfahrungsbericht aus der letzten Woche

Am Ende von Tag 3 (siehe BlogPost vom 17. Juni 2024) bestand die Aufgabe darin, am Tag hergestelltes Bildnerisches und Textliches zusammenzufügen. Hier ein Ausschnitt, der zeigt, was es war. Ob die Tiefe des Prozesses sich zeigt, kann ich nicht beurteilen; für mich ist sie sichtbar – was sollte ich mehr wollen?!


17. Juni 2024

Tag 3: forschen, finden, formen

Von der äußeren Winzigkeit zum (inneren) Wesentlichen

Die kreative Sommerwoche mit Wort und Bild ist im vollen Gange. Nachdem wir uns an Tag 1 an einen Draußenort begeben hatten, um Eindrücke zu sammeln, schnappend, notierend, skizzierend … und erste Ausdrücke zu finden, Listentexte schreibend, Zeichnungen machend …, nachdem meine Kollegin Barbara Sturm und ich an Tag 2 mehrere Forschungswerkstätten gestaltet hatten zu Varianten der Monotypie und der Frottage sowie Varianten freien Schreibens, geht es an Tag 3 darum, an den Draußenort von Tag 1 zurückzukehren und sich einer Winzigkeit, einem Detail mit dem an Tag 2 Gelernten zu widmen.
Meine Winzigkeit ist ein Sandstein in einem Mäuerchen auf meinem Hof, das ich vor vielen Jahren selbst gesetzt habe. Ich werde frottieren, mit Bleistift, mit Wachsstift, mit Pigment. Ich werde frei schreiben, werde es fließen lassen, im Freewritingmodus werde ich etwas finden. Etwas, das selbstbedeutsam und welthaltig ist. Das weiß ich. Weil ich es bereits so oft erlebt habe, wie die ästhetische Erfahrung gar nichts Anderes bewirken kann, als Verbindungen zu meinen Themen, zwischen mir und Welt und Welt und mir zu offenbaren, mir also ermöglichen, (mehr) zu verstehen und ausdrücken zu können.


10. Juni 2024

Vierzeiler

und Mascha Kaléko

Schon lange hatte ich nichts mehr mit Gedichten von Mascha Kaléko gemacht – bis letzten Donnerstag. Meine Kollegin Carmen Weidemann leitete einen wundervollen Schreibabend in unserer gemeinsam gestalteten Schreibwerkstatt 3+, die gerade zum 27. Mal stattfindet. Vierzeiler von Mascha Kaléko waren leitend. Abwechselnd machten wir Freewritings und schrieben Vierzeiler. Daraus empfehle ich also nun Folgendes:

1. Schritt: Nutze die folgenden vier Zeilen als einzelne Impulsen und schreib dazu jeweils 5 Minuten im Modus des Freewritings (es handelt sich dabei um einen Vierzeiler von Mascha Kaléko aus ihrem Buch Sei klug und halte dich an Wunder):
  Ich brötle gerne eigenen
  Im eigenen Stall
  Und tanze ich schon mal
  Dann nur aus dem Reigen
2. Schritt: Nimm aus jedem der vier Texte eine kurze Zeilen oder einen Halbsatz etc. heraus – und setz diese zu einem Vierzeiler zusammen. Du kannst auch mehrere Vierzeiler machen – mit den gleichen Zeilen in anderer Reihenfolge oder mit anderen …


3. Juni 2024

i wie Impuls

und wie Ins-Schreiben-Kommen und wie Irritation

In meinem 8. Heft der Reihe 26+4 geht es um das, was die Überschrift sagt: um den Impuls, das Ins-Schreiben-Kommen und die Irritation. Besonders geht es um die Irritation. Weil ich glaube, dass ein guter Schreibimpuls immer einen wenn auch noch so winzigen Irritationsaspekt beinhaltet. Es gibt natürlich auch die, die ganz offensichtlich (durch ihre Skurrilität) iritieren – einige davon hier und heute für dich zur Inspiration.
Schreib zu: #diesunddas, 11 Uhr, 2054, 4‘33‘‘, Abendmahl, Aerobic, Atlas, Baumstümpfe, Bewohnbares, Borke, Bügel, Dazwischen, Dichte, Echtzeit, Fahrenheit 451, Feldforschung, Fieber, Fischfutter, FLINTA, Flusen, Frauen*, Freund Hein, Fruchtfliegen, Futur II, Gewortetes, Giersch, Himbeerblau, Japansägen, Kacheln, Kataloge, Kolben, Kurkuma, Lachmöwen, Löcher, Maschinenöl, Menschin, Möglichkeitssinn, Moment 361, Nebennieren, Nebensätze, Nonbinär, Nordnordost, Parallelen, Pflaster, PoC, Raki, Seite 19, Selfie, Semikolon, Streichholzbriefchen, Teppichfransen, Unsinn, Verben, Widerfahrnis oder ZEUX.
Das Heft erscheint in wenigen Tagen.


27. Mai 2024

Kreatives Schreiben studieren?

Studien-Infotag an der Alice Salomon Hochschule Berlin (ASH)

Seit 18 Jahren gibt es den wunderbaren viersemestrigen berufsbegleitenden Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben (BKS). Ich bin nach wie vor sehr glücklich damit, diesen mit gestalten zu können – seit 18 Jahren vertrete ich im BKS die Fächer Schreibgruppenpädagogik und Schreibgruppendynamik. Am Mittwoch, den 29. Mai, stellt der Studiengang sich im Rahmen des allgemeinen ASH-Hochschultags vor:

  • Um 17 Uhr gibt es eine allgemeine Einführung.
  • Um 17.15 Uhr lädt Prof. Dr. Tanja Gabriele Baudson (BKS-Studierende) zu einem Vortrag zum Thema „Kreativität als Widerspruch – Wie ticken die Kreativen?“
  • Ab 18 Uhr beantwortet der Studiengangs-Co-Leiter Guido Rademacher Fragen von Interessierten.
  • Um 19.15 Uhr startet der Workshop Schreibwerkstatt – Resilient mit Kreativem Schreiben mit Verena Simon (BKS-Alumna).
Die Teilnahme-Links sind auf der Website zu finden (unter „zu den Veranstaltungen der Masterstudiengänge)


20. Mai 2024

Wort und Bild

Sommerakademie in Kaufungen

In diesem Jahr liegt der Schwerpunkt meiner Sommerakademie auf der Grenzüberschreitung zwischen Wort und Bild bzw. zwischen dem Schreiben und dem bildnerischen Gestalten.
Zum einen biete ich einen Abend zum Thema Collage an – der Kurs findet statt, es sind noch zwei Plätze frei.

Kleben und Schreiben – Collagen machen
Dass Collagen zum Schreiben animieren können, ist allgemein bekannt. Dass selbst gemachte Collagen auch zum Schreiben anregen können, schon weniger. Und dass es textliche Collagen gibt, und zwar seit Jahrhunderten, weiß kaum jemand. Wir wollen das Potenzial der Collage klebend und schreibend ausloten. Vorkenntnisse im künstlerischen oder literarischen Bereich sind nicht erforderlich. Eine Materialliste wird kurz vor dem Kurs verschickt.
Termin: 7. 6., 16–21 Uhr
Kosten: 20–30 € (nach Selbsteinschätzung, inkl. Getränke)
Infos/Anmeldung: per Mail bei Kirsten Alers

Zum anderen steht wieder eine Sommerwoche an, in der ebenfalls Wort und Bild miteinander in Kontakt kommen – der Kurs findet ebenfalls statt, und es sind auch hier noch zwei Plätze frei.

forschen, finden, formen
Eine Sommerwerkstatt in Wort und Bild (in Kaufungen)

Mit Kirsten Alers (Schreibpädagogin) und Barbara Sturm (Kunsttherapeutin)
Die Umgebung, Kultur und Natur, persönliche Themen – Resonanzen im Inneren werden verarbeitet, es entstehen Prosastücke, Lyrik und experimentelle Texte genauso wie Bildnerisches mit Farben, Pinseln, Stiften, Schere und Kleber. Texte werden gestaltet, Gestaltetes wird vertextet. Wir forschen, finden und formen in Wort und Bild. Die Kursleiterinnen führen ein in Techniken des Kreativen Schreibens und künstlerischen Gestaltens, leiten an zu verknüpfendem Arbeiten und begleiten die individuellen Prozesse. Die Gruppe bildet den Inspirations- und Resonanzraum. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.
Termin: 15. bis 20. 6. 2024 (Samstag, 9.30 Uhr, bis Donnerstag, 17.00 Uhr)
Ort: Wortwechsel Kaufungen, Raiffeisenstraße 15 (Tram-Haltestelle Niederkaufungen-Bahnhof)
Kosten: 500 € (Kursgebühr) + 130 Euro (Mittags- und Nachmittagsverpflegung, Getränke, Raum- und Materialkosten)
Anreise und Buchung der Unterkunft individuell
Info/Anmeldung: per Mail bei Kirsten Alers


13. Mai 2024

Mit allen Sinnen

Draußen schreiben im Mai

Es ist schon lange her, dass hier mal ein literarischer Text von mir erschien. Heute lasse ich dich teilhaben an dem, was mich zwar nicht bis in meine Träume, aber bis in meine Texte verfolgt: der wuchernde Giersch in meinem Garten. So viel Salat kann man gar nicht essen … Den folgenden Text habe ich in der Schreibwerkstatt am 2. Mai geschrieben.

Im Mai, vor allem Giersch
Olivgrünbrauner Frostfraß an den Hortensien. Die weißen Blütenblätter der Heckenrose auf der moosigen Wiese neben dem Farn. Löwenzahn, Giersch. Der Hahn, die Spatzen, die Tauben. Eine Amsel. Was sie wohl sagen? Einige meiner Toten schweigen seit Langem. Giersch, Brennnesseln, Giersch. Giersch unter den Rosen mit den seltsam falschen Rosentrieben, Giersch neben der Zitronenmelisse, zwischen den Büschen am Zaun entlang, Giersch unter dem Duftbusch, Giersch neben der Ranunkel. Giersch auch neben den vertrockneten Halmen aus dem letzten Jahr. Und Brennnesseln. Margret schaut einer Krähe nach. Eine erste rote Knospe an der Rose. Das Blau-schwarz der Johannisbeeren hinter meiner Stirn. Der Giersch ruft nach mir. Oder lacht er mich aus? Oder bittet er mich, ihn als Kraut zu sehen, nicht als Unkraut. Charlotte schreibt am blauen Tisch, Christiane am Trampolin. Ob sie über Giersch schreiben? Oder über Brennnesseln oder Löwen¬zahn? Der Löwenzahn muss stehen bleiben bis Dienstag, Yuri braucht Pusteblumen. Und die Schaukel. Und die Sandkiste. Dieses Jahr wird es keine Birnen geben, hat Jan Bade gesagt, hat Antonia gesagt. Antonia sitzt im Halbschatten auf dem Schweinetrog. Vielleicht schreibst sie über Verluste. Über einen Sommer ohne Kirschen, einen Herbst ohne Birnen. Thekla steht mit ihrem sandfarbenen Heft im Hof, zögern, Dorothee sitzt wie letztes Jahr im Strandkorb. Giersch, denke ich, Giersch klingt nach Gier. Kleines lila Geblühe beim Schilf. Ich könnte morgen säen. Wenn es geregnet haben sollte. Das Blühen säen. Eingerissene Stuhllehnen, noch nicht fertig angeschlossene Solarpaneele, Löwenzahn, Brennnesseln, Giersch, Giersch, Giersch – ich sehe, was zu tun ist. Wir wollen mal bei der Wahrheit bleiben, hat Dorothee gesagt. Schonungslos nicht weghören, das Schweigen hören. Insgeheim rufe ich Giersch fressende Schnecken herbei. Insgeheim hoffe ich auf ein gnädiges Ohne, auf sanfte, freundliche Abwesenheiten. Birnen brauche ich nicht unbedingt, denke ich und schäme mich. Werde Blühen auch rund um den Totholzhaufen säen. Und mit dem Giersch einen Kompromiss aushandeln.


6. Mai 2024

Warmer Lobregen

Textpotenziale erkennen

Ein zunächst einmal irritierendes Verfahren kann wunderbare Effekte erzielen: Lass einen warmen Lobregen auf einen deiner Texte niedergehen.
Schau dir die Gesamtstruktur und anschließend die Facetten des Textes an, schau z. B. auf der sprachlichen Ebene die Wortwahl oder den Rhythmus an, z. B. auf der inhaltlichen Ebene das Wagnis, das der Text möglicherweise eingeht. Widme dich dem, was im Text gelungen ist, welche Potenziale sich zeigen. Lass alle Anmerkungen, aus denen sich Überarbeitungsaufgaben ergeben könnten, außer Acht. Jetzt ist einmal nur Lob erlaubt!
Sollte es dir schwer fallen, das Verfahren auf einen eigenen Text anzuwenden, versuch dich zunächst an einem, der nicht von dir ist – ob es einer von deiner Lieblingsschriftstellerin ist oder einer von einem Mitglied aus deiner Schreibgruppe, spielt (fast) keine Rolle.
Aus didaktischer Sicht geht es bei diesem Verfahren nicht darum, Schwachstellen eines Textes zu leugnen, sondern über die Lenkung des Blickes auf die Potenziale zu registrieren, wo eben die Stellen sein könnten, denen noch einmal Aufmerksamkeit gewidmet werden könnte. Hintergrund ist also die pädagogische Haltung der Ressourcenorientierung.


29. April 2024

Was kann ich wissen?

Als wer kann ich was wissen?

Am vergangenen Samstag war ich in Mülheim, um mich mit denen zu treffen, die mit mir Abitur gemacht hatten: vor unglaublichen 45 Jahren! Berührt haben mich insbesondere die Reflexionen über die individuell gegangenen Wege, die auch gegangen werden konnten auf Grundlage des Privilegs, als Mädchen 1979 Abitur gemacht haben zu dürfen (es waren damals 12% der Mädchen, die Abitur gemacht haben).
Alle fünf Jahre treffen wir uns, 90 waren wir am Ende der Schulzeit, davon 85 weiblich. Immer bin ich gern zu diesen Treffen gegangen. Und so wie immer bin ich auch jetzt wieder neugierig und offen auf ehemalige Mitschüler:innen zugegangen, mit denen ich Jahrzehnte nicht gesprochen hatte. Da saßen wir gegen 21 Uhr und rekapitulierten u. a. die Sitzordnung der damaligen 10 b. Erstaunlich, welche Bilder von 1976/77 überlebt haben! Und dann ganz plötzlich: eine Debatte über Frauenquote und Gendern, die vollkommen aus dem Ruder lief. Wiedergeben will ich sie nicht, zumal ich mittlerweile weiß, dass diejenige, die sie anzettelte, stadtbekannte Aktivistin der Blauen ist. Aber ich nehme meine Fassungslosigkeit zum Anlass, einen Gedankenanstoß zu geben:
Immanuel Kants, der aufgrund seines 300. Geburtstages medial zurzeit recht präsent ist (April 1724 bis Februar 1804), fragt u. a. in seiner Kritik der reinen Vernunft: „Was kann ich wissen?“ (1781, Werke, Bd. 2, Darmstadt: WBG 1966). Ich frage weiter: Kann ich etwas von Sex und Gender abgesehen wissen? Und ich antworte Nein. Ich frage: Kann ich als weiße, akademisch tätige, mitteleuropäische Frau etwas genauso wissen wie ein schwarzer, Tee anbauender Mann aus Uganda? Die Antwort lautet ebenfalls Nein. Ich frage weiter: Hat das denkende, forschende, wissenschaftlich arbeitende Subjekt ein Geschlecht? Die Antwort lautet logischerweise Ja. Für mich als Lehrende und wissenschaftlich Agierende geht kein Weg an der Reflexion meines von so vielen Einflussfaktoren und eben auch, vorrangig möglicherweise gar, von Sex und Gender geprägten Blick auf die Welt vorbei. Und so geht auch kein Weg am diversitätssensiblen, hier speziell gendersensiblen Gebrauch der Sprache vorbei.


22. April 2024

Premiere!

Eine Woche mit zwei Hospitantinnen

Jetzt lehre ich schon 17 Jahre an der Alice Salomon Hochschule im Studiengang Biografisches und Kreatives Schreiben – und hatte noch nie Studierende bei mir zu Gast zur Hospitation. Bis jetzt. Letzte Woche hatte ich dann gleich zwei Hospitantinnen: Anna G. aus Wien und May M. aus Berlin, die beide im Jahrgang 17 studieren. Wir kannten uns schon aus der Präsenzlehre in Berlin, aber durften uns jetzt noch einmal in anderen Rollen begegnen.
Die beiden nahmen als schriftlich und mündlich aktive Gruppenmitglieder an den sieben Kursen und Workshops mit unterschiedlichen Formaten teil. In erster Linie diente Anna und May die Hospitation zur Erweiterung ihrer schreibpädagogischen und didaktisch-methodischen Expertise sowie zur Schärfung ihrer Vorstellungen bezüglich der eigenen Leitungsrolle. Mir aber diente die Hospitation auch! Ich fühlte mich auf angenehme Weise beobachtet, gespiegelt auch in unseren ausführlichen Reflexionsgesprächen.
Und so kann ich es nur allen Schreibgruppenleitungen empfehlen (vor allem denen, die schon lange lehren): Hospitant:innen sind eine wirkliche Bereicherung.


15. April 2024

Bild und Wort …

… und der Zufall als Impulsgeber

Erster Schritt: Schneide wild Bilder aus Zeitschriften aus. 34 oder 59 oder … Mach aus den Bildern einen Stapel und leg diesen zur Seite.
Zweiter Schritt: Stich in ein Buch und assoziier Wörter zu dem Wort oder Begriff, auf dem dein Finger gelandet ist. Es sollten so viele sein, wie du Bilder ausgeschnitten hast, also 34, 59 oder …
Dritter Schritt: Schreib die Wörter auf kleine Zettel, sortier sie alphabetisch und bilde einen Stapel.
Vierter Schritt: Nimm deinen Bilderstapel und deinen Wörterstapel und bilde Paare aus Bild und Wort – ohne auszusuchen! Kleb das jeweilige Wort auf das jeweilige Bild.
Fünfter Schritt: Misch die beworteten Bilder und zieh eins, das dir als Impuls dienen möge. Heute Abend ziehst du ein anderes, morgen wieder ein anderes …


8. April 2024

Buchtitelcollage

Impuls vom dritten Regalbrett

Geh an dein Bücherregal, ans dritte Brett von oben. Schreib von links nach rechts alle Buchtitel ab (mindestens 17). Und dann mach aus diesen, am besten unter Verwendung aller, einen Text.
Solltest du gerade kein (drittes) Bücherregalbrett in der Nähe haben, weil du unterwegs bist, kommen hier die Titel von meinem: Fische schließen nie die Augen, Wir werden zusammen alt, Auflaufend Wasser, Schwarzer Tee mit drei Stück Zucker, Es wird Diamanten regnen vom Himmel, Der Sonntag an dem ich Weltmeister wurde, Der Doktor braucht ein Heim, Die Hüterin der Gewürze, Das zweite Paradies, Das Papierhaus, Was machen wir jetzt?, Bin ich schön?, Das blaue Kleid, Rede vom Glück, Strom, Im ersten Licht des Tages, Regenmonat, Taxi, Das ist kein Liebeslied, Sechszehn Wörter, Das Paradies meines Nachbarn …


1. April 2024

Was ist ein guter Schreibimpuls?

Das nächste Heft der Reihe 26+4 ist in Arbeit

Ein Schreibimpuls stößt an, bewegt. Was er anstößt, wohin sich die schreibenden Individuen bewegen, bleibt undefiniert, frei. Ein Impuls nutzt äußerst dosiert das Grundmaterial der Sprache (einzelne Buchstaben, Wörter, Sätze), ist überschaubar, deutlich und verständlich, ist zugleich spezifisch und offen, lässt Verbindungen zu und löst Assoziationen aus. Ein Impuls trägt ein Überraschungsmoment in sich und erzeugt staunende Irritation, beinhaltet aber keinen (heimlichen) Lehrplan. Zudem sollte der Impuls natürlich zum Thema der Schreibgruppe oder des Vorhabens, zur jeweiligen Einheit, zur Gruppe und zu der den Impuls gebenden Person passen. Ein paar Aspekte, was einen guten Schreibimpuls kennzeichnet, habe ich nun schon aufgeführt – noch muss ich, auch im Austausch mit Kolleg:innen, weiter darüber nachdenken. Bis Ende des Monats mein achtes Heft aus der Reihe 26+4 erscheint, das hoffentlich dann eine weitergehende Definition eines guten Schreibimpulses enthält. Heißen wird es voraussichtlich:
i wie Impuls, wie irritieren, wie inspiriert.
Wenn jemand mir schreiben will zur Frage dieses Posts – sehr gern!


25. März 2024

Eine Lobrede …

… auf einen eigenen Text

Sicherlich ist es sinnvoll, selbstkritisch zu sein, insbesondere auch den eigenen Texten gegenüber – nichts ist schlimmer, als Texte lesen zu müssen, von denen die Urheber:innen total überzeugt sind und bei deren Lektüre man sich fragen muss, ob die Verfasser:innen jemals ein qualitativ hochwertiges Buch gelesen haben. Aber … Genauso notwendig ist es, sich nicht klein und schlecht zu machen, sondern einen ressourcenorientierten Blick auf die eigenen Texte zu werfen: Wo sind die Potenziale, wo kann ich Stärken entdecken, welche Wörter, Sätze, Bilder, inhaltliche Ideen sind gelungen?
So also will ich dich dazu anregen, einmal eine Lobrede auf einen eigenen Text zu schreiben, mit eben jenem ressourcenorientierten und nicht mit einem defizitorientierten Blick. Du kannst beginnen mit: Mir gefällt … Oder mit: Ich sehe/höre/lese …
Ob du dich hinterher gestärkt fühlst und deine Lust am Schreiben dir zumindest erhalten hast, ist das Eine. Das Andere ist: Du wendest dich wertschätzend deinem Text zu, in den du ja Zeit und Arbeit investiert hast, außerdem wird sich dir dein Text über deine lobende Beschreibung noch einmal vertieft zeigen und in besonderer Weise aufblühen.
Du kannst auch eine Lobrede auf einen Text einer Schreibfreundin, eines Schreibfreundes schreiben und ihn ihr bzw. ihm schenken.


18. März 2024

Gestern waren wir noch Kinder

Über Feminismus, Gendersternchen und schlechte Familienfeiern

Dieser Essay von Megan M. ist ein Gastbeitrag, Megan war Teilnehmerin am Seminar „Schreiben lernt man durch Schreiben“ im Wintersemester 2023/24 an der Universität Kassel. Eine Studien- bzw. Prüfungsleistungsvariante ist, einen Beitrag für meinen Blog zu verfassen. Diesen Essay veröffentliche ich sehr gern – er spricht mir aus dem feministischen Herzen! Danke, Megan!

Es ist der 18. Dezember 2023 und ich sitze in meinem Kinderzimmer. Ich lese auf meinem Smartphone, dass der Koalitionsvertrag in Hessen unterschrieben wurde. Ich weiß, was das bedeutet. Dass das Gendersternchen aus allen öffentlichen Instituten wie Unis, Schulen und dem Rundfunk verbannt wird. Dass das Gendersternchen aus meiner Uni verbannt wird? Ich bin wütend und ich habe direkt das Bedürfnis mit jemandem darüber zu reden. Aber ich kann nicht wütend sein und ich kann nicht darüber reden, weil ich zuhause bei meinen Eltern bin, in einem kleinen Dorf in Niedersachsen. Ich kann nicht wütend sein, weil das ja übertrieben wäre, weil das Hysterie wäre und weil es doch so viel Schlimmeres auf der Welt gebe als den Verzicht auf ein Gendersternchen. Generell kann ich nicht wütend sein, weil ich eine Frau bin. Es ist ein fast perfektes Timing, denn Weihnachten steht vor der Tür und die Entscheidung der Regierung bietet den perfekten Stoff für den jährlichen Familienstreit. Die Diskussion über Vegetarier*innen ist schon lange out. Sie wurde jedoch nie zueende diskutiert, sondern sie schwebt jedes Jahr wie kondensierte milchbleiche Diesigkeiten in Onkel Herberts Wohnzimmer umher. Geister der Vergangenheit. Die Jüngeren haben gelernt, ihre schiefen Blicke durch Worte zu ersetzen, bis die Älteren ihre Worte durch schiefe Blicke ersetzen. Weil es keinen Zweck habe. Aber ist das nachhaltig? Oder sind schiefe Blicke nicht sogar bitterer als Worte? Ich weiß jedenfalls – beides tut weh. Jedoch auf eine unterschiedliche Weise.
Als mein Onkel mich schließlich fragt, ob ich abgenommen habe, will ich die Familienfeier verlassen. Als mein Onkel mich fragt, warum ich denn immer noch keinen Freund hätte, weiß ich nicht, was ich antworten soll. Weil ich selbst genau weiß, warum. Weil ich keinen Freund will. Was ich ihm dann sage. Er denkt, es sei Sarkasmus oder so etwas. So etwas, was Frauen sagen, wenn sie hohe Ansprüche haben oder kompliziert sind. Ich weiß, dass ich beides nicht bin. Ich möchte, dass mich jemand so etwas fragt wie, was ich heute gefrühstückt habe. Mein anderer Onkel fragt mich schließlich, womit ich die meiste Zeit meistens Lebens verbringe. Und ich denke nach und komme zu dem Schluss: mit Nachdenken. Als ich mit meinen Schwestern und Cousinen ein Spiel spiele und wir trinken und aufrichtig lachen, gucken die Älteren zu, als würden wir eine Straftat begehen.
Übers Gendern wird Gott sei Dank nicht geredet. Als ich zuhause bin, lese ich Kommentare auf Instagram zu dem Thema. Einer schreibt, dass alles einfach so bleiben soll wie immer. Wirklich? Wenn alles so geblieben wäre, wie es eben ist, dann würden Nazis immer noch Juden vergasen. Dann würde Versklavung immer noch legal sein. Und klar, man kann diese Dinge nicht miteinander vergleichen. Es ist Ende Dezember und ich schreibe eine Hausarbeit über Black Lives Matter. Ich entscheide mich, weiterhin zu gendern. Ich habe keine Angst vor einem Notenabzug.
Angst habe ich und hatte ich immer nur davor, nicht ich selbst zu sein. Angst habe ich davor, nicht authentisch zu sein. Ich bin eine Frau und ich entscheide mich, weiterhin zu gendern, und wenn ich deshalb einen Notenabzug bekommen, dann soll es wohl so sein. Den lächle ich getrost weg. Ich bin keine Heldin deshalb und es ist mir fast peinlich, darüber zu schreiben. Denn das ist nicht meine Persönlichkeit. Meine Persönlichkeit besteht nicht lediglich daraus, feministisch zu sein und allen Menschen davon zu erzählen, was ich als ungerecht empfinde. Ich wünsche mir sogar, ich müsste das nicht tun, und ich wünsche mir, dass Feminismus nicht als nerviges Persönlichkeitsmerkmal angesehen wird – sondern als Notwendigkeit –, und ich wünschte mir, ich könnte über etwas anderes schreiben. Über meine Katze zum Beispiel. Aber es ist eine Notwendigkeit, die aus so vielen Momenten entsteht. Momente, die tagtäglich erlebt werden und die negiert werden von Menschen, die sie eben niemals selbst erleben können und werden. Weil: Wenn es sich häuft, dann macht das was mit einem. Und auch wenn es sich nicht häuft, dann macht das was mit einem. Weil schwere Dinge einen verändern und weil man sie mit sich trägt. Und wenn dann Menschen sagen, man würde übertreiben, man sei primitiv, dann macht das noch mehr kaputt und dann wird man zum Geist. Geist seiner Vergangenheit.
Ich frage mich manchmal, wie ich wäre, wenn ich keine Frau wäre. Es geht manchmal um Veränderungen und ums große Ganze. Es ist ein Gendersternchen. Aber es geht ums Prinzip. Dieses Prinzip gilt auch für Black Lives Matter oder für die Letzte Generation. Diese Menschen riskieren ihr Leben und sie riskieren Jobs, um irgendetwas zu verändern. VERÄNDERUNG. In einer Kolumne, die ich für meine Hausarbeit lese, schreibt Magarete Stokowski, dass die Französische Revolution ja auch nochmal vorn vorne und gesittet stattfinden müsste, wenn Demonstrationen ihre Berechtigung verlieren, sobald ein Sack Möhren geplündert wird. Mario Barth schreibt, er würde erst gendern, wenn Frauen das gleiche Gehalt bekämen. Ich bin verwirrt. Das ist in etwa so, als würde man sagen, man soll psychisch kranken Menschen erst helfen, wenn es ihnen wieder etwas besser geht. Aber einer der Gründe, warum sie überhaupt so krank sind, ist, dass ihnen nicht geholfen wurde.
Denn Sprache schafft Wirklichkeit. Ich habe mal eine Studie gelesen, in der festgestellt wurde, dass Mädchen sich eher Berufe zutrauen, wenn bei der Frage, ob sie sich diesen Beruf zutrauen, gegendert wird. Das passiert unterbewusst. Gendern wäre nicht das Heilmittel gegen Ungerechtigkeit. Aber eben ein Teil davon. Ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Und dafür nehmen wir in Kauf, dass Onkel Herbert auf der nächsten Familienfeier sagt, wir seien empört über alles und hassen die Welt. Wir seien undankbar und uns selbst zu viel wert. Denn wir sind mehr. Und das wissen wir.


11. März 2024

Bildern auf der Spur.

Schreibworkshop zu Privilegien (via Zoom)

Niemand würde sich wohl selbst als rassistisch bezeichnen. Wenn wir uns bei einem rassistischen Gedanken, einer rassistischen Handlung ,erwischen‘, ist uns das sehr unangenehm. Als rassistisch bezeichnet zu werden, ist noch bedrängender. Die erfahrene Schreiblehrerin Kirsten Alers lädt dazu ein, sich schreibend der eigenen (rassistischen) inneren Bilder und Glaubenssätze bewusst zu werden – von denen niemand, egal welcher Herkunft, vollkommen frei ist. Der Weg zu diskriminierungskritischer Empathie soll über die Auseinandersetzung mit unseren Privilegien führen. Im geschützten Raum einer kleinen Gruppe können Denkstrukturen hinterfragt und diversitätsbewusste Blickwinkel entdeckt werden. Der Link (Zoom) wird kurz vor Kursbeginn per Mail verschickt.

Dienstag, 19. März, 18–21 Uhr
Anmeldung: vhs-region-kassel.de | Kursnummer: 241-05461 | Anmeldeschluss: 14. März


4. März 2024

Meer schreiben

Impuls aus der Reisenden Schreibwerkstatt

Seit neun Tagen bin ich auf Sylt. Die erste kreative Schreibwoche mit 12 Teilnehmenden liegt hinter mir. Am Samstag reiste die zweite Gruppe an. So viele großartige Impulse bietet diese Umgebung – einer möge dir ebenfalls Impuls sein: Schreib zum Bild, das du hier siehst.


26. Februar 2024

Spezielle Selbstzuschreibungen

Ein Prozess der besonderen Art

Ich stricke mich Erdhügel hinauf und wieder hinunter, und wenn ich unten bin, reppele ich alles wieder auf. Kirsten A.
Seufzend, knisternd, knirschend löse ich manche Probleme oder auch nicht! Waltraut M.
Querflötenfunkeln durch die Sonne lässt mich den Hexenschuss besser ertragen. Felicitas F.
Kann herzenswarm sein wie ein Flauschefell – oft kleiner als ein Erdhügel.
Ich möchte auf dem Erdhügel stehen und dieses Knistern endlich spüren. Mechthild M.
Meine Seele im Erdhügel, braun und knisternd, erstaunt mich immer wieder. Angelika L.
Manchmal trage ich die Borke nach außen und das Flauschefell nach innen, manchmal wird die Haut aber auch gewendet. Karla K.
Stricken und Querflötespielen bringen mein Gleichgewicht in jeder Dimension zum Funkeln. Anke M.
Warm wie Pferdefell und ein mit Pflanzensamen bedeckter Erdhügel. Helena L.


19. Februar 2024

Kettenreaktion

Ein kollektives Schreibprojekt

Zum zweiten Mal initiiert der Verein Nordhessischer Autorenpreis e.V. ein literarisches Schreibprojekt, das ohne die Konkurrenzsituation eines Wettbewerbs auskommt:
KETTENREAKTION. Es stellt das Befruchtende durch Texte anderer Personen, das Sich-in-Beziehung-Setzen zu anderen Texten und Schreibenden in den Mittelpunkt: Es wird eine textliche Kettenreaktion stattfinden, zu der prinzipiell eine unbegrenzte Anzahl Schreibender beitragen kann. So entsteht ein intertextuell gewebtes Gemeinschaftswerk, in dem die Stücke der Einzelnen dennoch sichtbar bleiben.
In 22 Wochen vom 22. April bis zum 22. September schreibt jede Woche eine andere Person einen Text, der sich auf einen Text bezieht, den davor jemand anderes verfasst hat. Am Mitwirken Interessierte müssen sich auf eine Schreibwoche festlegen und am Ende dieser Woche ihren Text an den Verein schicken, der ihn dann an die nächste Person zur Fortsetzung der Kettenreaktion weiterleitet.

Eine ausführliche Ausschreibung mit den Bedingungen und Kontaktdaten findet sich HIER.


12. Februar 2024

forschen, finden, formen

Eine Sommerwerkstatt in Wort und Bild (in Kaufungen)

Mit meiner Kollegin Barbara Sturm (Kunsttherapeutin aus Kassel) biete ich im Sommer zum zweiten Mal die kreative Sommerwoche mit Schreiben und bildnerischem Gestalten an. Es sind noch Plätze frei. Und ich sage euch: Ich freue mich jetzt schon auf das kunstgrenzenüberschreitende Tun!
Die Umgebung, Kultur und Natur, persönliche Themen – Resonanzen im Inneren werden verarbeitet, es entstehen Prosastücke, Lyrik und experimentelle Texte genauso wie Bildnerisches mit Farben, Pinseln, Stiften, Schere und Kleber. Texte werden gestaltet, Gestaltetes wird vertextet. Wir forschen, finden und formen in Wort und Bild. Die Kursleiterinnen führen ein in Techniken des Kreativen Schreibens und künstlerischen Gestaltens, leiten an zu verknüpfendem Arbeiten und begleiten die individuellen Prozesse. Die Gruppe bildet den Inspirations- und Resonanzraum. Vorkenntnisse sind nicht erforderlich.

Termin: 15. bis 20. Juni 2024 (Samstag, 9.30 Uhr, bis Donnerstag, 17.00 Uhr)
Ort: Wortwechsel Kaufungen, Raiffeisenstraße 15 (Tram-Haltestelle Niederkaufungen-Bahnhof)
Kosten: 500 € (Kursgebühr inkl. 19% MwSt.) + 130 Euro (Raum- und Materialkosten, Mittags- und Nachmittagsverpflegung, Getränke); zwei kostenreduzierte Plätze stehen zur Verfügung
Anreise und Buchung der Unterkunft individuell
Info + Anmeldung: kirsten.alers@wortwechsel-kaufungen.de | Anmeldeschluss: 16. 5.


5. Februar 2024

Schreiben lernt man durch Schreiben

Fragen an den eigenen Text

Seit acht Jahren gestalte ich einmal im Jahr ein Blockseminar an der Uni Kassel: Schreiben lernt man durch Schreiben. Angesiedelt ist es im fächerübergreifenden Bereich der Schlüsselkompetenzen. Die Studierenden lernen Techniken des Kreativen Schreibens kennen und wenden sie auf ein Schreibvorhaben an, das sie sowieso bearbeiten müssen oder wollen, ein hochschulisches oder ein privates.
Einige der Studierenden müssen auch zusätzlich zur Anwesenheit weitere Studienleistungen (für den Erwerb weiterer Credits) absolvieren. Ich biete u. a. an, dass sie sich – mit Hilfe von mir zur Verfügung gestellten Literatur – eine Schreibübung ausdenken, die sie dann mit der Seminargruppe durchführen und reflektieren.
In diesem Semester hat eine Studentin sich eine Übung ausgedacht, die mich sehr begeistert hat. Inspiriert vom Roman in Fragen von Padgett Powell schlug sie der Gruppe zwei Frageverfahren vor, die auf einen mitgebrachten ca. 20-zeiligen Absatz aus dem aktuellen Schreibvorhaben angewendet werden sollten:

  • Fragen 1.0: Form alle Sätze in deinem Text in Fragen um.
  • Fragen 2.0: Stell Fragen an deinen Text, an einzelne Begriffe, an die Inhalte, an die Sprache etc.
Ich habe die Version 2.0 gewählt und sie auf mein aktuelles Schreibprojekt (ein Essay zum Thema Collage in Schreibgruppen) bezogen. Und mich selbst überrascht! So habe ich z. B. bemerkt, dass ich vier unterschiedliche Begriffe als Synonyme für eine Sache vewendet habe – was mir nicht sinnvoll zu sein scheint in einem 20-zeiligen Absatz.
Ich bin Leonie H. wirklich dankbar: für die Anregung und die Erweiterung meines Methoden-Portfolios.


29. Januar 2024

Juckreizwörter 1

Impuls und Nachahmungsempfehlung

Zu meinem 30-jährigen Lehrjubiläum letztes Jahr bekam ich von einer meiner Schreibgruppen ein wundervoll inspirierendes Geschenk: den Wortfächer mit Juckreizwörtern (von Andrea Maria Keller). Juckreizwörter sind Nomen, die aus drei Wörtern zusammengesetzt sind; das mittlere Wort gehört, nähme man das Juckreizwort auseinander, zu beiden anderen. Ein Beispiel: Das Juckreizwort Pflichtgefühlsduselei ist entstanden aus Pflichtgefühl und Gefühlsduselei.
Und ist das nicht wirklich ein Wort, das sofort einen Juckreiz erzeugt, bestenfalls natürlich einen, dem mit Schreiben entgegengewirkt werden kann. Oder mit dem Erfinden weiterer Juckreizwörter.


22. Januar 2024

Wehrt euch …

Demonstrationen am Wochenende

Hunderttausende gingen am vergangenen Wochenende auf die Straßen in Deutschland, um gegen Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Faschismus zu demonstrieren. Ich war leider nicht auf der Straße, sondern in einem Workshop auf der Burg Fürsteneck – aber mit dem Herzen und in unseren Texten waren wir dennoch dabei! Mitgesungen habe ich auch auf dem Weg über das schneebedeckte Feld (nach der Melodie von: Hejo, spann den Wagen an …):
Wehrt euch, leistet Widerstand
gegen den Faschismus hier im Land!
Auf die Barrikaden, auf die Barrikaden! (da capo)


15. Januar 2024

TABULA RASA

Anagrammatisches Quadrat

Heute fand das Semesterzwischentreffen einer meiner Frauenschreibwerkstätten statt. Jeweils zwischen den Semestern lädt eine der Teilnehmerinnen zu sich nach Hause ein, für zwei Stunden zur üblichen Kurszeit – heute also von 9 bis 11 Uhr. Wir trafen uns bei Nicole O., die ein feines Frühstück vorbereitet und uns im Vorfeld eine Schreibaufgabe gestellt hatte. Jede brachte also einen Text zu Gehör zum von Nicole gewählten Thema TABULA RASA. Nur bei einem Textvortrag, nämlich dem von Christel H., reichte das Hören nicht aus. Ihr Werk rief erstaunte und bewundernde Ausrufe hervor – ich darf ihn hier zeigen, danke, Christel.


8. Januar 2024

Statt guter Vorsätze

Lücken, Leerräume, Dehnungsfugen im Alltag lassen

Von Ilse Baumgarten und Jutta Beuke, Kolleginnen vom Tegernsee (www.schreibraeume.de), bekam ich folgenden Schreibimpuls geschenkt.

„Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen.“ Diesen Satz hat Astrid Lindgren Pippi Langstrumpf sagen lassen. Vielleicht kein schlechter Anhaltspunkt für das Jahr 2024. Ein bisschen weniger von diesem und jenem – und schon entstehen Lücken, Leerräume, Dehnungsfugen im Alltag … Und wer dann nicht einfach dasitzen und vor sich hinschauen will, kann ja auch in den Himmel schauen oder jemandem in die Augen oder nach innen oder auf ein weißes Blatt – und sollte ein Stift zur Hand sein … du weißt schon …


1. Januar 2024

Den Raum zwischen uns ausloten

Ein Schreibimpuls-Geschenk von Kolleginnen

Von Ilse Baumgarten und Jutta Beuke, Kolleginnen vom Tegernsee (www.schreibraeume.de), bekam ich folgenden Schreibimpuls geschenkt.

Bitte, schreib das Wort einander so auf ein Blatt Papier, dass du ein Wort voranstellen kannst:

einander

Nimmst du die Einladung zum Schreiben spielerisch? Dann schreib dir die unten aufgelisteten Vorsilben auf kleine Zettel, leg sie in eine Schachtel und wähl dir – Tag für Tag (solange du Lust verspürst) – einen Begriff intuitiv als Impuls aus. Oder du liest dir die Liste durch und weißt spontan, wozu du es für dich in diesem Moment langgeht.

an…, mit…, gegen…, für…, durch…, hinter…, über…, auf…, neben…, unter…, in…, bei…, vor…, um…, von…, zu…

Nun beginnt das Schreiben: Setz die von dir ausgewählte Vorsilbe und einander zusammen und sprich dir das Wort innerlich leise vor.
Vielleicht verstehst du das Wort als Subjekt oder doch eher als Adjektiv? Klingt es für dich positiv und mutmachend oder trägt es einen fahlen Beigeschmack? Mag also sein, dass du in dem Begriff eine Ambivalenz aufspürst. Welches Verb verbindet sich für dich widerstandslos mit dem Wort? (etwa: stehen, singen, tänzeln, trennen, hüpfen, lachen, stapeln …, welches auch immer dir in den Sinn kommt, du wirst es hören!).
Schreib einen ersten Satz, in dem das zusammengefügte Wort und das dazugehörige Verb vorkommen. Und dann beginn, davon zu erzählen, welche Qualität der Begegnung zwischen Menschen entsteht, die sich so positionieren.
Wirst du einen Fließtext schreiben? Oder einen Schneeball, mit der Mittellinie auf 7 Wörtern? Oder ein Tanka, in dem der Oberstollen bebildert und der Unterstollen reflektiert? Lass dich von der Schreibenergie tragen, wie sie sich in den Schreibwerkstätten so wunderbar ausbreiten kann (in der du dich jetzt quasi ja gedanklich befindest, da andere auch diesen Impuls aufgreifen).


25. Dezember 2023

Morgen-Texte

aus dem Schreibimpuls-Adventskalender

Den Bezieher:innen meines virtuellen Schreibimpuls-Adventskalenders habe ich angeboten, dass ich kurze Texte hier posten könnte. Eine hat sich getraut und zwei Texte geschickt, danke, liebe Helga C.

Impuls vom 14. 12.: Montag Ich, Dienstag Ich, Mittwoch Ich, Donnerstag …

Montag: Ich hetzte zu viel
Dienstag: Ich höre zu viel
Mittwoch: Ich organisiere nicht zu viel
Donnerstag: Ich kommuniziere zu wenig
Freitag: Ich spiele gerade richtig
Samstag: Ich denkrede gerade richtig
Sonntag: Ich backe nicht zu viel

Wieviel ich ist zu viel?
Das Du begleitet mein Ich auf seinen Wegen!
Mein Ich ist vielfältig!

Impuls vom 18. 12.: Foto von einem Straßenschild

Freiheit

Freiheit ist ein großes Wort,
mit jedem Kontext, in den es gestellt wird, scheint es zu wachsen.
Demnach gibt es viele Freiheiten,
die meine Gedanken in alle Richtungen ziehen.

Frei-heit(er) ist mehr als die Abwesenheit von Not und Begrenzung.
Frei sein bedeutet, Entwicklungsmöglichkeiten zu haben,
eine freie Fläche, die ich gestalten kann
im Handeln und Denken.

Heiterkeit ist die Begleiterin der Freiheit,
sie folgt ihr in die angstfreien Räume.


18. Dezember 2023

Erste Sätze

Welche sind überzeugend?

Der schönste erste Satz< war ein im Jahr 2007 veranstalteter Wettbewerb der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Gesucht wurde der schönste erste Satz in der deutschsprachigen Literatur. Die Gewinner des Wettbewerbs wurden am 6. November 2007 in der Alten Oper in Frankfurt am Main gekürt. Den Hauptpreis gewann der Anfang des Romans Der Butt von Günter Grass: „Ilsebill salzte nach.“ [...]
Mayrhofers Begründung beginnt folgendermaßen: „Ein Satz mit nur drei Wörtern? Auf deutsch? Und spannungsverheißend? Keine leichte Aufgabe. Aber Günter Grass hat sie in meinen Augen bewältigt und mir persönlich mit dem Butt nicht nur eines meiner Lieblingsbücher, sondern auch einen genialen ersten Satz beschert. Ilsebill… komischer Name. Eine echte Ilsebill ist mir in meinem bisherigen Leben noch nie über den Weg gelaufen, aber da gibt es doch dieses Märchen vom Fischer und seiner Frau, eben jener Ilsebill. ‚Myne Fru, de Ilsebill, will nich so, as ik wol will.‘“ (Lukas Mayrhofer)
Den zweiten Platz belegte Franz Kafkas Einstieg in die Erzählung Die Verwandlung: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“
Der dritte Preis ging an die Erzählung Der Leseteufel aus So zärtlich war Suleyken von Siegfried Lenz: „Hamilkar Schaß, mein Großvater, ein Herrchen von, sagen wir mal, einundsiebzig Jahren, hatte sich gerade das Lesen beigebracht, als die Sache losging.“
(Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_sch%C3%B6nste_erste_Satz)

Mich haben in diesem Jahr folgende erste Sätze überzeugt und mich so in die entsprechenden Romane hineingezogen:

  • „Erst war es nur ein Wort.“ (Nava Ebrahimi: Sechszehn Wörter)
  • „Nullte Stunde, Montagmorgen, Planetarium.“ (Grit Lemke: Kinder von Hoy)
  • „Beispielsweise habe ich ,es‘ dir nie offiziell gesagt.“ (Kim de l’Horizon: Blutbuch)
  • „Genau hier beginnt meine Geschichte: In diesem Zimmer, das kein Zimmer ist, aber ein Zuhause.“ (Chantale-Fleur Sandjon: Die Sonne, so strahlend und schwarz – Jugendbuch)
  • „Ob dünn oder dick – auf jeden Fall schick.“ (Daniela Kulot: Zusammen! – Bilderbuch)


11. Dezember 2023

Der Anti-Wunschzettel

Was ich auf gar keinen Fall geschenkt haben möchte

Die Überschrift sagt es schon: Schreib einen Anti-Wunschzettel mit Sachen, die du auf gar keinen Fall geschenkt haben möchtest. Neben Dinglichem kommt auch Abstaktes infrage.
Mein Anti-Wunschzettel beginnt mit Dinglichem:

  • Weihnachtsdeko (außer selbstgebastelt von den Enkelkindern)
  • Brettspiele
  • Bücher mit weisen Sprüchen, Krimis, Reiseführer
  • elektronische Weihnachtskarten
  • Gutscheine von Ladenketten

P.S. Wer gerne Bücher verschenken mag zu Weihnachten: Der Dorfbuchladen Kaufungen ist mit einem ausgesuchten Angebot vom 15. bis 17. Dezember auf dem Kaufunger Weihnachtsmarkt rund ums Stift in Oberkaufungen zu finden – im Mitmachhaus links vom Regionalmuseum!


4. Dezember 2023

t wie Tagebuch und h wie Handschreiben

Neu-Erscheinungen in der edition kreatives schreiben

Lange habe ich an diesen beiden Heften meiner Reihe 26+4 geschrieben – oder besser gesagt: gedacht. So umfangreich und komplex hatte ich die Themen, als ich sie auswählte, nicht eingeschätzt. Immer wieder entdeckte ich neue Aspekte – insbesondere die Literatur zum Tagebuch ist quasi unüberschaubar. Nun aber sind sie erschienen – in Türkis und Himbeerpink. Bestellungen sind möglich bei mir (per Mail) oder im Buchhandel (der auch vor Verlagsbestellungen nicht scheut).

t wie Tagebuch, wie temporär, wie teilen
Das Tagebuch gibt es nicht. Die Gattung Tagebuch hat sich über zweieinhalbtausend Jahre ausdifferenziert und zeichnet sich durch eine enorme Formenvielfalt aus. Formgebend wirkt vor allem die Funktion, die das Tagebuch(schreiben) für die Verfasser:innen hat.
Schwerpunkte des Heftes: Theorie und Praxis kooperativen Tagebuchschreibens sowie Anregungen zum Verfassen und Gestalten eines kreativen und/oder multimedialen Tagebuchs.
Extra: kommentierte Literaturliste zum Einlegen.
ISBN 978-3-935663-39-7 | 52 Seiten | 11 Euro

h wie Handschreiben, wie hab-selig, wie hantieren
Mit der Hand schreiben? Stehen nicht mit den elektronischen Medien zeitgemäßere und effektivere Möglichkeiten zum Erfassen und Gestalten von Schriftstücken zur Verfügung?
Aus körperlich-leiblichen, neurowissenschaftlichen, kulturellen und emotionalen Erwägungen haben Handschreiben, Handschrift und Handschriftlichkeit auch im 21. Jahrhundert eine hohe individuelle und soziale Bedeutung. Eine Einladung zum kreativ-lustvollen mit dem Experimentieren.
ISBN 978-3-935663-40-3 | 36 Seiten | 9 Euro


27. November 2023

24 Türchen ohne Schokolade

Schreiben im Advent

Demnächst beginnt die Adventszeit. Jeden Morgen ein Türchen im Adventskalender öffnen zu können – das erfreut auch Erwachsenenherzen. Und was könnte es Besseres geben als eine tägliche Wartezeitversüßung mit kreativen Schreibimpulsen?! Schreiben macht Spaß, führt in die Weite und in die Tiefe, aktiviert unsere Lebensenergien, drängt das Gefühl des Wartens in den Hintergrund. Hier setzt die Idee des Adventskalenders mit 24 virtuellen Türchen an. Jeden Morgen verschicke ich per Mail einen einfachen, manchmal gar minimalistischen Schreibimpuls. Das Schreiben gestalten die Teilnehmenden selbst – ob mit oder ohne Schokolade.
Es besteht die Möglichkeit, einmal in der Woche einen kurzen Text als Gastbeitrag auf dem Blog der Kursleiterin zu veröffentlichen. Vorkenntnisse im Schreiben sind nicht erforderlich. Teilnehmende benötigen ein internetfähiges Gerät (Computer, Tablet, Smartphone etc.) zum Empfangen der täglichen Mails.

Termine1. 12. bis 24. 12.; tägliche Mails vor 9 Uhr
Ortam eigenen Wohnort und im virtuellen Raum
Veranstalterin/Anmeldung vhs-region-kassel.de, Kursnummer: 232-05457
Kosten48 Euro

20. November 2023

Im Dialog mit einem Stein

Was sich dir anbietet zum Gespräch

Am Wochenende trafen sich in der Uni Kassel zehn Mitglieder des Segeberger Kreises (segeberger-kreis.de), einer Vereinigung von Schreiblehrer:innen und -didaktiker:innen, um die nächste Segeberger Jahrestagung vorzubereiten. Nach intensiven Diskussionen einigten wir uns auf ein Thema: Im April nächsten Jahres treffen wir uns und schreiben unter dem Motto „Prinzip Dialog“. Nachdem wir das Thema festgelegt hatten, entwickelten wir Ideen für Unterthemen, zu denen sich dann Kleingruppen Bilden werden. Auch erste konkrete Schreibimpulse wurden generiert. Mich haben viele unserer Ideen begeistert – eine aber, möglicherweise aufgrund ihrer Schlichtheit, besonders: Öffne die Augen und schau, was sich dir zum Dialog anbietet: ein Kiesel, eine Wolke, ein Käsebrot, ein Bügel … Dann gestalte den Dialog.


13. November 2023

Ausstellung TIDE

Tauba Auerbach in Kassel

Ob ich schon mal eine Ausstellung beworben habe? Ich weiß es nicht. Jetzt tue ich es – und empfehle einen Besuch im Museum Fridericianum in Kassel. Noch bis Ende Januar ist dort die Ausstellung TIDE mit Werken der US-amerikanischen Künstlerin Tauba Auerbach (geboren 1981) zu sehen. Jenseits dessen, dass die Art ihrer prozesshaften künstlerischen Forschung mich fasziniert, bietet die Ausstellung auch wirklich spannende Schreibanregungen – u. a. die 188 Studien aus der Serie Ligature Drawing (2016–2023), die das Foto zeigt.


6. November 2023

Neues, Unerwartetes, Erstaunliches

Ein Abend mit OuLiPo

Wenn wir schreiben, befolgen wir Regeln. Das tun wir routiniert, manche Regeln sind uns wahrscheinlich gar nicht (mehr) bewusst. Was aber passiert, wenn wir uns bewusst Regeln setzen, wenn z. B. der Vokal A oder Verben tabu sind, was, wenn jeder Satz aus genau vier Wörtern bestehen oder mit jeweils dem letzten Wort des Satzes davor beginnen muss? Welche Auswirkungen hat das auf unser Schreiben und auf die Texte, die entstehen?
Im Workshop folgen wir einigen der Verfahrensvereinbarungen der Gruppe OuLiPo (Abkürzung für: Ouvroir de Littérature Potentielle – Werkstatt für mögliche Literatur). Wir spielen, wir experimentieren, wir generieren neue, unerwartete, erstaunliche Texte. Quasi nebenbei erweitern wir unser schriftsprachliches Handwerkszeug. Im freiwilligen Zwangstun offenbart sich das Potenzielle, die Chance, das Kreative.
Der Abend ist ein Angebot des Berliner Schreibcafés und findet statt in Kooperation mit der Alice-Salomon-Hochschule Berlin.

  • Leitung: Kirsten Alers
    Termin: Dienstag, 7. 11., 18.00 bis 19.30 Uhr, via Zoom (Link bei Kirsten Alers erbitten)
    Kosten: 3 bis 10 Euro (Bankverbindung wird mit Link verschickt)


30. Oktober 2023

U-Bahn-Gedichte

Oulipotischer Zeitvertreib

Die meisten Menschen, die ich in öffentlichen Verkehrsmitteln beobachte, sind mit ihren Smartphones beschäftigt. Manche unterhalten sich, einige wenige lesen. Schreiben sehe ich eigentlich niemanden. Ich schreibe und zeichne während meiner Fahrten, ob in der Straßenbahn, im Bus oder im Zug. Vielleicht hast auch du Lust, einmal schreibend eine solche Fahrt zu verbringen – gerade, wenn du jeden Tag auf einer bestimmten Linie unterwegs bist, ist es möglicherweise spannend, diese schreibend zu begleiten. Das dachten sich auch schon die Oulipot:innen, als sie sich folgende Contrainte ausdachten: Auf einer Fahrt in einem öffentlichen Verkehrsmittel entsteht jeweils an den Haltestellen eine Gedichtzeile. Das Gedicht hat am Ende so viele Zeilen, wie es auf der Fahrt Haltestellen gegeben hat.
Quelle: Mathews, Harry / Brotchie, Alastair (Hg.) (2005): OULIPO COMPENDIUM. 2. revidierte und aktualisierte Auflage. London/Los Angeles: Atlas Press/Make Now Press

Wenn du mehr über die Gruppe und Ideen von OuLiPo sowie ihre Contraintes wissen willst, empfehle ich meine Veröffentlichung:

  • Kirsten Alers: o wie OuLiPo, wie optional, wie ohne
    72 Seiten Broschur | 12 Euro
    Wortwechsel Kaufungen | ISBN 978-3-935663-36-6
    (Bestellungen bei mir direkt oder im Buchhandel)


23. Oktober 2023

Schlangentext

Ausgang ungewiss

Nimm einen Satz. Einen, der dir gerade gesagt wurde. Einen, den du gestern geschrieben hast. Einen, der dir beim Aufschlagen des neben dir liegenden Buches als erster vor Augen tritt. Schreib ihn auf. Er bildet den ersten Satz deines Schlangentextes. Der zweite Satz beginnt mit dem letzten Wort des ersten. Der dritte Satz beginnt mit dem letzten Wort des zweiten. Usw. usf. Lass dich einfach ziehen, denk nicht zu viel über eine stringente Textstruktur, einen sinnvollen Inhalt nach, die ergeben sich – oder auch nicht. Liest du dir deinen Text laut vor, kannst du den Echoeffekt wahrnehmen, der sich durch das Verfahren ergibt.
Kennen gelernt habe ich das Verfahren durch ein Werk mit dem Titel „2. Schlangengedicht“ von Meret Oppenheim. In diesem Werk von 1974 beginnt allerdings jedes Wort mit dem letzten Buchstaben des vorherigen Wortes. Auch dieses Verfahren kann zu erstaunlichen ergebnissen führen – allerdings spielt der Klang hier keine Rolle.


16. Oktober 2023

t wie Tagebuch – Ergänzungen

Teil 2: Schwerpunktsetzungen

Demnächst erscheint das sechste Heft meiner Reihe 26+4: t wie Tagebuch. Am 9. Oktober 2023 habe ich – in Ergänzung zum Inhalt des Heftes – einen kurzen Abriss der allgemeinen Geschichte des Tagebuchschreibens gepostet. Wenn du dich vertiefter mit einzelnen Schwerpunkten befassen möchtest, kannst du das mit den folgenden Werken tun.

Tagebücher von Frauen
Verena von der Heyden-Rynsch unternimmt einen analytischen Streifzug durch Tagebücher europäischer Schriftstellerinnen und Künstlerinnen aus drei Jahrhunderten; sie diskutiert die Gründe für „das Erscheinen der Frau in einer literarischen Gattung, die, wie viele andere, jahrhundertelang männlicher Autorschaft vorbehalten war“ (Heyden-Rynsch 1997: 19), und zeigt auf, dass im 20. Jahrhundert das Tagebuch für Frauen nicht nur ein Ort der Selbstspiegelung war, sondern auch „Freiraum für schöpferische Prozesse“ (ebd.: 22).
Lejeune befasst sich mit Tagebüchern von Mädchen im 19. Jahrhundert und stellt fest, dass sie entgegen aller Vorurteile weder banal noch vorwiegend religiös oder hübscher Zeitvertreib sind, sondern selbstkritisch, feministisch und poetisch (Lejeune 2014: 161ff.).

Schreiben unter Lebensgefahr
Das Tagebuch der Anne Frank (1929–1945) ist das weltweit wahrscheinlich am meisten als Dokument und Kunstwerk rezipierte Tagebuch aus der NS-Zeit (in der vergleichsweise viele Menschen Tagebuch geschrieben haben); es liegt in zwei von ihr selbst bearbeiteten Fassungen und einer ihres Vaters vor (vgl. Frank 2002; Lejeune 2014: 195ff.).
Denise Rüttinger hat ihre Dissertation (2011) den Tagebüchern des jüdischen Schriftstellers Victor Klemperer (1881–1960) gewidmet, der 62 Jahre lang nahezu täglich Tagebuch führte; besonders bedeutsam für die deutsche Erinnerungskultur ist Klemperers ausführliche, genaue und persönliche Chronistik der nationalsozialistischen Herrschaft vom ersten bis zum letzten Tag dieser zwölf Jahre: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten (1995).
Renata Laqueur, die selbst im KZ Bergen-Belsen Tagebuch geschrieben hat, widmet ihre Dissertation (1992) der vergleichenden literaturwissenschaftlichen Analyse von 13 in KZs verfassten Tagebüchern.
Auch unter anderen diktatorischen Regimen wie z. B. in der UdSSR oder in China sind Tagebücher entstanden und später veröffentlicht worden (vgl. dazu Wuthenow 1990: 142ff.; Ai 2011).

Integration von Werk und Leben
Wuthenow stellt Samuel Pepys (1633–1703) vor. Dieser war Staatssekretär und Unterhausabgeordneter und wurde in den Jahren 1660 bis 1669 zum Chronisten der Restaurationszeit in England, in denen er Tagebücher von einer bis dato unbekannt breiten Materialfülle verfasste – mit allem, „was ihn anging“ (Wuthenow 1990: 120ff.; vgl. auch Pepys 2010).
Lejeune stellt Marc-Antoine Jullien (1775–1848) vor, der in der Armeeverwaltung und als Kulturjournalist tätig war und viele Jahre seines Lebens drei Tagebücher nebeneinander führte; und er beschreibt die Tagebuchpraxis des Pierre Hyacinthe Azaïs (1766–1845), der – meistens während des Gehens (Azaïs gilt als Erfinder des Schreibens im Freien) – 35 Jahre lang von 1810 bis 1844 auf losen Blättern 366 Tagebücher parallel führte, eins für jeden Tag (vgl. Lejeune 2014: 137ff.).
Franz Kafka hat als Tagebuchautor „die vermeintlich banale Tagesform in den kühnsten Versuchsanordnungen erkundet – in überbordenden Schreibexzessen, rhythmischen Unterbrechungen und minimalistischen Nulleinträgen, in changierenden Ich-Gefügen und hochkomplexen Fiktionalisierungen“ (Holm 2008: 78; vgl. auch Kafka 1994 und Schärf 2012).
Anaïs Nin (1903–1977) schrieb von 1914 bis 1974 Tagebuch (vgl. 1981 und 1991), bereits als Elfjährige auf einem hohen poetischen und intellektuellen Niveau; auch sie mischt die Genres und steht literaturhistorisch insbesondere für die Ausformulierung erotischer und sexueller Szenen (vgl. Salber 1992).
Diese Personen (wie auch Victor Klemperer) stehen beispielhaft für eine Leben, das sich im Schreiben reflektiert und vom Schreiben leiten lässt (Lejeune 2014).

Literatur
Ai, Weiwei (2011): Macht euch keine Illusionen über mich. Der verbotene Blog. Berlin: Galiani
Frank, Anne (2002): Tagebuch. Einzig autorisierte und ergänzte Fassung, 2. Auflage. Frankfurt/Main: S. Fischer
Heyden-Rynsch, Verena von der (1997): Belauschtes Leben. Frauentagebücher aus drei Jahrhunderten. Düsseldorf/Zürich: Artemis & Winkler Holm, Christiane (2008): Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen. In: Gold, Helmut / Holm, Christiane / Bös, Eva / Nowak, Tine (Hg.): absolut privat. Vom Tagebuch zum Weblog. Heidelberg: Edition Braus im Wachter Verlag: 10–50 Kafka, Franz (1994): Tagebücher in der Fassung der Handschrift. Frankfurt/Main: S. Fischer
Klemperer, Victor (1995): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945. Hrsg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer. Berlin: Aufbau
Laqueur, Renata (1992): Schreiben im KZ. Tagebücher 1940–1945. Bremen: Donat
Lejeune, Philippe (2014): „Liebes Tagebuch“. Zur Theorie und Praxis des Journals. München: belleville
Nin, Anaïs (1981): Das Kindertagebuch. Bd. 1 1914–1919; Bd. 2 1919–1920. München: Nymphenburger
Nin, Anaïs (1991): Henry, June und ich: intimes Tagebuch 1931–1932. München: Knaur
Pepys, Samuel (2010): Die Tagebücher 1660–1669. Berlin: Haffmans & Tolkemit
Rüttinger, Denise (2011): Schreiben ein Leben lang. Die Tagebücher des Victor Klemperer. Bielefeld: transcript
Salber, Linde (1992): Anaïs Nin. Rowohlt Monographie mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek: Rowohlt
Schärf, Christian (2012): Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch. Duden-Reihe zum Kreativen Schreiben, hrsg. von Hanns-Josef Ortheil. Mannheim/Zürich: Duden
Wuthenow, Ralph-Rainer (1990): Europäische Tagebücher: Eigenart, Formen, Entwicklung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft


9. Oktober 2023

t wie Tagebuch – Ergänzungen

Teil 1: Geschichte des Tagebuchschreibens

Demnächst erscheint das sechste Heft meiner Reihe 26+4: t wie Tagebuch. Ich hätte drei Hefte mit dem füllen können, was ich recherchiert und zusammengeschrieben hatte … Irgendwann dann habe ich das Kürzen aufgegeben – es war eh keine Lösung, hier mal ein Wort oder dort mal ein Zitat oder einen Verweis zu streichen – und mich entschieden, ganze Teile auszulagern und hier zu veröffentlichen. So musste ich mich nicht von ihnen verabschieden, konnte aber die Seitenzahl des Heftes im Rahmen halten – und war sehr zufrieden mit dieser Lösung (die ich einem Feedbackgespräch mit meiner Testleserin und Kollegin Susanne W. verdanke).
Jetzt also Teil 1: Geschichte des Tagebuchschreibens. Teil 2 (Schwerpunktsetzungen) folgt am 16. Oktober 2023.
Die im Text erwähnte Sekundärliteratur findest du am Ende. Die erwähnten veröffentlichten Tagebücher sind nicht aufgeführt; sie sind in der kommentierten Literaturliste aufgeführt, die mit Kauf des Heftes als PDF zur Verfügung gestellt wird.

Die Ursprünge
Bis zum Ende des 20. Jahrhundert hat sich die Forschung vor allem auf die Inhalte der Tagebücher als kulturhistorisch interessante Quellen in den Blick genommen. Ich habe mich auf die Möglichkeiten der Gattung für das Kreative Schreiben (in Gruppen) fokussiert und mich auf den abendländischen Kulturraum beschränkt.
Aus dem 6. Jahrhundert v. u. Z. stammen Fragmente von babylonischen Tontafelkalendern mit Eintragungen etwa zu Gestirnskonstellationen, Wetter und Getreidepreisen (vgl. Boerner 1969: 38). Die ältesten Tagebücher, die einer Person zuzuordnen sind, entstanden in der Antike, u. a. durch den römischen Kaiser (und Philosophen) Marc Aurel, der im 2. Jahrhundert n. u. Z. im Feldlager seine Gedanken und Einsichten festhielt und damit das betrieb, was die Antike „Seelenführung nennt: die Selbstbeeinflussung durch Schreiben und Lesen“ (Butzer 2008: 94), also kritische literale Selbst-Bildung – von der allerdings die Mehrheit der Menschen, vor allem aber der Frauen Jahrtausende ausgeschlossen war.
Im quasi nicht literalisierten abendländischen Mittelalter wurden neben Kirchen-, Haushalts- und Geschäftsbüchern Chroniken üblich, die z. B. Stadtschreiber fortschrieben. Auch einige wenige Tagebücher von Mönchen und Nonnen sind überliefert.

Die Neuzeit
Seit der Renaissance (16. Jahrhundert) spiegelt sich immer stärker die Individualität der Schreibenden; Tagebücher wurden – als Bet- und Beichtbücher sogar von der Kirche gefördert – Instrumente der Selbstbeobachtung, -kontrolle und -findung. Impulse bekam das Tagebuchschreiben auch durch das Aufkommen individuellen Reisens (vgl. Boerner 1969: 40).1
Mit der Entwicklung des bürgerlichen Subjektbegriffs im Zuge der Aufklärung bekam die Schwerpunktsetzung auf Introspektion und Selbstregulation eine zentrale Bedeutung. Möglich durch die sich langsam durchsetzende allgemeine Beschulung wurde das Tagebuchschreiben zunächst in Adel und Bürgertum insbesondere bei jungen Leuten in Frankreich ein verbreitetes, tägliches Ritual (vgl. Sperl 2010). Auch etablieren sich im 18. Jahrhundert in geisteswissenschaftlichen und Künstler:innen-Kreisen sogenannte Sudelbücher – heute werden sie meist Werkstatt- oder Arbeitsjournal genannt.
Um 1750 wurden erstmals – zunächst privat geführte – Tagebücher veröffentlicht. Ebenfalls schon seit dieser Zeit gibt es vor allem für Frauen bestimmte, oft abschließbare und vorgefertigte Tagebücher zu erwerben. Das Tagebuchschreiben (wie das Briefeschreiben) als private Tätigkeit wurde mehr und mehr Frauen zugeschrieben. Veröffentlicht werden bis heute deutlich mehr Tagebücher von Männern (vgl. Lejeune 2014). Beim Suchen unter dem Stichwort Tagebuch im Netz entsteht der Eindruck, dass die aktuell anvisierte Klientel ebenfalls vorwiegend weiblich: Vorgedruckte oder vorstrukturierte Tagebücher für Mädchen, für Conni-, Lotta- und Pferdefreundinnen, für Schwangerschaft und Krisenbewältigung bilden den Großteil des Angebots.
Mit der Romantik und der Hinwendung des Ichs zu sich selbst als eine Auswirkung der als bedrohlich empfundenen gesellschaftlichen Veränderung durch die Industrialisierung erhielt das schreibende Beleuchten der Stimmungen und Empfindungen des Subjekts noch einmal größere Bedeutung. Die Verortung im Bürgerlichen löste sich; gesellschaftliche Verwerfungen erhöhten die Schreibanlässe, immer mehr Menschen begriffen sich als historisch Gewordene und nutzten das Tagebuch auch als Ort der Entwicklung individuell neuer Lebensperspektiven (vgl. Streuwer/Graf 2015).
Das introspektive, analysierende Tagebuchschreiben als selbstwirksames Hilfsmittel in persönlichen Krisen und als therapeutisches Instrument wurde um 1900 bekannt.2
Die heute am weitesten verbreitete Form, die vor allem weibliche Jugendliche zu einem hohen Prozentsatz einmal ausprobieren, ist die des Tagebuchs als ein vertrauter, geheimer Gefährte, die die Katharsisfunktion des Schreibens in den Vordergrund stellt. Diese Form ist ein Kind der Romantik. Ebenfalls im 19. Jahrhundert fand die „Emanzipation der Tagebuchform als literarisches Medium“, die Entdeckung des „Tagebuchs als literarische Werkstatt“ und die Integration fiktiver Tagebücher in die Literatur statt (Boerner 1969: 51) – mit Auswirkung wiederum auf das private Tagebuch.3

Die Jetztzeit
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich eine enorme Bandbreite der Gattung Tagebuch entwickelt. Neu hinzugekommen ist z. B. das Brieftagebuch als Ersatz für echte Korrespondenz etwa in Kriegsgefangenschaft (vgl. dazu Sederberg 2015); auch das explizit politische Tagebuch ist in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden in Zeiten der Instabilität und des Umbruchs und insbesondere in Diktaturen (vgl. ebd.). In Deutschland wurden besonders viele Tagebücher in der NS-Diktaturzeit geschrieben und später veröffentlicht.4
Seit den 1960er Jahren werden auch zunehmend experimentelle, multimediale Tagebücher geführt, Collagen, Palimpseste usw.
Meist geht es den Schreibenden der Moderne und Postmoderne nach wie vor um Icherkenntnis und Weltdeutung, um Retrospektive und aktiv gestaltete Selbstentwürfe, die Formen aber sind mannigfaltig. Außerdem führen manche Menschen mehrere Tagebücher parallel, etwa eins, mit dem kreative Prozesse begleitet werden, ein zweites als Ventil für leidvolle Erfahrungen, ein drittes als Journal oder „anarchisches Notizbuch“ (Schärf 2012: 24) usw.
Der Schriftsteller Rainald Goetz hat ein solches anarchisches Tagebuch ohne Rangordnung der Inhalte vorgelegt: Vom 4. Februar 1998 bis zum 10. Januar 1999 gestaltete er sein täglich wachsendes Online-Tagebuch Abfall für alle (erschienen 2003) – und war damit einer der Pioniere der Weblog-Bewegung (vgl. dazu auch Porombka 2008).
Seit der Jahrtausendwende haben sich Blogs und Social Media-Netzwerke (wie Twitter, Instagram oder TikTok) zu millionenfach genutzten Plattformen für öffentliche und zu einem hohen Prozentsatz auf Kollektivität angelegte Tagebuch-Formate entwickelt (vgl. dazu z. B. Smith 2022). Und auf Youtube existieren auch Videotagebücher, Vlog genannt.
In der Corona-Zeit gab es geradezu einen Boom des Tagebuchschreibens, insbesondere haben seither strukturierte und die Gestaltung miteinbeziehende Formen wie das Bullet Journal Konjunktur.
Wenn du tiefer in die Historie des Tagebuchschreibens einsteigen möchtest, dann empfehle ich den Sammelband Gold et al. (2008), die Untersuchungen von Sperl (2010) und Dusini (2005), die Zusammenfassung in Surd-Büchele (2013), die Essaysammlung von Lejeune (2014) sowie die umfassenden deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Gattung Tagebuch von Boerner (1969) und Wuthenow (1990).

Endnoten
1 Auf die Sonderform des literarischen Reisetagebuchs werde ich hier nicht explizit eingehen, es gibt viele bekannte, die sich (noch einmal) zu lesen lohnen, wie z. B. Die Fahrt der Beagle von Charles Darwin (2008), das Irische Tagebuch von Heinrich Böll (1975) oder Maries Reise von Marie Pohl (2002).
2 Seit den 1970er Jahren werden mehr und mehr Tagebücher veröffentlicht, in denen sich die Verfasser:innen mit schweren Erkrankungen auseinandersetzen; zwei seien hier genannt: Auf Leben und Tod. Krebstagebuch von Audre Lorde (1994/1980) und Arbeit und Struktur von Wolfgang Herrndorf (2013, vorher als Blog).
3 Am besten untersucht im deutschsprachigen Raum sind wohl die literarischen Tagebücher des Max Frisch (1991); als weiteres Beispiel möchte ich Christa Wolfs Tagebuchprojekt nennen (2003, 2013). Als bedeutsame Beispiele für die Integration fiktiver Tagebücher in Romane gelten Das goldene Notizbuch von Doris Lessing (1982/1962) und Der Ekel von Jean-Paul Sartre (1982/1938).
4 Die berühmtesten sind wohl das Tagebuch der Anne Frank (2002) und Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten des Victor Klemperers (1995).

Literatur
Die erwähnten veröffentlichten Tagebücher sind hier nicht aufgeführt, sondern sind in der kommentierten Literaturliste enthalten.
Boerner, Peter (1969): Tagebuch. Stuttgart: Metzler
Butzer, Günter (2008): Sich selbst schreiben. Das Tagebuch als Weblog avant la lettre. In: Gold et al.: 94–96
Dusini, Arno (2005): Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München: Wilhelm Fink
Gold, Helmut / Holm, Christiane / Bös, Eva / Nowak, Tine (Hg.) (2008): absolut privat. Vom Tagebuch zum Weblog. Heidelberg: Edition Braus im Wachter Verlag
Lejeune, Philippe (2014): „Liebes Tagebuch“. Zur Theorie und Praxis des Journals. München: belleville
Porombka, Stephan (2008): Rainald Goetz: Abfall für alle (1998/99). In: Porombka, Stephan / Schütz, Erhard (Hg.): Klassiker des Kulturjournalismus. Berlin: B&S Siebenhaar: 224–227
Schärf, Christian (2012): Schreiben Tag für Tag. Journal und Tagebuch. Duden-Reihe zum Kreativen Schreiben, hrsg. von Hanns-Josef Ortheil. Mannheim/Zürich: Duden
Sederberg, Kathryn (2015): Als wäre es ein Brief an dich. Brieftagebücher 1943–1948. In: Streuwer/Graf: 143–162
Sperl, Irmela (2010): Geschriebene Identität – Lebenslinien in Tagebüchern. München: Herbert Utz
Streuwer, Janosch / Graf, Rüdiger (Hg.) (2015): Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein
Surd-Büchele, Stefanie (2013): Tagebuch: Schreiben und Denken. Eine empirisch basierte Verhältnisbestimmung. Berlin: Lehmanns
Wuthenow, Ralph-Rainer (1990): Europäische Tagebücher: Eigenart, Formen, Entwicklung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft


2. Oktober 2023

Von Hühnerdraht und 87 Frühlingen

Lesung der Schreibwerkstatt 3+

Seit vielen Jahren und mit sagenhafter Kontinuität findet die Schreibwerkstatt 3+ in der Werkstatt Kassel statt. Jeden zweiten Donnerstag tauchen ca. zehn Teilnehmer:innen in die Welt des Kreativen Schreibens ein. Nun öffnen die Autorinnen und der Autor ihre Kladden, Ordner und Lose¬blattsammlungen und lassen an ihren Prozessen teilhaben. Gelesen werden Geschichten, Verdichtetes, Experimentelles – alles im Rahmen der Schreibwerkstatt entstanden. Während des literarisch äußerst abwechslungsreichen Nachmittags gibt es auch Einblicke in die Methoden des Kreativen Schreibens der Schreibwerkstatt 3+, die leider auch schon für das nächste Semester voll ausgebucht ist.

Dienstag, 3. Oktober 2023, 16 Uhr
Werkstatt Kassel, Friedrich-Ebert-Straße 175
Eintritt frei
Es lesen: Kirsten Alers, Annette Dyes, Angelika Eberlein-Fleck, Mimi Krajczy, Melanie Lemke, Sigrid Marienfeld, Monika Schäfer und Carmen Weidemann.


25. September 2023

Wenn mir nichts einfällt

Was mache ich dann?

Immer wenn sich das Semester nähert, wenn ich weiß, dass ich demnächst wieder rund zehn Texte pro Woche schreiben muss, weil ich ja in meinen Schreibgruppen immer mitschreibe und die Texte auch vorlese, beschleicht mich eine Sorge: Werde ich etwas zu sagen haben, werde ich (Muster-)Texte verfertigen können, die sprachlich und inhaltlich zumindest das Niveau des letzten Jahres haben?
Es ist ja nicht so, dass ich nicht schriebe, wenn ich keine Kurse habe – jeden Morgen schreibe ich drei Morgenseiten, ich schreibe Essays, Briefe, Mails; Listen u.v.m. Aber trotzdem denke ich, es könnte doch sein, dass ich jetzt, also ab diesem Oktober ausgeschrieben bin … Und manchmal ist es ja tatsächlich so: Dann habe ich Lust zu schreiben, weil ich immer Lust haben auf das, was Schreiben ausmacht, aber mir fehlt der Inhalt. Ja, warum schreibe ich denn dann? Weil ich Lust habe zu schreiben, so wie ich Lust habe, Erdnussmus zu essen. Gut, sage ich mir, ich will also schreiben, dann schreibe ich also einfach – und kümmere mich nicht um Inhalte.
Aha, sagst du jetzt vielleicht, na dann … Und ich sage: Ja, genua, es geht. Und es ist sinnvoll. Und es kommt immer etwas dabei heraus: die Spuren auf dem Papier, die Kontemplation – und erstaunlicherweise etwas Inhaltliches. Das aber passiert nur, wenn ich nicht warte, bis mir etwas einfällt, sondern tatsächlich einfach schreibe. Ein Paradoxon, das mich nach so vielen Jahren der Schreibpraxis immer noch fasziniert. Es eignet sich, um dieses Magische zu erleben, meines Erachtens vor allem das nicht fokussierte Freewriting, das Losschreiben ohne Thema und Idee. Aber es eignen sich auch Impulstexte: Stich ohne hinzuschauen in die Zeitung von heute oder in ein Buch – und schreib los mit dem Begriff, den dein Finger gefunden hat. Oder lass dir von jemandem drei Wörter schenken (das geht auch auf der Straße von dir nicht bekannten Menschen).
Und so, das weiß ich doch eigentlich, wird es mir auch in meinen Kursen gehen, die im Oktober wieder starten: Ich werde schreiben, und schreibend wird sich mir etwas zeigen – oder auch nicht, das muss ich dann auch mal aushalten, wie meine Kursteilnehmer:innen ja schließlich auch.


18. September 2023

Wir Kinder von Hoy

Leseempfehlung aus der Sommerlektüre

Hoyerswerda – einst DDR-Musterstadt, in der morgens die Eltern in Schichtbussen davonrollten und die Kinder in einem Kollektiv aufwuchsen - erlangte durch die rassistischen Ausschreitungen 1991 traurige Berühmtheit. In ihrem dokumentarischen Roman verschränkt Grit Lemke die Stimmen der Kinder von Hoy zu einer mitreißenden Oral History und gibt einer Generation Gehör, für die Traum und Trauma dicht beieinanderlagen. Sie versammelt Gespräche mit Freunden und Familie und erzählt von ihrem eigenen Leben als Teil einer proletarischen Boheme um Gerhard Gundermann, die sich nachts im Kellerclub trifft und tagsüber malocht. Als nach der Wiedervereinigung Neonazis das erste Pogrom der Nachkriegszeit verüben, bleibt die Kulturszene tatenlos. Danach ist nichts mehr, wie es war …
Der Werbetext des Verlags bringt es auf den Punkt: Wir Kinder von Hoy ist wirklich mitreißend und öffnet Blicke ins Innere der DDR-Entwicklung, ins Innere eines Ortes und ins Innere der ehemaligen Kinder. Ich habe das Buch auf einer langen Zugfahrt mit verschiedenen Regionalzügen fast komplett verschlungen – obwohl es sich nicht locker runterliest, verwebt die Autorin doch durch das ganze Buch hindurch Interview-, historische und persönliche Erzählungssequnezen ineinander. Dass die DDR nicht nur Stasi und Mauer war, dass es sozialistische und feministische Hoffnung, Zukunftsenergie und Kinderglück gab – Grit Lemke hat mit ihrem Roman einen Beitrag zu einem komplexeren DDR-Bild geleistet.

Grit Lemke: Wir Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror. Suhrkamp Taschenbuch, 2. Auflage, Berlin 2023


11. September 2023

Das lohnt sich

Jeden Tag eine kreative Tat

„Jeden Tag eine kreative Tat!“ Das ist einer der Leitsprüche meiner Kollegin Christina D. Er hat einen Nerv in mir getroffen – einen, den ich schon seit Jahren täglich aktiviere. Ich weiß es: Es ist lohnend, jeden Tag kreativ zu sein. Natürlich fragst du dich jetzt, was ich mit Kreativsein meine – eine Definition folgt an dieser Stelle nicht. Sondern einfach nur eine Beschreibung meiner Gefühlslage: Ob ich ein Portrait meines Gegenübers in der Straßenbahn zeichne, ob ich ein Gedicht aus Wörter-Schnipseln aus der Zeitung klebe, ob ich zu einer Frage einer Kollegin wild brainstorme – ich fühle mich währenddessen und hinterher in ,irgendwie‘ glücklich machende Vibrationen versetzt. Ich tue da etwas, einfach nur deshalb – um in diese Vibrationen zu kommen; ansonsten verfolge ich mit diesem täglichen Tun, das in der Regel nur fünf oder zehn Minuten in Anspruch nimmt, erst einmal keinen weiteren Zweck. Jeden Tag tue ich so etwas Kleines. Und kann das nur empfehlen.


4. September 2023

Vielfalt ist kein Modetrend

Preis für Diversität im Kinder- und Jugendbuch

Erstmalig wird am 10. September im Rahmen eines Symposiums Der Vielfalter verliehen, ein einzigartiger Preis im Segment Kinder- und Jugendbuch.
„Die Geschichten, die wir uns erzählen, prägen unseren Blick auf die Welt. Und wir sind eine diverse Gesellschaft. Daher wollen wir mit dem Vielfalter-Symposium und dem Vielfalter-Literaturpreis Geschichten stärken, die Erfahrungswelten unterschiedlichster junger Leser:innen spiegeln und die ihnen authentische Einblicke in noch Unbekanntes ermöglichen. […] Mit dem Vielfalter-Literaturpreis werden Autor:innen und Illustrator:innen ausgezeichnet, die in ihren Werken vielfältigen Figuren eine Stimme geben und mit Tiefgang die Diversität unserer Gesellschaft zeigen“, so die Initiator:innen des Preises vom Literaturhaus Kassel.
Das Symposium beginnt am 9. September um 17 Uhr mit Shortlist-Lesungen. Weiter geht es am 10. September um 11 Uhr: Nach der Begrüßung gibt es einen Impulsvortrag, eine Podiumsdiskussion und schließlich um 15 Uhr die Preisverleihung. Das alles findet statt am neuen Standort des Literaturhauses im Palais Bellevue, Schöne Aussicht 2, 34117 Kassel. Eintritt: 5/3 Euro.
Mehr Informationen sind hier zu finden. Und zu den Nominierten hier.
Um Anmeldung wird gebeten unter: symposium@vielfalter-literaturpreis.de


28. August 2023

Renaissance des Patriarchats

Eine Analyse zum Thema Wiederentdeckung der Männlichkeit

Fassungslos eher als wütend registriere ich die Erscheinungen eines wieder salonfähig scheinenden Sexismus in westlichen Gesellschaften. Eine Renaissance des Patriarchats scheint sich anzubahnen. Die Kultivierung wehrhafter Männlichkeit, die Ausbreitung von Frauenhass und Sexismus, die Benutzung der Debatten über Gendern und Diversität – wie gerade darüber die rechtsextremen Gruppierungen einschließlich der AfD sich profilieren, macht mich noch fassungsloser. Wie können denn gebildete Menschen nicht verstehen, was da passiert, wie etwas und sie instrumentalisiert werden?
Die Journalistin und Rechtsextremismusforscherin Susanne Kaiser hat ein kluges analytisches Buch darüber geschrieben, wie und warum eine gefährliche Männlichkeit sich Raum nimmt.
Der Klappentext: „,Wir müssen unsere Männlichkeit wiederentdecken‘, appelliert Björn Höcke an den deutschen Mann. Mit dieser Forderung ist der AfD-Politiker nicht allein: Von Neuseeland bis Kanada, von Brasilien bis Polen vernetzen sich Rechtspopulisten, sogenannte ,Incels‘, aber auch christliche Abtreibungsgegner unter dem Banner der Männlichkeit, um Frauen auf einen nachrangigen Platz in einer angeblich natürlichen Hierarchie zurückzuverweisen. Susanne Kaiser bietet einen kompakten Überblick über die Geschichte und das Programm dieser Bewegung. Sie wertet Diskussionen in der ,Mannosphäre‘ aus, zeigt internationale Verbindungen auf und fragt, warum rechte Mobilisierung überall auf der Welt gerade über die Themen Gender Studies, LGBT-Rechte und Geschlechterrollen funktioniert.“

Susanne Kaiser: Politische Männlichkeit. Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/Main 2020

Ein halbstündiges Interview mit Susanne Kaiser im SWR1 vom 12. 4. 2021 ist hier zu hören.


21. August 2023

Verharmlosung und Verkennung

Wie Errungenschaften mit Füßen getreten werden

Nachdem der Präsident des spanischen Fußballverbands Luis Rubiales eine der Weltmeisterinnen – Jennifer Hermoso – vor laufenden Kameras auf den Mund geküsst hatte, empörten sich viele Menschen öffentlich, aber im nicht-öffentlichen Raum, in dem auch ich mich meistens bewege, sind ganz andere Töne zu hören: Das war doch spontan! Vielleicht hatten die ja mal was miteiander und jetzt rächt sie sich. Haben wir denn keine anderen Probleme?!
Der Akt wird verharmlost, der Frau wird die Schuld zugewiesen, die Auseinandersetzung wird abgewehrt. Ich bin sprachlos – und schreibe und schreibe und glaube es nicht, was möglich ist nach Millionen geschriebener Analysen, nach Jahrzehnten (Jahrhunderten, Jahrtausenden) des Kampfes. Was kann ich denn jetzt noch schreiben? Was erreicht wen? Mit was erreiche ich überhaupt irgendwen? Ich in meiner bürgerlichen Schreibszenenblase?
Ich begebe mich auf die Suche – und finde: die Gewaltpyramide. Möge sie zur Reflexion des eigenen Handelns anregen.

Mehr zum Thema findest du u. a. hier:
https://vawnet.org/material/pyramid-discrimination-and-violence
https://pcar.org/sites/default/files/resource-pdfs/racial_sexual_violence_pyramid.pdf


14. August 2023

In jemandes Namen

Tagebuchschreiben 2

Ein Tagebuch zu schreiben, ist etwas sehr Persönliches, meist total Privates und auch Geheimes. Genauso aber, wie es möglich ist, ein Tagebuch komplett zu erfinden, ist es auch möglich, ein solches im Namen einer realen dritten Person zu schreiben.
Eltern können ein Tagebuch im Namen ihres Babys schreiben. Meine Eltern haben das gemacht. Da ist zu lesen (in meines Vaters Handschrift): Die ersten Tage meines Lebens verbrachte ich im Kaiser-Wilhelm-Krankenhaus, bis ich dann mit Mutti am 20. August 1960 nach Hause zur Gabelsberger Str. 36 fuhr, wo Mutti und Vati zwei Zimmer bewohnen. […]. Oder später (in der Handschrift meiner Mutter): Als ich zwei Jahre alt war, stand mein Mund nur noch im Schlaf still. Ich erzählte Mama u. Papa u. all meinen Puppenkindern die tollsten Geschichten. Alles, was ich beobachtete, faßte ich sofort in Worte. Dabei kam kam oft ein köstliches Deutsch zustande, z. B.: „Wenn die Husche-husche-Eisenbahn vorbeigefahren hat, kann der Bus fahren!“ oder: „Dat Püppchen, dat da sitzt, kann die Kirsten mal haben.“
Neulich las ich in einer Werbebeilage einer Zeitung, dass Familie und Bekannte für einen Koma-Patienten kollektiv ein Tagebuch geschrieben haben, um ihm dabei zu helfen, nach dem Wiederaufwachen Lücken zu schließen.
Vielleicht kann es auch schön (und sinnvoll) sein, ein Tagebuch im Namen einer intellektuell beeinträchtigten Person zu schreiben, die nicht schreiben kann – möglicherweise auch auf Grundlage gesprochener Tageserzählungen dieser Person.


7. August 2023

Erfinde dich neu!

Tagebuchschreiben 1

Logbuch eines Faultiers
Montag. Ich hing. Ich hing am Baum. Da, wo immer. Ich hing. Bis elf. Oder zwölf. Stunden – was sind Stunden?! Ich hing. Und öffnete ein Auge. So gegen neun. Sah diesen Hektizierern zu. Hasen, Eichhörnchen, Affen. Meine Güte. Meine Güte. Ich schloss das Auge. Ich hing. Ich hörte den Eifrigen zu. Igeln, Schlangen, Spechten. Meine Güte. Ich setzte mich auf. Gegen elf. Oder zwölf. Ich fraß. Kaute. Schluckte. Ich hing. Ich verdaute. Bis drei. Am Südast. In der Sonne. Ich genoss die Sonne. Es war still. Die Hektizierer ruhten. Die Eifrigen ruhten auch. Ich räkelte mich. Bis gegen vier. Dann stieg ich höher. Füllte den Vorrat auf. Stieg wieder hinunter. Verließ den Baum. Sammelte Früchte. Bevor die Anderen wieder. Ich ächzte. Ich stöhnte. Ich schwitzte. Ich hechelte. Ich verfluchte die Sonne. Ich verfluchte die Anderen. Weil sie gesammelt hatten. Ich musste weit laufen. Bestimmt 200 Meter. Ich verfluchte mein Wesen. Um fünf war Schluss. Mein Baum. Er war noch da. Ich erklomm ihn. Ich erreichte den Nordast. Ich hängte mich daran. Ich hing. Ich war müde. Ich musste ruhen. Ich hing bis acht. Machte kein Auge auf. Sah nicht die Hektizierer. Verschloss die Ohren. Hörte nicht die Eifrigen. Ich fraß gegen acht. Wie immer. Jetzt ist es zehn. Ich bin so müde. Ich gehe hängen.

Diesen Text schrieb ich 2015 während einer Schreibwerkstatt. Der Impuls, zu dem ich den Text schrieb, heißt: Welches Tier entspricht gerade deiner Stimmung oder deiner gewünschten Verfassung? Schreib aus Sicht dieses Tieres einen Tagebucheintrag.
Inspiriert zu diesem Impuls, den ich schon oft in Schreibgruppen gegeben habe, haben mich die wunderbaren und sehr ansprechend gestalteten, bei Gerstenberg erschienenen Wombat-Tagebücher:

  • French, Jackie / Whatley, Bruce (2016): Tagebuch eines Wombats.
  • French, Jackie / Whatley, Bruce (2019): Tagebuch eines Babywombats.


31. Juli 2023

Grenzüberschreitungen

Teil 2: Higlights der Woche

Am Ende einer Kurswoche findet selbstverständlich eine Feedbackrunde statt; meine Kollegin und ich baten u. a. darum, Highlights zu benennen. Die folgende Sammlung zeigt eine große bandbreite und darin das Individuelle, das im Laufe der Woche einen immer größeren Raum einnahm, der individuelle Weg, der mit Frottage und Pigmenten gegangen werden konnte: „der Raum fürs Ringen“, „wir wurden verwöhnt“, „es ging sehr ans Eingemachte: gut so!“, „das Eintauchen und die Großzügigkeit“, „der Tiefencharakter“, „die Fülle“, „zur Form gefunden zu haben“, „mich mit dem Material verbunden zu haben“, „die große Aufmerksamkeit von allen für alle“.

Meine persönlichen Highlights waren die wundervolle Co-Leitungs-Erfahrung und das diverse Grenzen überschreitende Leporello, das sich zum Schluss herausgeschält hat.


24. Juli 2023

Grenzüberschreitungen

Einfach mal die Welt abreiben

Gestern hat die Kurswoche „Grenzüberschreitungen – Kreatives Schreiben und künstlerisches Gestalten“ begonnen, die ich dieses Jahr zum siebten Mal leite – mit einer neuen Kollegin, der Kunsttherapeutin Barbara Sturm im Leitungstandem.
Und schon seit Minute 1 sind wir freudvoll mittendrin im Tun. Im Zentrum des Gestaltens stehen Frottagen, mit denen wir uns dem Ort, an dem der Kurs stattfindet, annähern. Es ist ja mein Platz, an dem ich lebe – und durch mein eigenes Tun und die Frottagen der Teilnehmerinnen sehe auch ich diesen Platz mit neuen Augen. Abgerieben wurden zunächst mit Bleistift, später auch mit Wachskreide neben den naheliegenden Strukturen wie Sandssteinmauern und Fachwerkbalken auch Tennisschlägerbespannungen, Mülleimeraufdrucke, Fahrradreifenprofile, Rauputz, Skateboardoberflächen und Stuhlstoffbespannungen. Selbst das Betonpflaster bekommt einen gewissen Charme.
Weiterbearbeitet werden die Frottagen mit Graphitpulver und Farben. Außerdem collagierten wir Texte hinein – die natürlich auch entstehen in dieser Woche.
Wenn du magst, mach selbst einmal Frottagen, weiche Bleistifte sind gut geeignet, mit Verstärkung durch Wachskreiden kommen die erhabenen Strukturen besonders gut zum Vorschein. Als Papier eignet sich ganz einfaches 80 Gramm-Druckerpapier.


17. Juli 2023

Pseudotext

Imitation eines Schriftbildes

Ob dieser Post Schreibanregung genannt werden kann – ich weiß es nicht. Denn mit Schreiben verbinden wir ja doch etwas Lesbares. Ich nenne ihn jetzt trotzdem mal so. Und empfehle damit, dich an einem Pseudotext zu versuchen.
Ich tue es, weil es mir Spaß macht, ab und zu ein Schriftbild zu imitieren, zu schreiben, ohne Inhaltliches zu produzieren. Ich stelle mir die Schrift, das Schriftbild meiner Mutter, meines Vaters, meiner Schwester, meiner Freundin vor – und ahme sie nach. Oder ich stelle mir ein arabisches oder kambodschanisches Schriftbild vor – und versuche mich an einer Nachahmung, ohne etwas Konkretes abzumalen; nur das zu reproduzieren, was in meinem Kopf an Charakteristika vorhanden ist, kommt zu Papier. Eine dritte Variante ist, noch abstrakter zu werden und nur Linien unterschiedlicher Längen aufs Papier zu setzen.


10. Juli 2023

Simone Weil

… und eine Fahrt in der Berliner U-Bahn

Am Wochenende war ich in Berlin zum Unterrichten an der Alice-Salomon-Hochschule. Die Hochschule liegt in Hellersdorf – eine längere Fahrt mit S- und U-Bahn ist also erforderlich, um sie zu erreichen. Ich fahre gern mit der U-Bahn. Weil sie nicht so störanfällig ist wie die S-Bahn. Weil sie lange Bänke quer zur Fahrtrichtung hat. Weil sie nach Maschinenraum und einem lange vergangenen Früher riecht. Und weil an der Decke diese kleinen Fernseher befestigt sind, auf denen man Vermischtes zu sehen bekommt: Lokalnachrichten, Weltnachrichten, Lustiges, Erbauliches – wie Zitate.
Am Freitag also fuhr ich mit der U-Bahn nach Nordosten gen Hellersdorf und las ein Zitat von Simone Weil – das ich mir nicht aufschrieb (ärgerlich, Tendenz total ärgerlich). Ich suchte im Netz und fand Zitate, wirklich gute, nur nicht jenes …
Simone Weil (1909–1943) war Sozialrevolutionärin, Philosophin und Mystikerin. Als Jüdin musste sie emigrieren und starb bereits mit 34 Jahren in England an Tuberkulose.
Zwei Zitate habe ich aus dem Netz gefischt – sie könnten auch als Schreibanregung dienen.
Der erste berührt tatsächlich meine Lehre an der Hochschule, wo ich das Fach Schreibgruppenpädagogik und -dynamik vertrete und mich u. a. mit Widerspruch bzw. Widerstand in Schreibgruppen befasse.
„Der Widerspruch ist eine Probe auf die Notwendigkeit.“
Der zweite könnte eins meiner Lebenslosungen sein, ich halte ihn für wahr, weise und wichtig:
„Man muss das Mögliche vollbringen, um das Unmögliche zu berühren.“


3. Juli 2023

Ich blicke zurück auf:

30 Jahre Schreibgruppenleitung

Am Samstag habe ich gefeiert. Das Schreiben in Gruppen. ,Meine‘ Schreibgruppen. Mich auch irgendwie. Als ich 1993 meine erste Schreibgruppe leitete, wusste ich noch so gut wie nichts vom Kreativen Schreiben. Ich wusste noch nicht einmal, dass das, was ich da in meinem Kursen (zum journalistischen Schreiben) machte, Kreatives Schreiben hieß. Aber noch im gleichen Jahr lernte ich es kennen – und es ließ mich nicht mehr los. 1995 gründete ich meine erste Frauenschreibwerkstatt, weitere kamen hinzu, andere Schreibgruppen für andere Zielgruppen … Zum Fest am vergangenen Samstag habe ich alle eingeladen, die im ersten Halbjahr 2023 in meinen fünf fortlaufenden Schreibgruppen teilgenommen hatten.
Und eine meiner langjährigen Teilnehmer:innen, Marie-Luise E., sagte in ihrer Rede an mich: „[…] Danke für Schreiben als Selbstberuhigung, als Meditation und Selbstvergewisserung, als Selbstausdrucksmöglichkeit und als kreative Gestaltungsmöglichkeit, für Schreiben als Selbsterfahrung, als Weg, mich zu verstehen und mich mitzuteilen und neu zu erfinden. Danke für Schreiben als Selbstbehauptung, Sprachspiel, als Lust an Buchstaben, Wörtern und Sätzen.
Ich habe die Möglichkeit erfahren, mich zu mir hin und von mir weg zu schreiben, mich in mich rein und wieder raus zu schreiben. Ich bin mir selbst und anderen schreibend begegnet, habe schreibend zugehört und schreibend geantwortet. Und du warst immer dabei, Ideen gebend, Impulse setzend, inspirierend, höchst aufmerksam und immer mit diesem äußerst schnellen Kopf, dem kaum etwas entgeht. […]“
Zum Schluss meiner Rede sagte ich: „Dankbarkeit empfinde ich, dass es Kreatives Schreiben in Gruppen gibt, dass es diesen Platz gibt, dass es euch gibt. Danke sage ich vor allem euch: fürs Kommen und eure Mitbringsel, für Herausforderungen (die ich liebe) und Bestätigungen (die ich auch liebe), für Kritik und das Mitgehen in die gemeinsamen Prozesse, für Begegnungen, Vertrauen und Offenheit, für den zweiten oder auch immer wieder neuen Blick auf mich und euch selbst.“
So will ich wohl auf alle Fälle noch 15 Jahre weitermachen mit Schreibgruppenleiten … oder länger …


26. Juni 2023

Montagszitat

Etwas, das trifft

Manchmal ist es ein Wort, ein Satz oder ein Halbsatz, der den ganzen Tag bleibt, der über Wochen immer wieder auftaucht – weil er etwas trifft, ganz genau trifft, was schon da war, was Wunsch, was Elixier, was Wahrheit war bzw. ist. Du wirst ihn nicht wieder los – schreibst ihn dir vielleicht auf einen Zettel und heftest ihn an den Kühlschrank … Aber das ist nicht das Wichtigste – wichtig ist, dass du diesem Bleiben, diesem Getroffensein vertraust, dann kann er dir Fingerzeig sein. So ein Halbsatz traf mich an einem Mittwochabend im Mai. In meiner Kolleginnen-Austauschrunde; in unserem Gespräch ging es um das Platzschaffen für den ziellosen kreativen Ausdruck im beruflichen Alltag. Meine Kollegin Christina Denz (Danke an dieser Stelle) sagte ihn – und er traf und blieb:
Jeden Tag eine kreative Tat.


19. Juni 2023

Wenn mir nichts einfällt 2

Wirklich meistens froh machende Alternativen
(obwohl ich ja eigentlich etwas Anderes wollte)

Wenn mir nichts einfällt, mache ich eine Liste.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich trotzdem.
Wenn mir nichts einfällt, schaue ich den Spuren nach.
Wenn mir nichts einfällt, mache ich einen Pseudotext.
Wenn mir nichts einfällt, mache ich einen Schnipseltext.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich ein Haiku oder zwei.
Wenn mir nichts einfällt, gehe ich um den See.
Wenn mir nichts einfällt, gehe ich zu den Kirschen.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich lange aufgeschobene Mails.
Wenn mir nichts einfällt, erfinde ich Schreibaufgaben.
Wenn mir nichts einfällt, spüle ich.
Wenn mir nichts einfällt, zeichne ich, am liebsten ohne hinzusehen.
Wenn mir nichts einfällt, schaue ich fern.
Wenn mir nichts einfällt, rufe ich Mama an.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich eine Postkarte, manchmal gar einen Brief.
Wenn mir nichts einfällt, tippe ich meine Texte ab.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich automatisch.
Wenn mir nichts einfällt, schaue ich aus dem Küchenfenster.
Wenn mir nichts einfällt, notiere ich Grüntöne.
Wenn mir nichts einfällt, lese ich etwas über leergeschrieben.
Wenn mir nichts einfällt, lese ich etwas über Flow.
Wenn mir nichts einfällt, schreibe ich trotzdem.
Wenn mir nichts einfällt, mache ich eine Liste.


12. Juni 2023

„immer mit Schwung“

Zitate aus der Schreibwerkstatt

Ich kann gar nicht anders – ich schreibe immer herausragende Textstellen mit, wenn ich in den Schreibgruppen den Texten der Teilnehmenden lausche. Die hier wiedergegebenen (eine Auswahl aus den letzten vier Wochen) könnten auch als Schreibanregung dienen.

„Ausdruck reduziert Druck“ (Tina B.)
„Dieses Knäul entwickelt sich“ (Monserrat S.-B.)
„Sandkastenliebesleben“ (Ellen V.)
„enttäuschend erwachsen“ (Dagmar H.)
„Blauäugigkeit ist eine Zier“ (Klaus V.)
„das brave ruhige abgefütterte Kind […] immer mit Schwung“ (Ursula T.-B.)
„Meinen Hass kriegt ihr nicht!“


5. Juni 2023

Die Geschichte des Butterbrots

Grafische Geschichten nutzen

Schreib die Geschichte des Butterbrots! Nutze dafür die Geschichte von Nadine Redlich. Nadine Redlich (geboren 1984) ist Illustratorin und Cartoonistin. Im Kasseler Verlag Rotopol, der auf Grafisches Erzählen spezialisiert ist, sind ihre wunderbaren Sammlungen kleiner sechsteiliger Geschichten erschienen, die ganz ohne Wörter auskommen. Gleichzeitig regen sie dazu an, sie zu vertexten.

Quelle: Redlich, Nadine (2017): Ambient Comics. Sammelband mit einem Vorwort von Nicolas Mahler. Kassel: Rotopol


29. Mai 2023

Wenn mir nichts einfällt

Ich frage Kolleginnen

Manchmal ist es kein reines Vergnügen, die Versprechen, die ich mir selbst gegeben habe, wirklich konsequent einzulösen. Zum Beispiel habe ich mir versprochen, jeden Montag einen BlogPost zu veröffentlichen. Was ich seit neun Jahren tue. Vielleicht drei oder vier Wochen im Jahr setze ich aus, weil ich dann keinen Zugang zum Rechner habe. Aber an den anderen 48 oder 49 Montagen erscheint ein BlogPost. Manchmal erscheint er auch erst Dienstag oder Mittwoch – weil mir nichts eingefallen ist am Sonntag zwischen Kuchenessen und Tatortgucken oder weil so viel Anderes war, das mich abgelenkt hat … Jedenfalls ist es seit einiger Zeit so, dass mir hin und wieder mal nichts ein- oder zufällt – oder ich merke es nicht, dass mir etwas zufällt oder dass ich etwas, das mir zufällt, in einen BlogPost verwandeln könnte. Deshalb, weil mir eben die Ideen auszugehen schienen, habe ich letzten Mittwoch in meiner wundervollen Austauschrunde meine Kolleginnen Sigrid Varduhn und Ellen Volkhardt gefragt, was sie denn gern an den kommenden Montagen auf meinem Blog lesen würden – und siehe da, ich habe neue Ideen bekommen. Danke, danke! Was ich mit dieser kleinen Geschichte an dieser Stelle sagen will: Kollegialer Austausch ist nicht selbstverständlich – insbesondere für diejenigen wie mich, die freiberuflich meist alleine Schreibgruppen leiten –, aber so wertvoll. Und ab nächster Woche poste ich wieder voller Vergnügen, erst einmal ein paar Wochen lang zehrend von den Ideen der Kolleginnen!


22. Mai 2023

Königinnenmethode Freewriting

Sieben Gerüstaufgaben zum Üben

Frei schreiben, den Stift fließen lassen, im Rausch die Seiten füllen, schreibend suchen und finden, auch das, was man gar nicht gesucht hat – das zu können, wünschen sich viele Schreibende.
Völlig zu Recht wird das Freewriting in der Fachliteratur als eine der Königinnenmethoden empfohlen (z. B. von Judith Wolfsberger, 2009). In Schreibgruppen aller Art kommt es u. a. beim anfänglichen ,Warmschreiben‘ zum Einsatz: Auch beim Sport muss man sich ja zuerst warmlaufen, bevor man sich dem spezifischen Training widmet. Und dann soll man es aber einfach können … Meine Erfahrung in Schreibgruppen zeigt: Die meisten Teilnehmenden können es (zumindest am Anfang) nicht.
Weil es tatsächlich aufgrund unserer Schreibsozialisation in Schule, Hochschule und Beruf nicht einfach ist, sich auf das Freewriting einzulassen, könnten zunächst kleine Aufgaben helfen, in den Fluss zu kommen, also sozusagen ,Gerüstaufgaben‘, an denen du dich festhalten und entlanghangeln kannst, um dem Ziel, ,einfach‘ loszuschreiben, free und im flow, immer näher zu kommen, dem „Blindschreiben, Fluten“, wie es der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon bezeichnet (1985: 105). Oder wie es die Schreiblehrerin Anna Platsch wunderschön ausdrückt: „So leert sich der innere Raum von Vorstellungen, und ETWAS beginnt zu schreiben. In wilder, furchtloser Frische, aus einer aufgeweckten, stillen Seele“ (2014: 22; Hervorh. i. Orig.).

Einige Gerüstaufgaben möchte ich hier empfehlen:

  • Assoziative Liste: Zu jeder Idee kannst du jederzeit eine Liste machen, schnell, ausufernd, nicht sortierend.
  • Tautogrammatische Liste: Nimm ein Wort, das dich anspringt, und sammel so viele Wörter, wie dir in zwei Minuten in den Kopf kommen, die mir dem gleichen Buchstaben beginnen.
  • Klang-Liste: Folge dem Klang und fertige Reimlisten an: fliegen, Ziegen, biegen, betrügen …
  • Fragen: Schreib Fragen auf, eine nach der anderen, nicht zu einem Fokus, sondern wild durcheinander zu allen Aspekten des Lebens.
  • Kettentext: Lass dich von Assoziationen und Sprüngen leiten, wenn du schreibst: „kalt, aber neu, neu, aber frech, frech, aber rot, rot, aber liniert, liniert, aber französisch …“. Irgendwann reicht es vielleicht und du verlässt das Muster und schreibst ungebunden weiter.
  • Fragmente, Buch-Stechen: Stich in ein Buch, nimm das Wort – und notier den ersten Gedanken, das erste Bild, der/das auftaucht. Mach das zehnmal hintereinander, um zu lernen, deinen Zensor, der dir sagt, „das ist doch Quatsch, das gilt nicht, was du da denkst, was du da siehst“, zu überlisten. (Später kannst du auch weiterschreiben, wenn dir ein Gedanke, ein Bild sehr gut gefällt, erst einmal aber überlass dich dem Schnellen, dem Zufall, dem Einfall.)
  • Fragmente, 5-Minuten-Texte: Nimm alle fünf Minuten ein neues Wort (lass es dir von jemandem geben oder stich blind in ein Wörterbuch), schreib schnell mit diesem Impuls als Losschicker, nicht unbedingt als Themengeber; mach das mindestens fünf Mal hintereinander.

Mehr zum Freewriting und wie es sich z. B. vom Automatischen Schreiben unterscheidet, kannst du nachlesen in einem Interview mit mir in der Zeitschrift eXperimenta und in meinem Heft aus der Reihe 26+4 (dort findest du auch die Quellenangaben): Alers, Kirsten (2022): f wie Freewriting, wie fließen, wie fantastisch. Du kannst es hier bestellen.


15. Mai 2023

Neues (virtuelles) Angebot

Am eigenen Schreibprojekt arbeiten

Manchmal stockt ein Schreibvorhaben, am Anfang, in der Mitte, zum Ende hin … Und du schaffst es nicht, dich hinzusetzen und es anzugehen, das Projekt oder das Stocken oder beide. Wenn du schon einmal in einer Gruppe geschrieben hast, dann weißt du es: Das Wissen, dass auch Andere an ihren Projekten schreiben, beflügelt.
Das ist die Idee der Focus Sessions: Du kommst mit einer Frage, einer ersten Idee, einem Absatz oder einer anderen kleinen Aufgabe (bezogen auf dein Schreibprojekt) in eine oder mehrere Sessions, um fokussiert eine oder eben mehrere Stunden an deinem Projekt zu arbeiten. Wir treffen uns zu Beginn der jeweiligen Session 10 Minuten für zur Einstimmung, und dann schreibt jede:r für sich allein – und gedanklich eben doch in Gesellschaft. Melde dich einfach für den Fokus-Tag an – ob du dann an einer oder an mehreren Sessions teilnimmst, wird sich im Prozess ergeben. (Ein Austausch zu den Texten sowie Feedback ist in diesem Format nicht vorgesehen.)

TerminSamstag, 17. Juni
Sessions11–12 Uhr | 12.30–13.30 Uhr | 14.30–15.30 Uhr | 16–17 Uhr
Austausch mit allen    17–17.30 Uhr
Ortvirtuell (Zoom-Konferenz) und am eigenen Schreib-Platz
Kosten15–25 € (nach Selbsteinschätzung)
Anmeldung  ab sofort per Mail


8. Mai 2023

Mach eine Liste …

… deiner inneren Bilder

Listen zu machen, ist leicht. Listen zu machen, ist reizvoll. Listen zu machen, ist immer wieder neu.
Mach eine Liste deiner inneren Bilder, also quasi ein Automatisches Schreiben ohne Fließtext.
Hier meine von heute Morgen:

9. Mai
Eine Parade mit Elefanten
Ein roter Sonnenschirm
Der spiegelnde blaue See
Vielleicht ein Eichhörnchen
Ein Ziegel fällt
Geldscheine, aufgerollt
Ein Jackett in Schwarz
Abgestürzt beim Flugversuch
Rennen, rennen, rennen
Eine Gießkanne in der gelben Tonne
Die geplatzte Wassertonne
Westminster Abbey
Ein Schwarm Orkas
Eine defekte Drehleiter


1. Mai 2023

Schnipseln

Eine Entdeckung

Eigentlich war ich auf der Suche nach Literatur zum Begriff friendly feedback, der aus dem Umfeld des writers‘ studio in Wien an mein Ohr geriet. Eine Quelle dazu konnte ich leider nicht finden, dafür fand ich aber den Hinweis auf ein meine Sammel-, Klebe- und Wortfügungsleidenschaft beflügelndes Buch: Schnipseln heißt es. Und um Schnipseln geht es. Um das Texten mit aus Zeitschriften, Katalogen und (alten) Büchern ausgeschnittenen Wörtern und Zeilen.
Gut, sagst du, das kenne ich doch seit Ewigkeiten – und nicht zuletzt auch von der Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller (z. B.: Die blassen Herren mit den Mokkatassen). Ja, klar, ich auch. Aber hast du schon einmal ein ABCdarium oder Elfchen aus Schnipseln gemacht? Hast du schon mal einen Roman, ein Drehbuch oder ein Bilderbuch-Leporello mit Schnipseln gestaltet? Melanie Mezera hat 30 Schnipsel-Impulse für die individuelle und die Gruppenarbeit zusammengestellt, die alle gut erklärt und durch ein sehr ansprechendes Layout überaus anregend sind. Sofort zuckt es in den Fingern, sofort ist in mir eine Idee für ein längerfristiges Schnipsel-Projekt entstanden …

Mezera, Melanie (2023): Schnipseln. Die kreative Kraft des geborgten Wortes, 2. Auflage. Wien: punktgenau


24. April 2023

Gefangenen-Lipogramm

Ein oulipotisches Geschenk

Vor zwei Wochen bekam ich einen Text von meiner Dresdener Kollegin Angelika Weirauch geschenkt.

sommer am asow-meer
neun maenner rennen nass zum zaren, waren zuvor am warmen moor.
anna muss einen rasen naessen, einen mann waermen, zuse vorm ausmessen warnen.
rose muss nurse suse am arm zum rommee zerren.
ein mann war einen vers nennen, ein nomen morsen, eine memo an rose scannen.
wo summen sennen sonor? wo nasen vernommen, rum-ressourcen waren zerronnen.
wonne-wurm arno war nass an wasser-wanne.
wo war waerme am marmor? rom! sonne war nur, wo rom war!
amen.

Allein schon beim Draufschauen ahnt man, dass er mit einem bestimmten Verfahren, nach einer bestimmten Spielregel gemacht wurde. Es handelt sich natürlich um einen Textbeitrag zum Krieg in der Ukraine – und aber eben auch um einen lipogrammatischen Text. Genauer gesagt um einen der Variante Der Gefangene.
Lipogramm oder Leipogramm leitet sich ab vom Altgriechischen leípein = weglassen. In einem lipogrammatischen Text wird ein Buchstabe (oder mehrere) weggelassen. Das Y wegzulassen, ist im Deutschen nicht besonders schwer. Schwerer ist es, einen der häufigsten Buchstaben (oder mehrere davon) wegzulassen. Im Deutschen kommen folgende elf Buchstaben am häufigsten vor (abnehmende Häufigkeit): E N I S R A T D H U L.
Variante Der Gefangene: „Um das seltene Papier zu sparen, will der Gefangene die Linien so eng wie möglich halten. Zu diesem Zweck verwendet er nur die Buchstaben, die die Mittellinie oben oder unten nicht überschreiten. Er hat also noch ein halbes Alphabet. Noch sparsamer ist, dass dieser andere Gefangene sich Buchstaben mit Akzenten und Punkten verbietet“ (Paul Fournal (2010): Le Petit Oulipo). Im Deutschen verbleiben dann die Buchstaben a c e m n o r s u v w x z.
Variante Freier Mensch: Diese contrainte erlaubt ausschließlich (und so frei ist der Mensch dann doch wohl nicht) Buchstaben mit Punkten, Akzenten, Unter- und/oder Oberlängen. Im Deutschen sind das dann die Buchstaben b d f g h i j k l p q t y.
Variante Linke Hand: Es werden nur die Buchstaben und Zeichen auf der linken Seite der Tastatur benutzt (Harry Mathews & Alastair Brotchie (Hg.) (2005): OULIPO COMPENDIUM).

In meiner Reihe 26+4 ist im November 2022 ein Heft mit 55 oulipotischen Verfahren samt Varianten erscheinen:
o wie OuLiPo, wie optional, wie ohne
72 Seiten Broschur | 12 Euro | ISBN 978-3-935663-36-6
Bestellungen bei Kirsten Alers direkt oder im Buchhandel.


17. April 2023

Akrostichon & Co.

Banal oder genial?

In jedem Ratgeber oder anderen Buch zum Kreativen Schreiben sind die Textsorten Akrostichon und ABCdarium zu finden. Meistens werden sie wärmstens empfohlen, das Akrostichon als niederschwellige oder – um in der Sport-Terminologie zu bleiben – intervalltrainigsgeeignete Einstiegsübung für Schreibneulinge, das ABCdarium als Ideensammlungshilfe. Stimmige Akrostichons und experimentelle ABCdarien zu schreiben halte ich allerdings für alles andere als banal (vgl. hierzu auch Alers 2022a).

Definitionen: Ein Kryptichon hat ein Wort pro Zeile, ein klassisches Akrostichon mehrere Wörter, bei einem Mesostichon erscheint das Schlüsselwort in der Mitte und beim Telestichon am Ende. Allen gemeinsam ist, dass das Schlüsselwort, der das Thema bezeichnende Begriff senkrecht aufs Papier gesetzt wird, um dann eine der Anzahl seiner Buchstaben entsprechende und den Inhalt des Begriffs ausgestaltende ,Liste‘ zu schreiben. Akrostichon-Gebilde können als einfache oder komplexere assoziative Sammlungen – wie die in Schreibwerkstätten gern geschriebenen Namens-Kryptichons mit Selbstzuschreibungen in Form von Nomen oder Adjektiven – daherkommen, sie können aber auch als kunstvolle lyrische Gebilde gestaltet werden.
Das ABCdarium ist ebenfalls eine Akrostichonvariante, bei der das gesamte Alphabet an den linken Rand des Blattes geschrieben wird, um dann zu jedem Buchstaben etwas zu einem Thema zu assoziieren. Ja, es ist ein Brainstorming-Verfahren. Gestaltete ABCdarien gibt es aber schon seit Jahrtausenden, das bekannteste ist vielleicht Psalm 119, dessen Strophen jeweils mit den Buchstaben des (hebräischen) Alphabets beginnen. Und nicht zuletzt entstanden auch kunstvolle Formen im Kontext der Gruppe OuLiPo.
Von Franz Mon (2002) habe ich ein ABCdarium-Verfahren gelernt, das ich Schüttelmetaphern nennen möchte (er nannte es Vogelentsafter). Hierbei werden zu jedem Buchstaben zwei Wörter, meistens Nomen, kombiniert, die nicht unbedingt zusammen passen (und auch nicht wie in meinen Beispielwörtern mit dem gleichen Buchstaben beginnen müssen); so entstehen Neologismen (Wortneuschöpfungen) wie z. B. „Ankeraffe, Buchbeschwerer, Chimärencollage … Zentralzynismus“ – und darin wiederum stecken Keime für wundervolle Texte.
Das Alphabet lässt sich auch im erweiterten Modus nutzen. So kann man sich ein persönliches oder literarisches Wörterbuch anlegen. Als Beispiel sei hier der Buchstabe A aus dem Wörterbuch eines Trinkers von Benjamin Franklin vom 13. 1. 1737 angeführt: „A Er ist / abgefüllt / angepflockt / angesäuselt / angeschlagen / angesoffen / angestachelt / angetaut / angezählt / aufgerichtet / aufrecht / ausgefranst / Er hat sich die Augen nass gemacht“ (zit. nach Usher 2015: 39).
Herausfordernd sind aber wohl alle Akrostichon-Varianten dann, wenn man geschlossene Texte mittels ihrer gestaltet. Als Beispiel ein ABCdarium-Satz aus meiner Feder (Alers 2022b):

Schreibwerkstatt-Inventur
Am Boden: contraintes, darüber ein fulminant grandioser heterogener Inspirationsnebel; jenseits: Kisten, Lampen, Memoiren, Nichtiges; Offenbares: Papier, Quellen, Randerscheinungen, Stifte, Text(uren) und Versuche; wabernd: x years Zauberkraft.

Quellen
Alers, Kirsten (2022a): o wie anfangen, wie Alphabet, wie allerlei. Kaufungen: Wortwechsel
Alers, Kirsten (2022b): o wie OuLiPo, wie optional, wie ohne. Kaufungen: Wortwechsel
Usher, Shaun (Hg.) (2015): 1. LISTS 2. of 3. NOTE. Aufzeichnungen, die die Welt bedeuten. München: Heyne


10. April 2023

26+4: Das sechste Heft

Wie finde ich meinen Fokus?

Kleine Krise. Es gibt alles schon. Zu allem ist schon etwas geschrieben worden. Über 20 Bücher und auch etliche Aufsätze habe ich jetzt gesichtet. Was soll denn dann ausgerechnet ich noch zum Thema zu sagen haben?!
Ich könnte die alten Studiumsordner mal entsorgen. Ich könnte die alten Spielsachen sortieren. Den Kühlschrank putzen. Und der Wäscheberg ist auch schon wieder ganz schön hoch … Aber wenn ich mich diesen Dingen hingebe, werde ich zwar entsorgt, sortiert, geputzt und gewaschen haben, aber die Frage werde ich nicht beantwortet haben: was habe denn ich noch zum Thema zu sagen?
Die Krise wächst sich zu einer mittelgroßen aus. Jetzt habe ich fünf Hefte gemacht – wenn es mir mit den weiteren vierundzwanzig genauso ergehen wird wie mit dem, das mich gerade beschäftigt, dann … dann … Ich versaue mir meine Laune, meine kursfreie Zeit usw. usf. Für was? Für wen? Offensichtlich nicht für mich! Seufz. Grummel. Fluch.
Meinen Masterstudent:innen sage ich ja immer: Mach das Thema kleiner, finde ein Detail, das dich an diesem großen Thema besonders interessiert (zu dem im besten Fall noch nie jemand etwas Substanzielles geschrieben hat). Und natürlich schreibend das Thema klein kriegen. Mit Freewriting, fokussiert, mit einem Seriensprint, mit einer Schreibstaffel. Jetzt. Nicht morgen. Erst das. Dir glauben. Dein Versprechen dir selbst gegenüber einlösen. Nicht ausweichen. Später dann, als Belohnung sozusagen: das Entsorgen, Sortieren, Putzen und Waschen.
Und wenn es nicht klappt auf Anhieb? Noch mal ein Seriensprint. Noch eine Schreibstaffel. Zwischendurch kochen, essen, schlafen, um den See gehen. Manchmal, aber nur, wenn es schon begonnen hat zu gären, reift etwas beim Gehen (oder gar im Schlaf). Leider nicht auf Kommando. Aber ohne Angehen, ohne schreibendes Angehen reift gar nichts.
Jetzt also. Einatmen, ausatmen, schreiben. Und vertrauen (weil es doch bisher immer gutging).
Wie das sechste Heft heißen und welche Kleinheit und Neuheit mit ihm in die Welt gestellt werden wird, verrate ich heute noch nicht. Die bisher erschienenen Hefte, die alle etwas sagen, was so noch nie gesagt worden ist, und bei mir bestellt werden können, heißen:

  • a wie anfangen, wie Alphabet, wie allerlei
  • f wie Freewriting, wie fließen, wie fantastisch
  • o wie OuLiPo, wie optional, wie ohne
  • s wie Silbchen, wie siebzehn, wie sabi
  • u wie umbildern, wie Ur(sch)lamm, wie unkonventionell


3. April 2023

Eier anmalen

… oder Eier anschreiben

Eins meiner Lieblingskinderbücher ist Wir Kinder aus Bullerbü. Und eine der lustigsten Geschichten darin ist die, in der die Kinder Ostereiersprüche dichten: Dies Ei ist für Inga-Anna anstelle einer Bratpfanna (oder so ähnlich). Auf geht’s.
(Das Foto bekam ich vor vielen Jahren von meinem Bruder geschickt, die Quelle kennen wir leider nicht.)


27. März 2023

Herausragende Schreibgruppenkonzepte

Segeberger Preis erstmals verliehen

Preisträgerin Andrea Keller (Foto: Karl Günter Rammoser)

Am 17. März hat der Segeberger Kreis, ein Verein für und mit Schreibpädagog:innen und -didaktiker:innen, erstmals den Segeberger Preis verliehen. Mit ihm werden herausragende schreib- und literaturpädagogische Projekte und Konzepte des Kreativen Schreibens, die als Teil einer kulturellen Praxis konzipiert sind und umgesetzt werden.
Die erste Preisträgerin ist die Schweizerin Andrea Keller, die den Preis für ihr Projekt „Das letzte Wort voraus. Schreib deinen eigenen Nachruf“ erhalten hat.
Andrea Keller hat den Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben an der Alice Salomon Hochschule in Berlin absolviert, an dem ich seit 16 Jahren als Dozentin für Schreibgruppenpädagogik lehre. Andrea Keller war also meine Studentin – und so freue ich mich doppelt: über und für die Preisträgerin sowie über die erfolgreiche erste Preisverleihung.
Mehr nachzulesen über Preis, Preisträgerin und Preisverleihung ist auf der Website des Segeberger Kreises.

Norbert Kruse (Vorsitzender des Segeberger Kreises, Susanne Barth (Lobende Anerkennung), Katrin Girgensohn (Jurorin und Laudatorin), Kirsten Alers (stellvertretende Vorsitzende), Andrea Keller (Preisträgerin), Hans Arnold Rau (Sponsor) (Foto: Karl Günter Rammoser)


20. März 2023

22.24 Uhr MEZ

Schreib dich in den Frühling

Um 22.24 Uhr beginnt heute der Frühling. Schreib dich in ihn hinein. Schreib einfach.
Schreib. Dich. Hinein. Frühling. Tagundnachtgleiche. Licht. Vielleicht schreibst du morgen ganz früh wenn die Sonne gerade aufgeht … Schreib einen Freien Text oder mach ein Freewriting oder schreib automatisch.
(Zum Unterschied zwischen Freiem Text, Freewriting und Automatischem Schreiben empfehle ich die Lektüre meines Heftes aus der Reihe 26+4 f wie Freewriting, wie fließen, wie fantastisch.)


13. März 2023

u wie umbildern, wie Ur(sch)lamm, wie unkonventionell

Fünftes Heft der Reihe 26+4 erschienen

Schneller als gedacht erscheint das fünfte Heft meiner Reihe. Es war aber auch lange in der Werkstatt, dieses Heft, seine Argumentationslinie vor allem, brauchte einige Denkschleifen und Korrekturläufe mehr als die anderen vier – zum mich sehr zufriedenstellenden Ergebnis beigetragen haben auch meine drei Vorableserinnen Nadja D., Marion K. und Mira S. Durch sie konnte ich einmal mehr erkennen, wie wichtig der frische, erwartungslose, staunende und kritische Blick von außen ist.

Klappentext: Nicht so zu schreiben wie alle Welt, frische, unverbrauchte literarische Bilder sowie einen eigen(sinnig)en Ausdruck zu finden – das wünschen sich wohl alle Schreibenden. Erläutert wird das Modell des unkonventionellen Schreibens. Gefragt wird nach dem GEMACHTSEIN, dem BEWUSSTEN Machen und dem bewussten ABWEICHEN. Vorgestellt werden neben Beispielen aus der Literatur anregende Verfahren, mit denen Anfänger:innen wie geübte Schreibende unkonventionelle, das Eigen(sinnig)e zum Ausdruck bringende literarische Bilder und Texte kreieren können. Einleitende Gedanken zur Reihe 26+4 findest du hier.


6. März 2023

8. März

Internationaler Frauentag

1910 schlug die Sozialistin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin während des II. Kongresses der Sozialistischen Internationale in Kopenhagen vor, einen Frauentag einzuführen und ihn jährlich zu feiern. Zum ersten Mal wurde er mit Demonstrationen 1911 begangen, auch in Deutschland. Seit 1921 ist der Internationale Frauentag auch ein Aktionstag gegen den Krieg. In Deutschland ist der 8. März in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern ein Feiertag!
Für Frauen*-Rechte sich einzusetzen, ist leider auch mehr als 120 Jahre nach Einführung des Feier- und Kampftages noch notwendig, in Deutschland und überall. In jeder Stadt finden am 8. März Demonastrationen und Events unterschiedlichster Veranstalterinnen aus der frauen*bewegten Zivilgesellschaft statt. Schau mal nach, wo es in deiner Stadt Interessantes zu entdecken, zu lernen, abzulehnen und einzufordern gibt – am 8. März und auch an allen anderen Tagen.
Am Frauentag selbst lädt beispielsweise das Kasseler Frauenbündnis dazu ein, sich gemeinsam für eine lebenswerte Zukunft ohne Armut, Ausbeutung, Diskriminierung, Unterdrückung und Gewalt stark zu machen. Von 14.30 bis 17.00 Uhr gibt es dazu im Bereich Opernplatz/Friedrichsplatz Informationsstände und Redebeiträge zu aktuellen frauenpolitischen Themen. Mehr zur Veranstaltungsreihe rund um den 8. März in Kassel findest du hier.


27. Februar 2023

Meer schreiben

Weil ich auf Sylt bin …

Zwei Wochen bin ich auf Sylt, vom 25. Februar bis zum 11. März. Zum Schreiben. Die beiden Kurse, die ich dort leite, heißen Meer schreiben. Vielleicht magst du auch Meer schreiben. Das Foto möge dich inspirieren.


20. Februar 2023

Lustiges Schreiben …

… statt lustiges Feiern

Heute ist Montag. Rosenmontag. Ich habe in meiner heutigen Schreibwerkstatt den Rosenmontag ignoriert, wir haben zu Fotos aus unseren privaten Fotoalben geschrieben. Eben jetzt denke ich: Wir hätten auch etwas Lustiges schreiben können, z. B. einen Limerick. So also will ich es jetzt empfehlen – und lustig schreiben, z. B. einen Limerick, geht ja auch noch morgen oder gar am Aschermittwoch …
Ein Limerick ist ein fünfzeiliges Gedicht irischen Ursprungs mit komischer oder grotesk-satirischer Endzeile. Die Reime folgen dem Schema aabba, die drei a-Zeilen haben die gleiche Anzahl Hebungen, die beiden b-Zeilen auch, sie sind aber mindestens eine Hebung kürzer.

Das Schema
1. Zeile: Person und Ort
2. Zeile: Tätigkeit/Vorhaben
3. Zeile: das Ereignis
4. Zeile: das Ereignis
5. Zeile: Pointe, Witz

Ein bekanntes Beispiel (Verfasser:in unbekannt)
Ein Pfarrer machte in Kamen
gerade sein Fahrschulexamen.
Da stürzte ein Laster
aufs Auto samt Paster.
So kommt man durch Laster um: Amen!


13. Februar 2023

Statt Elfchen:

Fünfchen und Neunchen

Komisch, dass nicht schon jemand auf die Idee kam … Elfchen werden in Schreibgruppen mit Anfänger:innen gern genutzt. Mancher Schreiblehrerin hängen sie schon länger zum Hals heraus. Mir jedenfalls ging es so. So habe ich im letzten Jahr kurzerhand Fünfchen schreiben lassen – und brachte so vor allem für mich frischen Wind ins Kurzlyrikschreiben. Ein Fünfchen sieht so aus (jedenfalls das, welches ich erfunden habe):

Wort 1
Wort 2 Wort 3 Wort 4
Wort 5

Denkbar sind natürlich auch Sechschen oder Neunchen … Ein Neunchen würde ich so aussehen lassen wie einen Schneeball:

Wort 1
Wort 2 Wort 3
Wort 4 Wort 5 Wort 6
Wort 7 Wort 8
Wort 9

Oder so:

Wort 1
Wort 2 Wort 3
Wort 4 Wort 5
Wort 6 Wort 7 Wort 8
Wort 9

Ein Zwölfchen ist übrigens schon erfunden, es ist ein Elfchen mit Überschrift.


6. Februar 2023

Schreibimpulse

Wie du sie dir selbst geben kannst II

Am 9. Januar, also genau vor vier Wochen, postete ich bereits ein paar Ideen, wie du dir selbst fürs tägliche Schreiben Impulse geben kannst, damit du nicht nur in der wöchentlichen oder vierzehntägigen Schreibwerkstatt ins Schreiben kommst. Heute will ich die Ideenliste ergänzen mit drei weiteren Varianten:

Variante 1: Du kannst Freund:innen bitten, dir kleine Impulse auf zusammengefalteten Zetteln zu schenken, die du in einem Behältnis sammelst, um dann bei Bedarf einen Impuls zu ziehen.
Variante 2: Du nimmst einen Rechtschreib-Duden und stichst jeden Tag (oder immer, wenn du schreiben willst) mit dem Finger hinein; das Wort, das dein Finger trifft, ist dein Schreibimpuls.
Variante 3: Eine meiner Schreibwerkstattteilnehmerinnen verriet mir letzte Woche, dass sie die Wörter aus meinem Jahresprojekt „Blütenlese 2021“ als tägliche Losschick-Impulse nutzt – danke für den Tipp, Mimi. Interessierte finden diese Wörter hier.


30. Januar 2023

s wie Silbchen, wie siebzehn, wie sabi

Viertes Heft der Reihe 26+4 erscheint am 1. Februar

Ich liebe es, Haikus zu schreiben, ich liebe es, Texte mit einsilbigen Wörtern zu schreiben, ich liebe es, das Grundmaterial der Sprache schreibkreativ in den Blick zu nehmen. Wie beispielsweise Silben. Und was ich liebe, will ich gern mit Anderen teilen. So ist das vierte Heft meiner Reihe zum Kreativen Schreiben – 26+4 – den Silben gewidmet. Es erscheint am 1. Februar und ist für 9 Euro über den Buchhandel oder auch direkt bei mir zu beziehen.

Klappentext: Silben nehmen in allen Sprachen eine wichtige Funktion ein – wenn auch eine unterschiedliche. Schreibpädagog:innen und andere Sprachinteressierte erfahren, wie auf spielerische, poetische oder meditative Weise die Spracheinheit Silbe in den Mittelpunkt des schriftsprachlichen Gestaltens gestellt werden kann. Genauer betrachtet wird das japanische Haiku, seine Form, seine philosophische Tradition und wie es gelingt, in einen meditativen Haiku-Schreibmodus zu kommen. Einleitende Gedanken zur Reihe 26+4 findest du hier.


23. Januar 2023

Kreatives Schreiben …

… wenn 828 Millionen hungern?

Laut UN-Bericht sind mehr als 10 Prozent der Erdbevölkerung mit Hunger konfrontiert, viele gar vom Hundertod bedroht. Was tue ich dagegen? Was kann ich tun? Darüber schreiben? Sich hineinschreiben? Sich davon wegschreiben? Etwas Entgegengesetztes schreiben? Etwas Schönes, Heiles schreiben? Täglich einen Leser:inbrief verfassen? Scham und Wut und Ohnmacht schreiben? Petitionen unterschreiben? Journalist:in werden? Gar nicht schreiben, sondern spenden und weinen? Sich anketten oder festkleben? Erstarren und schreien? Einer (linken) Partei beitreten? Ein Ehrenamt ausüben? Alles hinter sich lassen und sich einer Hilfsorganisation anschließen?
Ich stelle mir diese Fragen und sage Ja. Ja als Antwort auf alle. Alles schon gemacht – bis auf das letzte. Ich stelle mir die Fragen und weiß, dass es Luxusfragen sind. Dass ich extrem privilegiert bin. Ich bin nicht von Hunger, nicht von Bomben bedroht, bin so gut wie keiner Diskriminierung ausgesetzt. Und doch muss ich jeden Tag BESCHLIESSEN, meiner Arbeit nachzugehen – trotz oder wegen alledem? Obwohl ich gern so viel ändern würde und keinen überzeugenden Ansatzpunkt finde.
Ich mache dieses oder jenes kleine Bisschen und gehe einfach immer weiter meiner Arbeit nach. Erdenke Impulse für darüber, für hinein, für davon weg, für Entgegengesetztes, Schönes, Heiles, für Wut und Ohnmacht usw. Und sage, dass wir die Verantwortung tragen: für Ausbeutung, Hunger, Klimawandel. Mehr ist es nicht. Manchmal schäme ich mich. Manchmal denke ich: Wenn alle wenigstens so wie ich … Dann wieder Ohnmacht. Usw. Und du?


16. Januar 2023

Glitzern und Alltag

Nachhaltigkeit der Erfahrungen

Klar, so eine dreitägige Schreibwerkstatt auf einer mittelalterlichen Burg oder gar eine sechstägige auf einer Nordseeinsel – das sind glitzernde Perlen in der Jahreskette. Von denen man zehrt. Es entstehen wunderbare Texte, es werden Erkenntnisse geboren, berührende Begegnungen finden statt in literarischer Geselligkeit usw. Mir allerdings liegt eine Sache besonders am Herzen: Nachhaltigkeit der gemachten Erfahrungen. Etwas davon, was so geglitzert hat in diesen Tagen, sollte in den Alltag zuhause integriert werden können. So möchte ich hier einige Ideen, wie das gelingen kann, ausführen – auf das Element Schreiben bezogen.

  • Idee 1: Such dir eine Schreibgruppe. Literarische Geselligkeit, das gemeinsame Schreiben, das Vorlesen in der Gruppe, das Gespräch über Texte und Schreiben ist durch nichts zu ersetzen!
  • Idee 2: Setz dir ein paar Zeiten in der Woche, in denen du nichts Anderes tust als zu schreiben. Es können die 15 Minuten jeden Morgen sein, bevor alle Anderen im Haus erwachen. Es können die beiden Stunden dienstags und freitags von 18 bis 19 Uhr sein. Wichtig ist: Nichts Anderes ist dann wichtig, und wenn nur drei Sätze entstehen oder ein winziges Elfchen – egal, nichts Anderes passiert in diesen Zeiten als Schreiben oder Aufdiewörterwarten.
  • Idee 3: Nutze die Zeiten in Bus und Bahn oder im Café, schreib Wörter, belausch die Menschen um dich herum, notier, was du hörst, siehst, riechst.
  • Idee 4: Falls du ein angefangenes Projekt weiterverfolgen möchtest, setz dir eine Wörterzahl, die du in der Woche daran schreiben willst, z. B. 300 oder 3000. Und wenn die am Sonntagnachmittag immer noch nicht geschrieben sind, musst du vielleicht den Tatort ,opfern‘.


9. Januar 2023

Schreibimpulse

Wie du sie dir selbst geben kannst

Vor drei Jahren habe ich den Vorfrühlings-Adventskalender erfunden, in dem sich 24 Impulse befanden, die ich in den 24 Tagen vor dem 21. März an alle Schreibinteressierten in meinem Verteiler schickte. Diese Mini-Impulse fürs tägliche Schreiben kamen sehr gut an – seiher gibt es den Schreibimpuls-Kalender in der Adventszeit, allerdings mittlerweile kostenpflichtig …
Nun, der Advent ist ja gerade vorbei. Wenn du nicht warten willst auf Impulse, schenk dir einfach selbst welche. Schreib Wörter oder Sätze auf kleine Zettel und schneid Bilder und Schlagzeilen aus Zeitschriften aus. Falte alle zusammen und wirf sie in eine Kiste, einen Topf, einen Hut. Nun ziehst du, ohne hinzuschauen, jeden Tag einen Impuls für dich heraus und schreibst eine Zeitlang. (Gut ist es, die tägliche oder wöchentliche Schreibzeit mit dir selbst zu vereinbaren, und auch festzulegen, wie lange du dann, wenn du den Impuls ziehst, schreiben willst.)
Die Idee zum Selbstmachen von Schreibimpulse habe ich entwickeln dürfen aus einer Anregung von Barbara S., die ich am vergangenen Wochenende in meinem Kurs Anfänge … auf der Burg Fürsteneck kennen gelernt habe. Danke, Barbara!


2. Januar 2023

Mehr Fachläuten

12 Wünsche für das Neue Jahr

Für euch alle, die ihr mir hier treu folgt, für euch, die ihr hier gerade zum ersten Mal gelandet seid, und für alle Anderen auch:

12 Wünsche für die 12 kommenden Monate

Kommen und Gehen
Hirsebrei statt Kriegsgeschrei
Mehr Fachläuten
Somnambules Geschreibsel ohne Scham und Scheitern
Petrichor-Gesänge
Minimalismusmut
Ausflug ins Tal der Träume
Torte ohne Re
Mehr Grün
Schaukeln mit Lalla
11 Liter Zaubertrank
Weniger Spekulation – Spekulatius für alle


26. Dezember 2022

12 Rauhnächte

Zeit zum Besinnen

Die Zeit ,zwischen den Jahren’ gilt seit alters her als eine besondere. Den zwölf Rauhnächten um den Jahreswechsel zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar wird eine spezielle Kraft zugesprochen. Mannigfaltige Rituale sind überliefert. Ihren Ursprung hat die Heraushebung von zwölf Nächten in der Differenz zwischen Mond- und Sonnenjahr: Während ein Mondjahr 354 Tage hat, hat das Sonnenjahr 365 (oder alle vier Jahre 366).
Unabhängig davon, ob man sich mit spirituellen Ritualen verbinden möchte: Die Zeit zwischen den Jahren empfinden viele von uns als eine, die herausfällt aus allem – sie gehört nicht zum alten und auch noch nicht zum neuen Jahr, wir lassen das Vergangene Revue passieren, bereiten uns (z. B. mittels der berühmt-berüchtigten guten Vorsätze) auf das Kommende vor.
Die Rauhnächte sind also eine ideale Zeit, um zu schreiben: zur Besinnung, zur Selbstreflexion, zur Reinigung, zum Abschließen, zum Neu-Beginnen. Heute, zur zweiten Rauhnacht (26./27. 12.), möchte ich dir folgende Schreibanregung geben:

Erzähl eine Geschichte aus dem vergangenen Jahr, die du erzählen willst!

1. Schritt
Variante A: Erzähl DIE Geschichte des Jahres, die bewahrt werden will, weil sie großen (symbolischen) Wert hat.
Variante B: Erzähl eine Geschichte, die noch einmal erzählt und dann ZUR SEITE gelegt werden will, weil sie etwas enthält, das dich gehemmt oder ausgebremst hat.
Variante C: Erinnere dich an die Geschichten zu den Rauhnächten, die du früher gehört hast, von Großmüttern oder anderen älteren Menschen, die davon handeln, warum in diesen Tagen die Wäsche nicht rausgehängt werden darf, was sich hinter der Wilden Jagd verbirgt usw.

STOPP: Erst nach dem Schreiben hier weiterlesen.

2. Schritt
Lass deine Geschichte liegen, mach etwas Anderes, mindestens eine halbe Stunde lang, schlaf, spül, geh spazieren ... Dann lies dir die Geschichte noch einmal durch und finde einen Essenzsatz oder vervollständige drei Mal den Satzanfang: „Ich erkenne ...“.


19. Dezember 2022

Gastbeitrag von Katrin S.

Texte aus dem Schreibimpuls-Adventskalender

Zum dritten Mal öffnet sich seit dem 1. Dezember und noch bis zum 24. Täglich ein Türchen im Schreibimpulsadventskalender. In diesem Jahr nutzen wieder nahezu 20 Schreiberinnen die Impulse für ein kurzes (oder längeres) tägliches Schreiben. Eine von ihnen hat mir zwei Texte geschickt, die ich gern mit meinen Leser:innen teile. Danke, Katrin, für deine kraftvollen und inspirierenden Texte.

Türchen 5: Fege jemandes Regenbogen (und deinen)
Wenn ich den Staub des Alltags wegwische
Sehe ich dein Rot
Dein Feuer
Dein orangenes Leuchten
Deine helle goldgelbe Freude
Die Musik in dir
Deine grünen Hoffnungen
Und die türkisblaue Sehnsucht
Den weiten Himmel über dir
Und Meeresrauschen
Die nachtblauen Träume
Voller Küsse und zarter Fingerspitzenpfade
Und die violette Magie des Knisterns zwischen uns

Türchen 18: Freiheit
Für Freiheit
Bitte dahinten anstellen
Ziehen Sie eine Nummer
Und warten Sie, bis Sie aufgerufen werden
Das hier bitte schon mal ausfüllen
Frage 1: Was möchten Sie?
Frage 2: Was sind Sie bereit, dafür loszulassen?


12. Dezember 2022

Ein Knoten

Und doch kein Knoten

Letztes Jahr schickte mir meine Schreibfreundin Barbara R. aus München dieses Foto. Und ich dachte: Solch einen Knoten zerschlägt frau doch nicht … Jetzt habe ich ihn wiedergefunden – und denke: Solch einen Knoten legt frau sich neben das Kopfkissen. Und was denkst du?


5. Dezember 2022

Altruistisches Fegen

Advents-Kurz-Impuls

(Schreibimpulsadventskalender, in Kooperation mit der vhs Region Kassel), immer nur ein Wort, ein Bild, ein kurzer Text … Heute, am 5. 12., habe ich anlässlich des Internationalen UNO-Tag des Ehrenamtes folgenden Impuls verschickt, den ich jetzt auch hier zur Verfügung stelle:

Fege jemandes Regenbogen (und deinen eigenen).
Schreib ein paar Minuten – vielleicht hast du eine Person vor Augen, deren Regenbogen zu gern fegen würdest.


28. November 2022

Ja, Nein oder doch …

Eine Übungssequenz

Vor einigen Tagen war ich eingeladen, an einer Schreibübungssequenz teilzunehmen, die eine meiner Student:innen entwickelt hatte und mit jemandem ausprobieren wollte, bevor sie sie in einer Gruppe einsetzt. Die Sequenz ist dem Kontext des therapeutischen/heilsamen Schreibens zuzurechnen.
Janina K. lud mich ein, folgende Schritte zu gehen (es ist am besten, Schritt für Schritt vorzugehen und nicht alle Schritte im Vorhinein zu kennen):

Schritt 1: Schreib eine Liste zur Frage: Wozu sage ich Ja? (5–10 Min.)
Schritt 2: Schreib eine Liste zur Frage: Wozu sage ich Nein? (5–10 Min.)
Schritt 3: Wähl einen Punkt aus der Nein-Liste, an/zu dem du ggf. doch gern Ja sagen würdest, und schreib einen freien Text. (10–15 Min.) Variante: Du kannst auch einen Punkt aus der Ja-Liste wählen, an/zu dem du ggf. doch gern Nein sagen würdest.
Schritt 4: Nimm etwas Wesentliches heraus aus deinem Text aus Schritt 3 und schreib eine Verdichtung (das kann ein Elfchen, ein Positiver Vierzeiler oder einfach ein Essenzsatz sein).


21. November 2022

Unbedingt lesen!

Meine Jahreslektüre: eine Auswahl

Romane und Kurzprosa lese ich im Verhältnis zu Fachbüchern und -aufsätzen wenige. Zehn Romane vielleicht im Jahr … Ich läse gern mehr. Oder eher: Ich hätte gern mehr gelesen. Und immer hätte ich gern anders gelesen. Ich lese Prosa fast ausschließlich abends. Erlaube mir nicht, die Arbeitszeit am Vormittag mit der Lektüre eines Romans zu beginnen. Obwohl ich die Prosa, die ich lese, nach beruflichen Gesichtspunkten auswähle, weil ich Literaturbeispiele aus den jeweils aktuell besprochenen Werken auch immer Teil meiner Schreibwerkstätten sein lasse.
So also will ich, da das Jahr zuende geht und auch die Überlegungen für Buchgeschenke zu Weihnachten sicherlich bald starten, etwas von meiner Jahreslektüre empfehlen. Ich empfehle vier Bücher von Frauen und eins von einer sich als non-binär definierenden Person, weil ich den Büchern und ihren Autor:innen mehr Leser:innen wünsche, denn alle zeigen sie inhaltlich und sprachlich meister:inhaft – wenn man eine Gemeinsamkeit ausmachen möchte –, wie es ausshen könnte, sich aus einer marginalisierten oder anders gebrochenen Position heraus in der deutschen Gegenwart der Zwanzigerjahre zu verorten:

Aydemir, Fatma: Dschinns, Roman. Hanser (Shortlist Deutscher Buchpreis 2022)
Bánk, Zsuzsa: Schlafen werden wir später, Roman. S. Fischer
Bilkau, Kristine: Nebenan, Roman. Luchterhand (Shortlist Deutscher Buchpreis 2022)
de l’Horizon, Kim: Blutbuch, Roman. DuMont (Deutscher Buchpreis 2022)
Othmann, Ronya: Die Sommer, Roman. Hanser


14. November 2022

TRANSFORMATION

Anagrammieren zu diversen Zwecken

Das Motto der Bundesakademie für kulturelle Bildung in Wolfenbüttel für 2023 ist Transformation. Bitter nötig ist sie, eine Transformation. Nicht nur in der kulturellen Bildung und den entsprechenden Bildungsinstitutionen. Insbesondere auch eine innere – bei allen. Weiter so – das war noch nie mein Motto, jetzt aber wird es immer gefährlicher, so zu denken.
Schreibend können wir uns Möglichkeitsräume eröffnen – und diese mit Visionen füllen. Heute möchte ich zum Anagrammieren anregen, also zum Spiel mit dem Wort TRANSFORMATION.
Es gibt echte und unechte Anagramme. Bei echten Anagrammen werden alle Buchstaben eines Wortes bzw. einer Zeile verwendet, alle und in genau der Anzahl, in der sie vorkommen. Beispiel: TRANSFORMATION – FORMATIONSTRAN. Bei unechten Anagrammen entstehen aus dem Buchstabenmaterial eines Wortes neue Wörter, die dann zu einem Text gefügt werden; aus TRANSFORMATION kann man ARM, NATION, MAMA, RATTAN, NOTAT und Dutzende Wörter mehr bilden, aus denen dann ein Text gestaltet wird.


7. November 2022

Von Abstract bis Zeevenaar

Mit Stilübungen den Stil üben

Das Experiment von Raymond Quenaeu ist vielen wahrscheinlich bekannt: Der französische Schriftsteller, Verleger und Mitgründer der Gruppe OuLiPo hat eine kleine Großstadtszenerie 99fach variiert. Auf diesem Verfahren beruht die heutige Schreibanregung.
Such aus einem Literaturlexikon so viele Textsorten heraus, wie du möchtest – oder wähl die, die du üben möchtest, und schreib diese einzeln auf kleine Zettel, die in eine Kiste kommen. Am End ist die Kiste gefüllt mit: Abstract, Beipackzettel, Cinquain, Definition, Essay, Fabel, Ghasel, …, Kochrezept, Liste, Märchen, Nachruf, Ode, Predigt, …, Tagebucheintrag, Unfallbericht, Verhör, Wahlkampfrede, …, Zeevenaar.
Dann notier ein paar Stichworte zu einem Erlebnis der vergangenen Woche oder zu einem Thema, das dich beschäftigt. Zieh eine der Textsorten aus der Loskiste und schreib im Stil der gelosten Textsorte. Du kannst die Kiste natürlich auch nur mit den Textsorten füllen, die du üben willst (für die Uni vielleicht).

Raymond Queneau: Stilübungen. 1947 im Original auf Französisch, 1961 erstmals auf Deutsch erschienen.


31. Oktober 2022

o … wie OuLiPo, wie optional, wie ohne

Neues Heft der Reihe 26+4 erscheint am 1. November

Welchen Nutzen sollte es haben, Texte zu schreiben, in denen jedes Wort mit M beginnt, alle Wörter aus nur einer Silbe bestehen oder Verben verboten sind? Schreibende und Schreibpädagog:innen erfahren, welch zauberhaft kreativ-produktive Kraft sich entfalten kann, lassen wir uns ein auf das Schreiben nach den Verfahren (contraintes), die die Mitglieder von OuLiPo – der Werkstatt für potenzielle Literatur – seit 1960 ersinnen. Hier beschrieben werden 55 contraintes mit zahlreichen Varianten.
Dieses Heft ist zugleich Heft 3 einer Reihe, die am Ende aus 30 Heften bestehen wird. Es geht in jedem der 30 Hefte um jeweils einen Einzelaspekt des Kreativen Schreibens und wie ich diesen begreife, lehre und schreibkreativ untersuche. Einleitende Gedanken zur Reihe 26+4 finden Sie hier.

72 Seiten Broschur | 12 Euro | ISBN 978-3-935663-36-6 Bestellungen bei Kirsten Alers direkt oder im Buchhandel.


24. Oktober 2022

Ich erinnere mich …

Ein positives Schreiberlebnis

Am Freitag und Samstag unterrichtete ich zwei ganze Tage an der Uni in Kassel, das Seminar, das ich dort einmal im Jahr leite, heißt „Schreiben lernt man durch Schreiben“. Es geht vor allem um das Freiwerden und die Erlaubnis, ungewöhnliche Schreibwege zu beschreiten, darum, Texte zu schreiben oder Verfahren anzuwenden, die erst auf den zweiten Blick nutzbringend für die akademischen oder wissenschaftlichen Schreibprojekte sind, die im Studium anstehen. Und es geht natürlich auch darum, das Vertrauen in die eigenen Schreibfähigkeiten und die intrinsische Motivation zu stärken. Eine Schreibaufgabe zu diesem Zwecke ist die, mit der wir den zweiten Tag abgeschlossen haben, und diese möchte ich dir wärmstens ans Herz legen – nicht zuletzt, weil mein Herz am Samstagnachmittag gewärmt wurde von 13 wunderbaren positiven biografischen Schreiblerlebnissen, die in der Seminarrunde vorgelesen wurden.
Schreib über ein positives Schreiberlebnis in deinem Leben, eins aus der Kindheit oder Jugend oder aus jüngerer Zeit. Beginn mit der Formel „Ich erinnere mich …“ und nimm das Sinnliche mit hinein – wie lag der Stift in der Hand, welche Rolle spielte der Ort, welche Worte sprach die Lehrerin … Belass es eher beim Erzählen, das Reflektieren und Schlussfolgern kann an anderer Stelle stattfinden.


17. Oktober 2022

Pause

Ein Blogeintrag von Cambra Skadé

Beim Lesen einer der Prüfungsleistungen, die sich zu Dutzenden gerade auf meinem Tisch stapeln und begutachtet werden wollen, wurde ich auf den Blog von Cambra Skadé hingewiesen, aus dem ich den Beitrag von gestern gern zitieren möchte, er trägt den Titel Pause:
„In all den Turbulenzen, dem Dichten, dem Vielen und Schnellen – eine PAUSE. Überall spüre ich eine große Erschöpfung. Alles ist zu viel und der Wunsch nach Reduzierung von Terminen und Herausforderungen taucht allerorten auf. Weniger, Ruhe, Innehalten … Über leere Dorfstraßen schlendern, den Katzen in der Sonne zusehen, das alte Lied der Sehnsucht nach Mußezeit singen. Dem Wasser zuhören, das bei jedem Ruderschlag an die Planken schlägt. Seltsames mit dem Finger in die Luft kritzeln. THE END OF … IT ist zu spüren. IT? Unser bisheriges Leben? Summertime? Das Funktionieren? Für alle was anderes? Jedenfalls spürbar das Ende von … Mit dem Boot Richtung Meer, auf der Dorfstrasse Richtung Morgen. Wege ans Heimkehrfeuer?“
Ich bin berührt – und aufgescheucht zugleich …

Quelle: https://www.cambraskade.de/


10. Oktober 2022

Anagramm-Tandem

Geschichten aus dem Zwischenraum

Von Gianni Rodari stammt die Verfahrens-Idee des Fantastischen Binoms – so ungefähr funktioniert auch die des Anagramm-Tandems. Du wählst eins aus der folgenden Liste (oder bildest selbst welche), schließt die Augen und lässt das Bild aus dem aufgeladenen Raum zwischen den beiden Begriffen aufsteigen. Dieses Bild notierst du dir zunächst als Stichwort. Nun assoziierst du zu deinem Bild weitere 10 Begriffe, ganz frei, ohne Zensur. Mit Hilfe des so entstandenen Pools von Bild und Assoziationen gestaltet sich eine Geschichte fast ganz von selbst …

Anagramm-Tandems – die Liste
rot – Tor
Knie – kein
Raben – Narbe
Natur – Unrat
abgehen – behagen
Hasen – Sahne
Lampe – Palme
Abend – Bande
Regen – gerne
kalben – Balken
Reifen – feiern
Bart – Trab
Betrug – Geburt
Achsel – Schale
Bärin – binär
Kreation – Reaktion


3. Oktober 2022

Raum auf Zeit in Wolfhagen

Kreatives Wortwandeln mit Ellen Volkhardt

Die Buchhandlung Mander in Wolfhagen (Landkreis Kassel) stellt hin und wieder einen an die Buchhandlung angrenzenden Raum für Künster:innen und Kreative zur Verfügung, so wie dieses Jahr im Oktober meiner Kollegin Ellen Volkhardt.
Ellen Volkhardt hat das Konzept der Wortwandelwege erdacht und führt dieses seit Jahren insbesondere in therapeutischen und rehabilitatorischen Settings durch. Im Oktober nun lädt sie ein zum freien kreativ-gestaltenden Wortwandeln mit Papier, Stifte, Schere und Kleber.
Am Dienstag, den 4. 10., geht es los. Montags bis freitags gibt Ellen Volkhardt Schreib- und Wortwandelimpulse von 11 bis 13 und von 15 bis 17 Uhr (außer 4. und 28. 10.). Jede zweistündige Einheit kostet 7 Euro pro Person (ggf. zzgl. Materialkosten).

Raum auf Zeit mit Ellen Volkhardt
in der Buchhandlung Mander
Schützeberger Straße 29, 34466 Wolfhagen
Info und Anmeldung: 0151-73001218
ellen-volkhardt-verlag.de


26. September 2022

Das Kurz-Rondell

Eine alte, neu entdeckte Gedichtform

Letzte Woche habe ich von der uralten Poetik in Stichworten berichtet. In dieser fand ich so viel, was ich nicht kannte (zur ,Entschuldigung‘ sei gesagt, dass ich nie Germansitik, Sprach- oder Literaturwissenschaft oder etwas Verwandtes studiert habe), und ich fand Dinge, die ich kannte, aber nicht einzuordnen gewusst hatte, wie z. B. das Kurz-Rondell. Der deutsche Dichter Georg Trakl hat eins seiner Gedichte so benannt. Es ist ein fünfzeiliges Rondell mit dem Reimschema ABbBA, das etwas von einem Kreisgebilde hat, denn die Zeilen 1 und 5 reimen sich nicht nur, sondern sind komplett identisch, ebenso die Zeilen 2 und 4.
Ich habe dieses Kurz-Rondell bisher als Verdichtungsmöglichkeit in meinen Kursen verwendet. Die Aufgabe war dann, zwei besonders bedeutsame Zeilen/Satzstücke aus einem eigenen Text herauszusuchen, sie als 1. und 5. bzw. 2. und 4. Zeile aufzuschreiben und die 3. mittlere Zeile als Verbindung neu zu schreiben.
Nun also kannst du so verfahren, wie eben beschrieben. Oder du machst ein Rondell ohne bereits vorhandene Fragmente. Ein passendes Thema könnte der Jahreskreis sein.

••••••••••••••••••••••••••••••
∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆
≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈
∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆∆
••••••••••••••••••••••••••••••


19. September 2022

Die Bücherkiste

Geschenkte Überraschungen

Vor einigen Wochen schrieb mich Beate S., eine Kollegin an, ob ich Abnehmer:innen für rund 20 Bücher aus dem Kontext Schreibdidaktik und -beratung habe, sie wolle sie verschenken, weil sie ihren beruflichen Schwerpunkt verändert habe. Ich zögerte, ich bat um Bedenkzeit. Schließlich schrieb ich ihr, sie solle mir alle schicken, ich würde sie verteilen – dachte dabei auch an einige meiner Schreibschüler:innen, denn manches der Bücher hatte ich natürlich selbst im Regal.
Und dann kam das große gelbe Postpaket. Sooo viele Bücher! Ich schloss meine Werkstatttür und umlagerte mich mit all den Schätzchen. Ein Gefühl breitete sich in mir aus wie früher am 1. Weihnachtstag: Es gibt nichts zu tun als mich durch Bücher zu lesen, halb oder viertel, dann ein anderes, dann noch ein anderes, dann wieder zurück zum ersten … Allein, es fehlte dieser Tage der bunte Teller mit Schokolinsen, zuckerperlenbstreuten Schokotalern und Marzipankugeln.
Ein paar Bücher werde ich verschenken, aber die meisten behalte ich doch selbst wie z. B. die deutsche Erstausgabe des Klassikers Kreativität von Mihaly Csikszentmihalyi (Stuttgart: Klett-Cotta 1997) oder eine uralte Poetik in Stichworten, aus der ich Spannendes erfahren habe über Strophen- und Gedichtformen, das ich noch nicht kannte (dazu mehr in der nächsten Woche), ganz zu schweigen von rhetorischen Mitteln.
Und Beate bekam ein Dankes-Paket voll mit Leckereien aus dem Niederkaufunger Bioladen – Schokolinsen waren auch dabei.


12. September 2022

Jedes Jahr im Herbst

Online-Schreibwerkstatt

Seit elf Jahren biete ich jedes Jahr im Herbst eine Online-Schreibwerkstatt an. Ich schicke Impulse, und in Paaren geben die Teilnehmenden sich Feedback. Am Freitag, den 16. 9., beginnt also nun der 12. Kurs, in dem es noch freie Plätze gibt. Hier Ausschreibung und Anmeldedaten:

Sie möchten oder können nur zuhause an Ihrem Schreibtisch schreiben? Das soll sich auch nicht ändern, aber drei Monate lang werden Sie digitalen Besuch der Schreiblehrerin erhalten! Vierzehntägig freitags erhalten die Schreibwerkenden per Mail zwei ausführlich beschriebene Schreib-Anregungen. Das Schreiben organisiert jede/r für sich. Nach jeweils einer Woche werden die entstandenen Texte an eine/n für die Dauer der Werkstatt feste/n Partner/in für ein Feedback zugeschickt. Am Ende der Schreibperiode gibt die Dozentin jeder/m Teilnehmenden Feedback auf einen ausgewählten Text.

Kosten: 64 € |  Anmeldung


5. September 2022

Mach Listen

Manche Listen machen gute Laune

Mach heute mal eine Liste, die dich aufbaut, nämlich:

10 Dinge, in denen ich wirklich gut bin
1. Listen schreiben
2. …
3. …
4. …
5. …
6. …
7. …
8. …
9. …
10. …

Posts zum Listenschreiben gibt es außerdem in diesem Blog unter folgenden Daten: 5. 12. 2016, 27. 3. 2017, 10. 4. 2017, 31. 7. 2017, 23. 10. 2017, 16. 12. 2019, 7. 6. 2021, 31. 1. 2022, 14. 2. 2022


29. August 2022

Oulipotische Contraintes V

Unendliche Dehnung

Das Verfahren, das ich hier beschreibe, habe ich schon in Schreibwerkstätten angewendet, als ich von OuLiPo noch nie etwas gehört hatte. Ein Beispiel dafür, dass ein konzeptionelles Prinzip der Oulipot:innen aufging: Die Verfahren, die die Gruppe erdachte und erdenkt (auf der offiziellen Website sind derzeit 149 beschrieben), sollten und sollen sofort vergesellschaftet werden.
Hier möchte ich nun ein Verfahren vorstellen und zur Anwendung empfehlen, das allein und auch zu zweit durchgeführt werden kann. Es heißt DEHNUNG.
Ein erster Text besteht aus zwei Sätzen, der erste ist der Anfangssatz und bleibt es bis zum Schluss, der zweite ist der Schlusssatz und bleibt es ebenfalls bis zum Schluss. Nun wird zwischen die beiden ein neuer Satz geschrieben, der sie miteinander verbindet, anschließend zwei neue zwischen den ersten und den mittleren sowie den mittleren und den letzten, anschließend vier neue zwischen die nun fünf existierenden, anschließend acht zwischen die nun neun existierenden usw.

Quelle: Mathews, Harry / Brotchie, Alastair (Hg.) (2005): OULIPO COMPENDIUM. 2. revidierte und aktualisierte Auflage. London/Los Angeles: Atlas Press/Make Now Press


22. August 2022

Verwerfungen mit Spielbällen

Ein lesenswerter Südtirol-Roman

Beim Aufräumen auf meinem Nachttisch fand ich Bücher, die dort schon seit Ewigkeiten zu liegen schienen, die Cover waren bereits sonnengebleicht dort, wo sie unten den über ihnen liegenden und ebenfalls seit Ewigkeiten nicht bewegten Büchern nicht verdeckt worden waren. Einige der ewig Liegenden entsorgte ich in der Zu-verschenken-Kiste, einige ordnete ich einfach ins Bücherregal ein – wie etwa ein Buch von Wolf Haas, das ich meine, schon dreimal angefangen zu haben, weil es mir aber von jemandem mir Wichtigen empfohlen worden war …
Ein paar Bücher blieben liegen, eins begann ich zu lesen und las es (wieder einmal nach einigen Durststrecken-Monaten ohne Rausch-Bücher erging es mir so) wie im Rausch. Das lag natürlich an der Geschichte und am Erzählstil, aber auch daran, dass ich plötzlich eine familiäre Seltsamkeit einordnen konnte, die mich als junge Jugendliche irritiert und die ich dann vergessen hatte.
Francesca Melandris Roman Eva schläft (2. Auflage, Wagenbach, Berlin 2018) spielt in Südtirol. Die Autorin erzählt eine Familiengeschichte im 20. Jahrhundert, die aufs Engste mit Südtirol (seit 1918 zu Italien gehörend) und dem Konflikt mit der Republik Italien vor allem zu Zeiten des deutschen und italienischen Faschismus und der Nachkriegszeit verbunden ist. Sie erzählt, wie eine Familie von Generation zu Generation bis in die 1990er Jahre zerrieben wird durch die soziokulturellen und politischen Konflikte, die in ihrer Heimat ausgetragen werden.
Meine Familie mütterlicherseits stammt nicht aus Südtirol, sondern aus der Lüneburger Heide – aber mein Opa hatte Freunde in Südtirol, und er sprach von ihnen, als wären sie Deutsche. Er engagierte sich vor, während und nach der NS-Zeit für deutsches Volkstum im Ausland, meine Mutter erzählt das, als könne man stolz darauf sein, mich gruselt schon der Begriff … Mich zur Südtirol-Thematik zu positionieren, traue und mute ich mir nicht zu – aber Francesca Melandri, die 15 Jahre in Südtirol gelebt hat, macht das auf eine wunderbar undogmatische und differenzierende Weise in ihrer Erzählung eines Mädchens ohne Vater in einer Provinz ohne Vaterland – so steht es auf dem Klappentext, auch hier ein kleiner Gruselschauer meinen Rücken hinunter, aber das Buch ist wirklich lesenswert!


15. August 2022

Etüdensommerpausenintermezzo

Eine kleine leichte Anregung aus Kolleginnen-Blogs

Durch das kollektive Documenta-Tagebuch lerne ich interessante neue Menschen kennen, vor allem auch wundervolle Schreiber:innen und Blogger:innen, so wie Katharina Kanzan eine ist. Ihr Beitrag zum Tagebuch ist am 6. August entstanden. Als ich in ihrem Blog stöberte, fand ich den Eintrag vom 17. Juli 2022 besonders anregend für die heiße Sommerszeit – und mit freundlicher Erlaubnis von Katharina Kanzan darf ich die dort gefundene Schreibanregung (die wiederum auf eine die Idee von Christiane S. zurückgeht, nun hier in leicht abgwandelter Fassung posten.

abc.etüden
Die Aufgabe besteht darin, mindestens 7 der 12 angegebenen Wörter zu verwenden sowie den Satz: „Wie wenig wir uns doch kennen.“

Was Katharina aus der Anregung gemacht hat, kann an Ort und Stelle nachgelesen werden.


8. August 2022

Ab nach Kassel

Schreiben auf/zu/in der documenta fifteen

Halbzeit – und ich habe längst noch nicht alles gesehen, macht ja nichts, dafür habe ich einiges schon mehrfach gesehen und vertextet. Und immer wenn ich das tue, sehe ich anders, verstehe ich wenigstens ansatzweise, finde ich einen Zugang, vertiefe, verfeinere meine Wahrnehmung. Keine neue Erkenntnis – aber immer wieder eine erstaunliche (ich neige dazu zu sagen: neue) Erfahrung.
Am 12. und am 25. Juli zum Beispiel war ich im Hübner-Areal in Kassel-Bettenhausen, einer der zahlreichen documenta-Ausstellungsorte und ausgesprochen reich – ,natürlich‘ mit Stift und Papier. Hier ein paar Kostproben meiner 2-Minuten-Schnapptexte:

Film (Fondation Festival sur le Niger): Jedes Kindchen, das auf den hölzernen Pferden reitet, ist gefeit vor Unglück. Jedes Kindchen, das gefeit ist vor Unglück, brich auf in ein genügsames Leben. Jedes Kindchen, das in ein genügsames Leben aufbricht, singt und tanzt und schüttelt die Rassel. Jedes Kindchen, das singt und tanzt und die Rassel schüttelt, versteht es, mit seinem Dämon zu sprechen.

Objekt atmende Erde (Patil): Ich sehe etwas atmen, Erde, die atmet, jemand schläft in der Erde und atmet, ich sehe die 30 Millionen, wie sie atmen, wie sie geboren werden und atmen, atmen, wie sie sterben, ich sehe und bin doch blind, blind wie eh und je und bis bis bis – das Atmen wird weiterleben, einfach

Film Smashing Monument (Ruangrupa): Okay, that’s all, let’s meet at a place, let’s collect some wood from the forest, let’s collect together, let’s meet at a place, let’s feed the fire, let’s go, let’s meet at a place and feed the fire with all, we’ve found, let’s meet, be careful, when you cross the street, let’s run through the rain, let’s run, let’s go and meet, you, yes, you too, with your blue shoes, follow the permission …

Objekt Moon Dog: Tagebuch eines Moon Dogs, 25. 7. 2022. Uahhh, ausgedient, ausgedient, kiloweise ausgedient, ich höre: kiloweise zu verbrennen, zu verschrotten, ausgedient, Freundlichkeit ausgedient, Größe ausgedient, uahhh, so also, aha, warte nur, warte, balde, balde ruhest auch du, warte nur …


1. August 2022

Händen und Bildern folgen

Eine Sequenz aus wildem Pantschen und Schreiben

Am vierten Tag der Kurswoche Grenzüberschreitungen (siehe Blogeintrag vom 25. Juli) – traditionell der sogenannte ,Kitzeltag‘ – arbeitete ich in einer Kleingruppe zum Thema „Fließen und Kontraste“.
Die Aufgabe war, mit Acrylfarbe ein Blatt im DIN A2-Format komplett zu füllen – wir hatten jede nur Schwarz und eine helle Farbe zur Verfügung – und als Werkzeug ausschließlich unsere Hände! Nach dieser wilden Pantscherei wechselten wir zum Schreibstift und schrieben 20 Minuten einen automatischen Text, in den die Erfahrung und das Entstandene sowie die Farben und unabsichtlich entstandenen Formen mit einfließen konnten – aber vor allem ging es darum, sich dem wilden Bilderstrom vor dem inneren Auge hinzugeben. In einem dritten Schritt fügte jede eine kurze Sequenz aus dem Text in das Bild – mit schwarzer Akrylfarbe und Pinsel. Und zum Schluss verfasste jede aus drei für sie bedeutsamen Wörtern einen affirmativer Satz.
Die Idee dieser Art des Kitzelns ist insofern aufgegangen, als alle Kleingruppenmitgliedern aus ihrer üblichen Gestaltungs- und ihrer üblichen Schreibweise herausgerissen worden sind und eine Idee bekamen, wie sie in Zukunft aus sich kraftvolle und/oder ungewöhnliche Bilder schöpfen könnten.


25. Juli 2022

Auf der documenta fifteen

Kreatives Schreiben und Gestalten

Seit gestern läuft der jährlich stattfindende Wochenkurs Grenzüberschreitungen – Kreatives Schreiben und Gestalten, den ich mit meiner Kollegin Yara León bereits zum sechsten Mal leite. Und es ist Documenta in Kassel – daran kann man ja nicht vorbei gestalten, dachten wir uns und luden die Gruppe ein, am zweiten Tag des Kurses, sich mit der documenta fifteen, ihren Grundgedanken und ihrer Kunst zu verbinden, sich berühren zu lassen und in einen Prozess des Ausdruckfindens zu gehen – wie es die 14 auf der 15. Weltkunstausstellung anwesenden Künstler:innen-Kollektive auch tun. Nach einer Einführung von mir in das zentrale Documenta-Prinzip LUMBUNG machte sich jede:r selbst auf den Weg, zunächst durch die Ausstellungsräume im Hübner-Areal in Bettenhausen. Wir gaben den Kursteilnehmenden drei Aufgaben mit auf den Weg, eine für den Gang von Werk zu Werk, eine fürs Verweilen und die letzte zum mutigen Teilen: Ein kleines Holzklötzchen – beschriftet mit einem Wort – sollte irgendwo im Documenta-bespielten Stadtraum hinterlassen werden. Ich wählte ein Treppenpodest um ruruHaus, dem ,Wohnzimmer‘ der documenta fifteen.


18. Juli 2022

„Als ich zum ersten Mal …“

Schreibwettbewerb der Zeitschrift SchreibRÄUME

Als ich die SchreibRÄUME aufschlug und las „Als ich zum ersten Mal …“, ging das Kopfkino los und hörte erst einmal gar nicht wieder auf. Das ist mal ein guter Anfang – ich könnte also schreiben, schreiben, schreiben – vom ersten Verliebtsein natürlich, aber auch von der ersten Ratte, dem ersten Nicht-Lächeln, der ersten Veröffentlichung. Und erinnernd weiterschreiben. Und eine Überarbeitung vornehmen – und dann den Text einsenden, zum Schreibwettbewerb der Zeitschrift SchreibRÄUME.
In der Ausschreibung heißt es: „Für die Entwicklung unserer Identität spielen sogenannte Pioniererfahrungen eine große Rolle. Wir alle haben eine Fülle kostbarer erster Male in unseren Erinnerungs-Schatztruhen: Premieren wie den ersten Schultag, die erste Wohnung, das erste Mal am Meer, das erste Mal auf einer Bühne, den ersten Kuss, die erste Lüge, die erste Trennung.“
Angenommen werden Kurzgeschichten, Flash Fiction, Autofiktion, Kurzmemoirs, Life Writing-Texte, Miniaturen, Personal Essays, Lyrikformen etc. Drei Preise werden vergeben: 300, 200, 100 Euro. Die Texte dürfen eine Länge von 10.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht überschreiten. Einsendeschluss ist der 31. 1. 2023. Beizulegen ist eine Kurzvita mit maximal 500 Zeichen. Die Texte müssen unveröffentlicht sein.
Einsendungen an: wettbewerb@schreibraeume-magazin.at


11. Juli 2022

Ungehaltene Frauen und …

… ihre bisher ungehaltenen Reden

Gern unterstütze ich den Schreibwettbewerb: Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen. Zum zweiten Mal lobt die in Kassel ansässige Brückner-Kühner-Stiftung diesen Wettbewerb aus, der sich am gleichlautenden Buchtitel der Kasseler Autorin Christine Brückner ausrichtet. „Wir laden alle Frauen ein, sich mit einer ungehaltenen Rede zu bewerben, um als eine von sechs Rednerinnen am 10. Dezember 2022, dem Tag der Menschenrechte, im Kasseler Rathaus das Wort ergreifen zu können.“
Die Ausschreibung und die Teilnahmebedingungen findest du hier.
Und das Buch von Christine Brückner ist übrigens nach wie vor eins meiner Allzeitlieblingsbücher!


4. Juli 2022

OuLiPotische Contraintes IV

S+n kreativ variiert

Letzten Montagabend habe ich in einer meiner Schreibgruppen eine Variante der Contrainte S+n versucht. Nachdem wir zuerst alle einen kurzen frei fließenden Text zum Thema Unsinn verfasst hatten, tauschten wir in einem zweiten Schritt jeweils die Nomen unseres Textes mit denen aus dem Gedicht Die Ameisen von Joachim Ringelnatz. Hier sind sie – für den Sebstversuch: Ameisen, Hamburg, Ameisen, Australien, Altona, Chaussee, Beine, Teil, Reise, Verzicht.
Falls du dich nicht vorher beeinflussen lassen willst, kannst du auch jeden anderen Text nehmen und die Nomen (oder Verben oder Adjaktive etc. gehen auch) aus einem deiner Texte mit denen aus dem gewählten tauschen. Witzig ist das Verfahren besonders in der Gruppe, wenn alle ihre Nomen mit denen aus dem gleichen tauschen.


27. Juni 2022

OuLiPotische Contraintes III

Altes neu entdeckt: S+n

Zurzeit bereite ich meine nächsten Veröffentlichungen in meiner Reihe 26+4 vor, eins der nächsten Hefte wird sich mit dem Thema OuLiPo befassen. So also habe ich wieder einmal die zahlreichen Verfahrensvereinbarungen hervorgeholt und das Verfahren bzw. die Contrainte S+n noch einmal ausprobiert. Um zu machen. Und um zu staunen: über die außergewöhnlichen literarischen Zufallsbilder, die entstehen, auf die ich ohne dieses Verfahren niemals gekommen wäre.
Das Verfahren – ich wähle S+7 – funktioniert folgendermaßen: Du nimmst einen deiner Texte und tauschst die Nomen (oder die Verben oder die Abjektive) mit jeweils dem Nomen, das im Rechtschreibduden an 7. Stelle nach deinem steht. Wenn du also das Nomen Krise in deinem Text stehen hast, ersetzt du es durch das Nomen Kristallisation, weil es an 7. Stelle hinter Krise steht.


20. Juni 2022

In Kassel ist Documenta und …

… ein kollektives Tagebuch entsteht

Das Inspirierende des Kollektivgedankens, die nachhaltige Idee von Lumbung, die Aufforderung: Hanging out, telling stories – drei wundervolle Motive der Documenta fifteen, die am Samstag eröffnet wurde. Dieser Sommer ist in der Region Kassel ein Documenta-Sommer, auf den ich mich sehr freue. Nicht nur, weil ich diese 100 Tage Weltkunstausstellung alle fünf Jahre genieße, sondern weil der Sommer ein Schreib-Sommer ist – auf jeden Fall für die 100 Menschen, die mitwirken am kollektiven Documenta-Tagebuch, das seit dem 18. Juni Tag für Tag um einen Eintrag wächst. Menschen zwischen acht und neunzig Jahren aus der Region Kassel und anderen deutschen Landen, aus dem europäischen Ausland und sogar aus Übersee werden im virtuellen Raum zum Schreibkollektiv. Das Tagebuch, initiiert und betreut von mir myself, wächst HIER.


13. Juni 2022

Bild und Text – Text und Bild

Plätze frei in kreativer Sommerkurswoche

Durch Stornierungen sind in der wunderbaren Sommerkurswoche Grenzüberschreitungen (Kreatives Schreiben und künstlerisches Gestalten), die ich zum sechsten Mal mit Yara León anbiete, Plätze frei geworden. Sie findet vom 24. bis 29. Juli täglich von 9.30 bis 16.30 Uhr in Kaufungen statt, sie kostet 400/450 Euro plus 120 Euro Verpflegungskosten.
Am Sonntag und heute haben Yara und ich unser bewährtes vorbereitendes Brainstorming am großen Tisch (dieses Jahr im Garten in Kaufungen, direkt am Kursort) veranstaltet – es war wieder erhebend, wie aus einem mäandernden Gespräch über das, was uns bewegt und reizt, zuerst ein Fokus, sodass Tagesthemen und schließlich konkrete Impulse entstehen und wie sich die Ideen zum Schreiben und die zum Gestalten irgendwo in der Juniluft verschmelzen und verzahnen … Und wie die Lust auf das gemeinsame kreative Tun mit der Gruppe von Minute zu Minute steigt … hier die Ausschreibung:

Wort und Bild: Grenzüberschreitungen (in Kaufungen)
Kirsten Alers (Schreibpädagogin) und Yara Semmler (Diplom-Designerin)
Eine Intensiv-Woche Kreatives Schreiben und Gestalten im Lossetal
24. bis 29. 7. 2022 (So bis Fr, täglich 9.30 Uhr bis 16.30 Uhr)

Die Umgebung, Kultur und Natur, persönliche Themen – Resonanzen im Inneren werden verarbeitet, es entstehen Prosastücke, Lyrik und experimentelle Texte genauso wie Bildnerisches mit Farben, Pinseln, Stiften, Schere und Kleber. Texte werden gestaltet, Gestaltetes wird vertextet. Grenzüberschreitungen zwischen Wort und Bild führen zu visueller Poesie, Collagen und vielem mehr. Die Kursleiterinnen führen ein in Techniken des Kreativen Schreibens und künstlerischen Gestaltens, leiten an zu grenzüber-schreitendem Arbeiten und begleiten die individuellen Prozesse. Vorhandene Materialien und Werk¬zeuge können mitgebracht werden. AnfängerInnen und Fortgeschrittene sind willkommen.

Ort: Wortwechsel Kaufungen, Raiffeisenstraße 15
Kosten: 400–450 € (nach Selbsteinschätzung) + 120 € (Mittags- und Nachmittagsverpflegung, Getränke); Anreise und Buchung der Unterkunft individuell


6. Juni 2022

Neue Contraintes II

Und noch mehr OuLiPotisches

Wenn man einen Titel mit einer (römischen) I setzt, muss auch einer mit einer II kommen, mindestens. Voilà, hier ist die zweite neu entdeckte Verfahrensvereinbarung.

Die Gefangene
Um das seltene Papier zu sparen (hinter der Wand bei Marlen Haushofer z. B.), willst du, die Gefangene, die Schriftzeilen so eng wie möglich halten, also möglichst viele auf ein Blatt bekommen. Zu diesem Zweck verwendest du nur die Buchstaben, die die Zeile oben oder unten nicht überschreiten (d. h. solche ohne Ober- und Unterlängen). Du hast also noch ein halbes Alphabet. Ausschließlich erlaubt sind der Gefangenen:
a ä à c e é è i m n o ö r s u ü v w x z (und weitere Akzentbuchstaben wie ç)
Noch sparsamer ist, dass eine zweite Gefangene sich sogar nur Buchstaben ohne Punkten oder Akzente erlaubt. So verwendet nur:
a c e m n o r s u v w x z


30. Mai 2022

Neue Contraintes I

Das OuLiPo-,Fieber‘ hält an

So ist es in der Tat: Das OuLiPo-,Fieber‘, meine Begeisterung für das Schreiben mit seltsamen Regeln, die Freude beim Schreiben und an den Ergebnissen halten an. Vor Jahren habe ich mir mal ein französischsprachiges Bilderbuch gekauft: Le Petit Oulipo. Einige Contraintes (Verfahrensvereinbarungen) kannte ich natürlich, Lipogramm,. Tautogramm, Monovokalismus usw. Ein paar habe ich mir trotz nur rudimentärer Französischkenntnisse erschließen können, aber für die meisten reichte das nicht aus. Nun habe ich am Wochenende die Erklärungen abgetippt und in eine Übersetzungsmaschine eingegeben. Und siehe da – ich fühle mich beschenkt! Neue Contraintes zum Ausprobieren. Die, die mich am meisten begeistert hat unter den Neuentdeckungen, möchte ich hier zum Ausprobieren vorschlagen:

Homosyntaxismus
Schreib Texte mit folgender festgelegter Reihenfolge von Namen, Verben und Adjektiven: NVNVANVAANNNVNNNVVNVNAVVNNNNN. Entliehen ist die Reihenfolge dem Beginn der Fabel Die Zikade und die Ameise des Jean de la Fontaine. (Ob du dir Artikel und Bindewörter zusätzlich erlaubst, entscheidest du selbst.)


23. Mai 2022

Hashtag-Reihung

Öffnung von Bedeutungsräumen I

#DIESDAS III ist ein Text von Franziska Holzheimer, der mit der fantasievollen Verschlagwortung in virtuellen Netzwerken spielt. Scheinbar wahllos reiht sie (mögliche? reale?) Hashtags aneinander – liest du den Text, am besten mehrmals und laut, öffnet sich ein reicher Bedeutungsraum. Als Funde-Collage gehört es in die Abteilung dessen, was Kenneth Goldsmith Uncreative Writing nennt.
Zur Nachahmung empfohlen.

Quelle: Franziska Holzheimer: #DIESDAS III. In: Die Poetry Slam Fibel (hg. von Bas Böttcher und Wolf Hogekamp), Satyr Verlag, 2015, S. 110


15. Mai 2022

Akrostrophe

Jenseits des Üblichen

Es ist gut, immer wieder einmal gut, aus dem gewohnten Schreiben herausgewiesen zu werden, aus dem Üblichen kreativ heraustreten zu dürfen. Im Grunde finde ich doch dadurch, dass ich mich in verschiedenen Stilen, in ungwohnten Räumen schreibend bewege, zu dem, was vielleicht das Eigene genannt werden kann. Diesem Prinzip folgt, was ich neulich als Akrostrophe kennen gelernt habe.
Du nimmst ein Buch aus deinem Regal, schlägst es irgendwo auf, liest nicht, was dort steht, sondern schreibst alle ersten Wörter, Zeile für Zeile, ab, setzt diese Wörter untereinander an den Rand deines Blattes. Auf einem linierten Collegeblock sind 30 Linien, du hättest also 30 Zeilenanfänge dort hinzuschreiben. Und dann schreibst du einen Text, bei dem die Zeilenanfänge nun schon vorgegeben sind. Ob eine zusammenhängende Erzählung, ein eher surrealistischer Text oder noch etwas ganz Anderes entsteht, entscheidest du selbst (oder es entscheidet sich durch dir Wörter).
Wenn du nur schlecht von dem absehen kannst, was du in einem Buch vorfindest, lass dir die ersten Wörter eines Textes, den du nicht kennst, von einer anderen Person geben.


9. Mai 2022

Anfangen und Freewriting

Neue Reihe zum Kreativen Schreiben gestartet

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne – aber nur, wenn der Anfang sich auch einstellt, materialisiert …“ – so beginnt meine neuste Veröffentlichung zum Kreativen Schreiben. Nach fast drei Jahren Konzipieren, Verwerfen, Recherchieren, Formfindung … sind nun die ersten beiden Hefte meiner Reihe 26+4 in der edition kreatives schreiben erschienen. 30 Hefte sind geplant.

Mit Heft a wie anfangen … geht es – erwartungsgemäß – los. Und auch Heft f wie Freewriting … ist gedruckt. Die anderen 28 Hefte folgen nach und nach. Jedes heißt nach einem der 30 Buchstaben des deutschen Alphabets (26 plus ä, ö, ü und ß). Die Hefte erscheinen in nicht chronologischer Reihenfolge. Jedes enthält auf 28 bis 36 Seiten ein persönlich-wissenschaftliches Essay, zum jeweiligen Fokus des Hefts passende und mir liebste Schreibaufgaben sowie literarische Beispieltexte, die meisten aus meiner Feder. Die Schreibaufgaben in Heft a stammen alle aus der Kategorie Listentexte. Die Schreibaufgaben in Heft f sind sogenannte Gerüstaufgaben, die sich zum Üben des freien bzw. loslassenden Schreibens eignen.
Jedes Heft kostet 9 Euro und ist sowohl bei mir als auch über den Buchhandel zu bestellen.

Kirsten Alers: a wie anfangen, wie Alphabet, wie allerlei. ISBN 978-3-935663-34-2 Kirsten Alers: f wie Freewriting, wie fließen, wie fantastisch. ISBN 978-3-935663-35-9


2. Mai 2022

Blütenstaubfragmente schreiben

Novalis – geboren heute vor 250 Jahren

Einer der führenden Poet:innen der Frühromantik, Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, wird heute gefeiert anlässlich seines 250. Geburtstages. Ich neige nicht dazu, diesen Jubiläen allzu viel Bedeutung beizumessen, aber weil es gerade heute passt … Novalis schrieb in den wenigen Jahren seines Lebens (er starb schon mit 28) recht viel Wegweisendes. Wegweisend für mich war die Entdeckung seiner Blütenstaubfragmente und die Bedeutung, die er selbst (wie auch andere Frühromatiker:innen) dem Fragmentarischen beigemessen hat. Ist nicht das Fragmentarische, das Bruchstückhafte, das Unabgeschlossene auch geeignet, um unsere Welt, das Nebeneinander unterschiedlichster Realtitäten abzubilden? Hier möchte ich vier seiner Blütenstaubfragmente dokumentieren (die sich übrigens inhaltlich und formal auch als Schreibanregung anbieten könnten).

1. Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.
9. Unser sämtliches Wahrnehmungsvermögen gleicht dem Auge. Die Objekte müßen durch entgegengesetzte Media durch, um richtig auf der Pupille zu erscheinen.
51. Jeder geliebte Gegenstand ist der Mittelpunkt eines Paradieses.
114. Die Kunst Bücher zu schreiben ist noch nicht erfunden. Sie ist aber auf dem Punkt erfunden zu werden. Fragmente dieser Art sind litterarische Sämereyen. Es mag freylich manches taube Körnchen darunter seyn: indessen, wenn nur einiges aufgeht.


25. April 2022

100 Tage | 100 Leute | 100 Texte

Ein kollektives Documenta-Tagebuch

Der Verein Nordhessischer Autorenpreis e.V. initiiert (in Kooperation mit Wortwechsel Kaufungen) nach sieben Schreibwettbewerben, die zwischen 2004 und 2019 durchgeführt und mit Preisverleihungen und Anthologien abgeschlossen wurden, in diesem Jahr ein literarisches Schreibprojekt, das ohne die Konkurrenzsituation eines Wettbewerbs auskommt: Zur documenta fifteen sollen 100 Menschen zum Schreiben auf und über die Weltkunstausstellung animiert werden.

100 Tage | 100 Leute | 100 Texte. Der Plan! An den 100 Tagen der documenta fifteen zwischen dem 18. Juni und dem 25. September schreibt jeden Tag ein anderer Mensch einen Tagebuchtext, der auf der Website des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V. erscheint. Am Mitwirken Interessierte müssen an einem Tag vor Ort auf der Documenta sein und noch am gleichen Abend ihren Text an den initiierenden Verein schicken. Es gibt keinerlei Genre-Beschränkungen, eingereicht werden können mäandernd-umkreisende Reflexionen, Prosa, Lyrik, Essays und experimentelle Texte aller Art. Abzugeben sind die Texte digital – sie können maschinell oder auch handschriftlich verfasst (und eingescannt) sein; eine Alternative ist eine Audio-Datei. Die Länge einer DIN A4-Seite (schriftlich) bzw. von 3 Minuten (akustisch) darf nicht überschritten werden. Wie in einem Tagebuch üblich, sind die Texte frisch, bleiben Rohtexte, sind persönliche Momentaufnahmen, zeigen Ausschnitte aus individuellen Blickwinkeln … Und so erscheinen sie dann auf der Website des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V. Ein spezieller kollektiver Documenta-Katalog mit 100 Seiten entsteht, sukzessive und nachhaltig …
100 Tage | 100 Leute | 100 Texte. Das Schreiben! Sich schreibend einer Sache zuzuwenden, ist etwas Anderes, als ,nur‘ zu schauen und zu lesen. Wenn ich schreibe, sehe ich mit den Augen einer Schrei¬benden, ich verweile möglicherweise länger bei einem Objekt, fokussiere meine Aufmerksamkeit, ver¬tiefe meine Auseinandersetzung beim Schreiben, generiere Erkenntnisse im umkreisenden Mäandern, schaffe mir einen persönlich-selbstbedeutsamen Zugang (und ein ebensolches Ergebnis) zu Gegen¬wartskunst. Nicht zuletzt ist Schreiben auch eine künstlerische Ausdrucksform, so also ruft der Verein dazu auf, im eigenen literarisch-künstlerischen Tun der bildenden Kunst zu begegnen.
100 Tage | 100 Leute | 100 Texte. Die Bewerbung! Interessierte wenden sich an Kirsten Alers, geben zwei oder drei Tage an, an denen sie vor Ort in Kassel sein und schreiben könnten, und erhalten dann die Bestätigung für ,ihren‘ Documenta-Schreibtag.

Kontakt: info@nordhessischer-autorenpreis.de
Kontaktperson: Kirsten Alers, 05605/926271


18. April 2022

Somnambules Schreiben

Automatisches Schreiben ausprobieren

Probiere es mal aus, das Automatische Schreiben, folge deinem Kopfkino, lass dich ein auf das somnambule, schlafähnliche Tun.
Die berühmt gewordene Anleitung zum Automatischen Schreiben stammt von André Breton, einem Protagonisten des Surrealismus, der das Automatische Schreiben, das zuerst bereits um 1900 als psychiatrische (Behandlungs-)Methode verwendet worden war, für die Bildende Kunst und das Schreiben entdeckt und nutzbar gemacht hat: auf der Suche nach dem unbekannten Leben, nach den inneren Bildern, nach den Schnittstellen zwischen Traum und Realität. Die Anleitung zur écriture automatique aus dem Surrealistischen Manifest von 1924 lautet folgendermaßen:

„Beschaffen Sie sich Schreibzeug, setzen Sie sich an einen Platz, wo Sie sich möglichst ungestört in sich selbst versenken können, entspannen Sie sich völlig, seien Sie ganz passiv und so hinnehmend und aufnahmebereit wie möglich! Lassen Sie sich nicht durch den Gedanken an Ihre etwaige Genialität beirren! Sehen Sie von Ihren eigenen und den Talenten aller anderen Menschen ab!
Sagen Sie sich eindringlich, daß die Schriftstellerei der trübseligste Weg ist, der zu allem führt! Schreiben Sie rasch nieder, was Ihnen einfällt, und besinnen Sie sich gar nicht auf ein Thema! Schreiben Sie so schnell, daß Sie sich überhaupt nicht versucht fühlen, vom schon Geschriebenen etwas behalten zu wollen oder es noch einmal durchzulesen!
Der erste Satz kommt Ihnen ganz von selbst. Wie es mit dem zweiten geht, läßt sich zwar schon schwerer sagen ... Doch machen Sie sich darüber keine Sorgen! Schreiben Sie einfach unentwegt weiter!
Verlassen Sie sich ganz auf die Unerschöpflichkeit des Wisperns, Raunens und Murmelns in Ihnen!
Und wenn dies doch einmal zu verstummen droht, etwa weil Sie über einen Schreibfehler stolpern ... oder ein Wort, das Sie schrieben, Ihnen äußerst befremdlich vorkommt, dann schreiben Sie einfach irgendeinen Anfangsbuchstaben, z. B. ein L, gerade immer nur ein L, und stellen die anfängliche Willkürlichkeit dadurch wieder her, dass Sie dieses L dem beliebigen Wort, was Ihnen sogleich in die Feder fließen wird, als Anfangsbuchstaben aufnötigen ...“ (Breton 1924 in Nadeau 1986: 64).

Quelle: Breton, André (1924): Manifeste du Surréalisme. In: Nadeau, Maurice (1986): Geschichte des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt


11. April 2022

Wortfigur

Anregung nach Gabriele Rico

Lange Jahre schon hatte ich dazu immer wieder einmal in meinen Schreibwerkstättem angeregt: frei und gegenstandslos kritzeln und Wörter kommen lassen. Durch eine bayerische Kollegin erfuhr ich, dass es dafür einen Namen gibt: „Wortfigur“. Erfunden oder zumindest doch ausführlich beschrieben hat das Wortfigur-Verfahren Gabriele Rico (bekannt durch ihr wunderbares Buch zur Cluster-Methode: Garantiert schreiben lernen). Wie eine Wortfigur entsteht und was daraus werden kann, erklärt sie in ihrem Buch Von der Seele schreiben (1999 erschienen bei Junfermann, Paderborn, das es leider nur noch antiquarisch gibt). Hier nun die Kurzfassung bzw. die Art, wie ich das Verfahren anleite:
Nimm dir ein großes Blatt und einen leicht laufenden Stift, beginn zu ,kritzeln‘, werde nicht gegenständlich und belass den Stift die ganze Zeit auf dem Papier, lass dich von Hand und Stift führen, schalte das Wollen sow eit es geht aus, du kannst auch die Augen schließen. Irgendwann im Laufe dieses tendenziell meditativen ,Kritzelns‘ stellt sich ein Wort ein (oder mehrere), lass den Stift auf dem Papier, schreib das Wort in dein ,Gekritzel‘ hinein, da wo es gerade hingesetzt werden will. Dieses Wort ist dein Saatwort, aus diesem heraus entsteht nun ein Text. Du kannst einen Freien Text gestalten oder in ein Freewriting oder Automatisches Schreiben einsteigen, wie es für dich passt. Lass die Saat keimen und wachsen und Früchte tragen.


4. April 2022

Mitgebracht

von der Insel

Alles Mögliche habe ich mitgebracht: zwei Dutzend Texte, Wind in den Haaren, Sand in den Schuhen, Aufladungen (manche over, sagte Dorothee), die Lust auf Wiederkommen, keine Muscheln, keinen Stein, keine Tasse mit Syltumriss. Eine großartige Woche Kreatives Schreiben mit einer wundervollen Gruppe liegt hinter mir.
Einen meiner Texte, geschrieben am Watt am Montagvormittag, möchte ich hier mit den Lesenden teilen (vielleicht over?).

Am Watt
Eine graue Linie begrenzt meine Sicht. Ich bin das Grau. Das Meer in mir, der Himmel in mir. Ein Möglichkeitsraum. Schwankendes Dünengras und unrhythmisch sich kräuselndes Watt. Eine Leerstelle mittig, aufgeladen mit Metaphorik. Über mir eine schwarz-weiße Möwe mit Krähengekreisch. Die große Kunst, das imaginierte Vielleicht auszuhalten.


28. März 2022

Auf der Ohrenweide

Hören, hinhören, zuhören

Ich bin auf Sylt. Es rauscht, braust, pfeift, raschelt, plätschert, grollt, sirrt … Ich bin unterwegs. Versuche einmal, nicht zu sehen, nicht hinzusehen, nicht zuzusehen, sondern zu hören, hinzuhören, zuzuhören, mich auf der Ohrenweide satt zu hören. Und genauer zu hören. Mehr. Differenzierter. Hierarchiebefreit. Wie unterscheidet sich das Rauschen der Wellen bei Flut von dem bei Ebbe, wie das Rauschen des Windes in der Kiefer an der Akademie von dem im Wäldchen zwischen Jugendseeheim und Lister Straße?
Geh nach draußen. Begib dich auf die Ohrenweide. Mach dir Notizen, notier die O-Töne auf deinem Weg, verharre schließlich an einem sehr stillen Ort, an dem die wahrnehmbaren Geräusche sehr zart sind, verharre dann an einem Ort, an dem die Geräusche sich überlagern und du dich anstrengen musst, die voneinander zu unterscheiden. Schreib einen Text, vielleicht einen mit Fragmenten, die alle beginnen mit „Ich höre …“.


21. März 2022

Welttag der Poesie

Mitbringsel vom Fuße des Brocken

In der Kasseler Buchhandlung in Wilhelmshöhe kann man sich heute ein Gedicht vom PoeTree pflücken. Ich serviere hier ein paar lyrische Versuche der letzten drei Tage, die ich auf der Jahrestagung des Segeberger Kreises im Harz am Fuße des Brocken im Kloster Drübeck verbrachte. „Ich hätte singen sollen … Jetzt: Lyrik“ war die Tagung überschrieben. Es ging also um Lyrik.
Ich verbrachte die drei Tage in einer wunderbaren Gruppe, in der wir sieben immer bildnerisches und poetisches Gestalten miteinander verbanden. In einer Sequenz, in der wir mit einer Wortfigur (nach Gabriele Rico) starteten, entstand dann nach dem Zeichnen und dem anschließenden Automatischen Schreiben folgendes Gedicht:

bleibt klein nicht das Kleine
B-A-C-H (zu singen)
der Gesang der winzigen Wasserwesen
breitet sich aus
in Mauerritzen und Spionagetunneln
B-A-C-H (zu singen)
der Gesang der winzigen Wasserwesen
verdichtet sich
zu Oberton- und Sternenclustern
B-A-C-H (zu singen)
der Gesang der winzigen Wasserwesen
nährt
Mitochondrien und das Myzel


14. März 2022

mир

Drei Wünsche frei

Stell dir vor, die hättest drei Wünsche frei – ein altbekanntes Märchenmotiv. Und wer hat sich nicht schon einmal vorgestellt, diesen Ring der Fee zu bekommen und ihn dreimal drehen zu dürfen? Was würdest du dir wünschen, hättest du drei Wünsche frei?
Übrigens bedeutet das Wort in den Überschrift Frieden auf Ukrainisch. In Lautschrift schreibt man es myr, ausgesprochen wird es in etwa meuir.


7. März 2022

Schreibwerkstatt online

in neuer und wundervoller Konstellation

Nachdem ich 2021 an einem inspirierenden Schreibprojekt meiner Kollegin Helen Perkunder und sie letzten Monat an meiner virtuellen Schreibwoche teilgenommen hatte, fragte sie mich, ob wir denn nicht mal zusammen … Und ich sagte sofort, ohne zu zögern: Ja! Eine Woche Schwangerschaft hat gereicht – und dann ist sie schon geschlüpft, unsere Schreibwerkstatt! We proudly present:

Sinneswandel
Kreative Schreibwerkstatt mit Kirsten Alers und Helen Perkunder (online)

Lasst uns zusammen mit allen Sinnen Texte von spontaner Schönheit schreiben! Wir schreiben mit Leichtigkeit das, was uns gerade in die Feder kommt. Texte im Moment. Weil im Kreativen Schreiben alles sein darf. Und nichts muss. Freies und gebundenes, autobiografisches und fiktionales Schreiben – Kreatives Schreiben eröffnet Möglichkeiten. Sich und der Welt schreibend Ausdruck verleihen. Über die Texte sich nah sein. Schreibend auf Probe handeln, um wesentlich zu werden. Machen wir uns auf den Weg, wandeln wir mit unseren Sinnen!
Die Schreibwerkstatt, geleitet von den Schreibpädagoginnen Kirsten Alers und Helen Perkunder, ist geeignet für Neugierige, Anfänger:innen und Schreibgeübte. Online, im deutschsprachigen Raum, kommen wir wöchentlich zusammen, schreiben, lesen uns das frisch Geschriebene vor, lassen uns beschenken mit konstruktivem Feedback. Es gibt keine Teilnahmevoraussetzungen außer: ein stabiler Internetzugang sowie ein Computer mit Webcam und Mikrofon. Geht mit uns auf den Sinneswandel! Wir freuen uns auf euch!

Leitung Kirsten Alers und Helen Perkunder (im Wechsel)
Termin 10 Abende, wöchentlich montags von 18 bis 20 Uhr;
Beginn: 25. 4., Ende: 4. 7. 2022
Ort im virtuellen Zoom-Raum
Kosten 150, 220, 250 Euro (inkl. 19% MwSt., nach Selbsteinschätzung)
Teilnehmende max. 10, min. 7
Infos + Anmeldung  Kirsten Alers (Kaufungen), Helen Perkunder (Berlin)
Anmeldeschluss 18. April 2022


28. Februar 2022

Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin

Dichten gegen den Krieg?

Sollen wir denn beten, tanzen, singen, dichten, während ein Krieg in Europa herrscht und Schlimmstes droht? In allen Kriegszeiten haben die Menschen wohl zwecks Analyse, Beschwörung und (Selbst-)Beruhigung geschrieben, gegen den Krieg ohne Waffen agiert – mit Mitteln, die einer anderen Logik als der der Mächtigen und deren Waffen folgen. „Stell dir vor, es ist Krieg – und keiner geht hin“ oder auch „Schwerter zu Pflugscharen“ – so stand es an manche Wand gesprüht, damals, zu Zeiten des Kalten Krieges, des Aufbruchs der Neuen Sozialen Bewegungen wie der Friedensbewegung in den frühen 1980ern. Und heute? Noch habe ich nichts Gesprühtes gesehen, noch kein Gedicht gelesen, das sich auf den aktuellen Krieg bezieht, aber als ich die Bilder sah von der ukrainisch-polnischen Grenze, hinter der die Männer zurückblieben, um hinzugehen, in den Krieg, da kam mir das folgende – zugegeben auch rollenspezifisch etwas antiquierte – Gedicht in den Sinn:

Fantasie von übermorgen

Und als der nächste Krieg begann
da sagten die Frauen: Nein
und schlossen Bruder, Sohn und Mann
fest in der Wohnung ein.

Dann zogen sie in jedem Land
wohl vor des Hauptmanns Haus
und hielten Stöcke in der Hand
und holten die Kerls heraus

Sie legten jeden übers Knie
der diesen Krieg befahl:
die Herren der Bank und Industrie,
den Minister und General.

Da brach so mancher Stock entzwei
und manches Großmaul schwieg.
In allen Ländern gab's Geschrei,
doch nirgends gab es Krieg.

Die Frauen gingen dann wieder nach Haus
zu Bruder und Sohn und Mann
und sagten ihnen: der Krieg sei aus.

Die Männer starrten zum Fenster hinaus
und sahen die Frauen nicht an ...

Und dann fand ich eine Initiative des Kärntner Autors und Verlegers Lojze Wieser (Wieser Verlag), grenzüberschreitend „trotz alledem“ zu sagen
Dichten wir gegen diesen Krieg, der gerade aufgrund seiner besonderen Bedrohlichkeit die Welt umtreibt, wie gegen jeden anderen!


21. Februar 2022

Im Elfchen-Rausch

Elf Elfchen aus elf gleichen Wörtern

Tatsächlich schreibe ich diese wirklich in keiner Schreibwerkstatt fehlenden Elfchen überhaupt nicht gerne. In meiner virtuellen Schreibwoche nun letzte Woche empfahl ich als Tagesessenz aber ein Experiment, das zu einem Elfchen führen sollte – und da ich ja immer mitschreibe, schrieb ich also Elfchen. Es sollten aus den Texten des Tages elf Wörter herausgepickt werden, aus denen dann ein Elfchen entstehen konnte. Ich pickte also folgende Wörter: Schatten, unten, rundherum, hungern, hellhörig, Wunder, weiß, wild, glimmen, unsagbar, vergangen/vergehen. Und nachdem ich das erste Elfchen schnell geschrieben hatte, dachte ich: Hm, jetzt fange ich aber mal mit der Farbe an, und schrieb noch eins und noch eins … Ich schrieb elf Elfchen, und jedes begann mit einem anderen der elf Wörter. Auch noch alle Wörter jeweils einmal als letzte zu verwenden – dazu reichten Ehrgeiz und Zeit dann nicht mehr. Hier nun die Ergebnisse aus dem rauschhaften Elfchen-Schreiben.

Schatten
unten weiß
rundherum unsagbare Wunder
wild glimmend, hellhörig hungernd
vergehend

weiße
wilde Wunder
unten glimmende Schatten
unsagbar hellhöriges Vergehendes rundherum
hungern

glimmendes
hungerndes Unsagbares
rundherum hellhörige Wunder
wildes Vergehen, unten weiße
Schatten

unten
hellhörig wundern
unsagbar wild hungern
Schatten glimmen rundherum, vergehen
weiß

rundherum
weiße Schatten
unsagbare Wunder vergehen
unten hungriges hellhöriges wildes
Glimmen

Wunder
glimmen rundherum
unsagbar wild hungernd
weiß vergehen unten hellhörige
Schatten

hellhörig
hungernde Schatten
vergehen unsagbar weiß
rundherum wilde Wunder, unten
glimmend

hungern
weiß, wild
unten, rundherum Schatten
unsagbar hellhörig glimmende Wunder
vergehen

wilde
unsagbare Wunder
rundherum weiße Schatten
unten vergeht hellhörig hungriges
Glimmen

unsagbar
hungrige Schatten
vergehen, rundherum Weiß
glimmende hellhörige wilde Wunder
unten

vergehende
Wunder unten
wilde Schatten rundherum
hellhörig glimmt unsagbar weißer
Hunger

P.S. Vielleicht ist es ja immer wieder das Serielle, das mich erfasst – und dann gehen eben auch Elfchen.

P.P.S. Kurze Informationen zum Elfchen-Schreiben:

Das Elfchen gilt als ,kleine’ Form des Sonetts. Joachim Fritzsche schreibt in seinem Buch Schreibwerkstatt (Klett, 1989, S. 101): „Wir verdanken diese Idee Jos van Hest (Autoren-fachschule Het Colofon, Amsterdam).“ Ein Elfchen besteht aus 5 Zeilen mit insgesamt 11 Wörtern ohne Reim (klassischer Aufbau):

1. Zeile 1 Wort= Farbe
2. Zeile 2 Wörter = Gegenstand, Person
3. Zeile 3 Wörter=  von Gegenstand/Person erzählen
4. Zeile 4 Wörter= von Gegenstand/Person erzählen, Ergänzungen
5. Zeile 1 Wort= Pointe, Quintessenz, Transzendenz


14. Februar 2022

Und noch einmal

Listen 2/2022

In Vorbereitung zu einer neuen Reihe von Veröffentlichungen zum Kreativen Schreiben (dazu demnächst mehr) befasse ich mich intensiv mit Listen. Und finde immer mehr Und immer neue Varianten. Und meine Begeisterung wächst. Heute möchte ich einen Listentext von einem der Meister des Listenschreibens empfehlen nachzuahmen.
Der Meister ist der Oulipot Georges Perec. In dem bezaubernden Bändchen Denken/Ordnen, das sehr anregend fürs eigene Schreiben ist, heißt ein Text „Zwölf Seitenblicke“. Die – natürlich – zwölf Textchen unter dieser Überschrift zeigen in Kürze Blicke auf Seitliches, auf nicht um Zentrum Stehendes, auf dennoch Merk-Würdiges. Und bleiben Fragmente. Und wirken im Zusammenklang, vielleicht wie ein Kaleidoskop.
Quelle: Georges Perec: Denken/Ordnen. Zürich/Berlin: diaphanes 2015/1985


7. Februar 2022

Das ganz andere Geschlecht

Mithu Sanyal zu Simone de Beauvoir

Ich weiß nicht, ob es gestattet ist, vielleicht ist es das nicht, aber ich erlaube mir, einen Text abzutippen, in Gänze, und damit meine Wertschätzung und Anerkennung zu zeigen. Einer Schriftstellerin und Essayistin zu zeigen, die bekannt und stark angefeindet worden ist – politisch und von der Literaturkritik – für ihren Roman Identitti (Hanser Verlag 2021): Mithu Sanyal. Ich fand den Roman genial, allein deshalb, weil ich, sobald ich dachte, jetzt habe ich es, wieder aus meiner gedanklichen Identitäts-Sicherheit herausgeschleudert wurde. Und dann hat sich also Mithu Sanyal in der ZEIT (1. 12. 2021) zu einer meiner allzeit liebsten und wertgeschätzten Schriftstellerinnen und Essayistinnen Simone de Beauvor geäußert. Hier kommt der Text.

Das ganz andere Geschlecht
Simone de Beauvoir hat auch der Gendertheorie den Weg bereitet. Aber was würde sie heute zu Transgender sagen?

Alles hängt an diesem einen Satz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ Um zu verstehen, warum die Interpretation dieser neun Wörter so entscheidend ist, muss man sich daran erinnern, dass die Frauenbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre untrennbar mit Simone de Beauvoir verbunden war. Zumindest im Westen. Im Osten las man Alexandra Kollontai und Clara Zetkin. Doch in der Vorwiedervereinigungs-Bundesrepublik wollten wir Simone nicht nur lesen, sondern leben. Ich kann mich an endlose unproduktive Stunden erinnern, in denen ich versuchte, beauvoirstyle in Cafés zu schreiben. Und erst die freie Liebe!
Aber hier geht es nicht um Sex, sondern um … sex, also um Geschlecht wie in Das andere Geschlecht. Beauvoirs Bestseller war Auslöser und Theorie der zweiten Welle der Frauenbewegung in einem. Wenn Simone de Beauvoir also sagen würde, dass trans okay ist, dann ist trans okay. Aber sagt sie das?
Beauvoirs Satz – damals noch in der früheren Übersetzung, „man wird zur Frau gemacht“ – war die Grundlage dafür, dass Geschlecht ausdifferenziert wurde in biologisches Geschlecht, sex, und soziales Geschlecht, gender, in das die Gesellschaft uns mit pinken Kleidern und Geschlechterstereotypen hineindrängt. Dann kam die Philosophin und Gendertheoretikerin Judith Butler und sagte, dass auch dieser Rest sex nicht biologisch sei und es keine Natur vor der Kultur gebe. Und die Feministinnen spalteten sich in zwei Lager, die sich beide durch Beauvoir legitimiert fühlen: die genderkritischen Feministinnen. Und die transinklusiven Queer-Feminist*innen.
Die Extremposition wird von Radikalfeministinnen wie Janice Raymond vertreten, für die Transsexualität eine Erfindung des Patriarchats ist, damit Beauvoirs Erkenntnisse zurückgenommen werden und wieder eine klare Geschlechterdichotomie etabliert ist: Man ist und bleibt, was man war und ist, also Mann oder Frau, Punkt. Doch auch weniger extreme genderkritische Feministinnen wenden ein: Wenn wir nicht mehr über Geschlecht – im Sinne von sex und nicht nur gender – sprechen können, wie können wir dann über Geschlechterdiskriminierung (sex-based oppression) sprechen?
Dagegen halten Queer-Feminist*innen die Tatsache, dass die Definition von Geschlecht selbst keineswegs konstant ist. Sie ändert sich radikal, wenn wir in die Geschichte blicken, und erst recht, sobald race ins Spiel kommt. Man muss nur an die Rede der schwarzen Bürgerrechtlerin Sojourner Truth denken: „Ain’t I a Woman?“ – „Bin ich etwa keine Frau?“ Als Truth diese Frage 1851 stellte, lautete die Antwort schlicht: Nein. Schwarze Frauen waren aus der Definition von Weiblichkeit ausgenommen.
Es gibt keine Erfahrung, die alle Frauen zu allen Zeiten überall teilen. Nicht einmal meine beste Freundin und ich erleben unser Frausein in derselben Form. Wenn Judith Butler also sagt, dass Geschlecht eine Performance ist, heißt das nicht, dass wir diese Performance frei wählen können, sondern nur, dass die Existenz der Essenz vorausgeht. Und das ist die Definition des Existenzialismus. Judith Butler ist nicht ohne Simone de Beauvoir zu denken. Aber ist Beauvoir ohne Butler zu denken? Denn Transgender ist ja auch für Feministinnen, die gerade nicht an eine weibliche Essenz glauben, ein Problem. Da hat man sich so viel Mühe gegeben, die Bedeutung von Geschlecht zu dekonstruieren – Sei einfach du selbst, egal welches Geschlecht du hast –, und dann kommen Transmenschen und sagen: Mein Geschlecht ist aber verdammt wichtig für mich, und ich kann nur ich selbst sein, wenn ich auch mein Geschlecht sein kann, und deshalb will ich, dass mein Geschlecht auch rechtlich anerkannt wird!
Fragt sich doch nur: Warum können wir das Konzept von Geschlecht nicht endlich auf den Müllhaufen der Geschichte schmeißen, und gut ist?
Dabei muss ich immer an den Genossen denken, der mir einmal erklärt hat, er sei dagegen, den Gender-Pay-Gap abzuschaffen, wir müssten doch besser das Geld abschaffen. Vielleicht ist Geschlecht ein wenig wie Geld. Wir mögen es falsch finden, aber es existiert in der Welt. Denn auch, wenn Geschlecht nur ein Konzept ist, ist es doch ein Konzept, das eine zentrale Bedeutung für uns hat. Eine so zentrale Bedeutung, dass wir ins einen Menschen nicht ohne Geschlecht vorstellen können. Wir nehmen Menschen erst wahr, wenn wir sie als Männer oder Frauen oder Inter oder Trans wahrnehmen.
Nun hat Simone de Beauvoir in ihren Texten zwar nicht über Trans geschrieben, weil es den Begriff damals noch nicht gab. Aber sie hat über Transzendenz geschrieben. Für Beauvoir bedeutet Transzendenz, in die Zukunft zu greifen, um Projekte zu verfolgen, die unsere Freiheit vergrößern. Das, was Frauen von Transzendenz abhält, ist das naturalisierende Konzept des „Ewigweiblichen“, das sie in einem Zustand von Immanenz hält.
Beauvoir hielt das Ewigweibliche für eine Lüge: diese männliche Fantasie von der mütterlichen inspirierenden schönen Natur aller Frauen. Frauen aber, die sich dem Konzept des „Ewigweiblichen“ entziehen, wird vorgeworfen, keine „echten Frauen“ zu sein. Ich bin davon überzeugt, dass Beauvoir heute schreiben würde: Transfrauen wird vorgeworfen, keine „echten Frauen“ zu sein, weil sie sich dem Konzept des „Ewigweiblichen“ entziehen.
Wir werden nicht als ein Geschlecht geboren, wir werden dazu, und manchmal müssen wir uns selbst dazu machen.


31. Januar 2022

Wieder einmal

Listen 1/2022

Nach wie vor finde ich das Listen- und das serielle Schreiben einfach genial! Zum Anfangen und Reinkommen, zum Ordnen und Merken, als Denkhilfe und Experimentier-Folie. Also stelle ich einmal mehr ein Verfahren aus dem großen Pool vor, das ich neulich auf der Suche nach etwas ganz Anderem (wieder)gefunden habe.
In seinem Duden-Ratgeber-Bändchen Mit dem Schreiben anfangen empfiehlt Hanns-Josef Ortheil das Verfahren „Der feste Posten“. Du suchst dir einen Platz an einem Fenster, aus dem du einen bestimmten Ausschnitt der Welt siehst. Dort schreibst du, jeden Tag, immer den gleichen Ausschnitt vor Augen. Ortheil formuliert die Schreibaufgabe so: „Schreiben Sie kurze Aufzeichnungen von Fensterblicken, in denen sie immer nur auf ein einziges Detail (Person, Gegenstand, Szene) fokussieren. | Schreiben Sie diese Auszeichnungen täglich, in einem bestimmten Zeitraum (mindestens aber einen Monat lang). Beobachten und notieren Sie, welche ,Geschichten‘ sich in diesem Zeitraum herausbilden. | Denken Sie darüber nach, wie diese Geschichten in einer Erzählung zusammenzufügen wären“ (Ortheil 2017: 120).

Wer mehr mit Listen und seriellen Texten arbeiten möchte, kann in diesem Blog zu folgenden Daten Anregungen finden, die meisten unter der Rubrik „Schreibanregungen“:
5. 12. 2016, 27. 3. 2017, 10. 4. 2017, 31. 7. 2017, 23. 10. 2017, 16. 12. 2019


24. Januar 2022

Unterwegs sein

Und schreiben, immer

„Wie schreibe ich moderne Prosa? Ein Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber“, so ist die letzte Seite überschrieben im einstigen Kultbuch Unterwegs von Jack Kerouac (1957 in den USA und 1968 in Deutschland erschienen, meine Ausgabe ist die von 1979, Auflage 129.000 bis 140.000 steht im Impressum). Ich habe das Buch nie ganz gelesen, weil ich bei jedem Anlauf wieder genervt war vom selbstverliebt-überheblichen und im Grunde antisozialen Macho-Road-Man (auch wenn mich natürlich vieles betört und anderes erwischt hat). Auf dieser letzten Seite 285 aber geht es ums Schreiben. Ich habe sie wiedergefunden und wiedergelesen, als ich nach etwas ganz Anderem suchte … Hier ist sie für dich, weil es eben doch ums Unterwegssein geht, immer und bestenfalls auch schreibend.

Wie schreibe ich moderne Prosa?
Ein Glaubensbekenntnis und ein technischer Ratgeber

Liste der unentbehrlichen Hilfsmittel
1 Geheime Notizbücher und lose Manuskriptseiten, die du zu deinem eigenem Vergnügen vollgekrit- zelt beziehungsweise wild vollgetippt hast. 2 Gib dich jedem Eindruck hin! Öffne dich! Lausche! 3 Versuche, dich nie außerhalb deiner eigenen vier Wände zu betrinken. 4 Sei in dein Leben verliebt! 5 Etwas, was du fühlst, wird die ihm eigene Form finden. 6 Sei immer blödsinnig geistesabwesend! 7 Schlage so tief, wie du schlagen willst! 8 Wenn du etwas Unergründliches schreiben willst, hole es aus dem Grunde deiner Seele empor! 9 Die unaussprechliche Vision des Individuums. 10 Keine Zeit für Lyrik, aber genau Bescheid wissen. 11 Visionäre Krämpfe durchzucken die Brust. 12 Auge haftet in träumerischer Entrücktheit an vor dir befindlichem Objekt. 13 Beseitige literarische, grammatische und syntaktische Hindernisse! 14 Mach es wie Proust: Gehe mit dem Schatz deiner Erfahrungen und Erinnerung hausieren. 15 Erzähle die wahre Geschichte der Welt im inneren Monolog! 16 Im Zentrum des Interesses leuchtet juwelengleich das Auge innerhalb des Auges. 17 Schreibe aus der Erinnerung und sei erstaunt über die Ergebnisse. 18 Geh immer vom Kern der Sache aus, schwimm im Meer der Sprache. 19 Finde dich mit Verlusten ab, und zwar für immer! 20 Glaube daran, daß die Konturen des Lesens heilig sind. 21 Es gilt, die Flut, die in deinem Inneren bereits unversehrt existiert, aufzuzeichnen! Ringe darum! 22 Denke nicht gleich an Worte, wenn du dich nur unterbrichst, um das Bild besser sehen zu können! 23 Bleibe jedem Tag auf der Spur. Sein Datum schmücke deinen Morgen wie ein Wappenschild. 24 Empfinde weder Angst noch Scham, wenn es um die Würde deiner Erfahrungen, deiner Sprache und deines Wissens geht! 25 Schreibe, was die Welt lesen soll worin sie genau das Bild sehen muß, was du dir von ihr machst. 26 Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten, eindeutig die amerikanische Form. 27 Sei des Lobes voll, wenn du in der frostig kalten, unmenschlichen Einsamkeit einen Charakter findest. 28 Komponiere wild, undiszipliniert, rein! Schreibe, was aus den Tiefen deines Innern aufsteigt! Je verrückter, desto besser! 29 Du bist allezeit ein Genie! 30 Autor und Regisseur irdischer Filme, vom Himmel finanziert und heiliggesprochen.

Jack Kerouac, Evergreen Review, New York 1959


17. Januar 2022

Das Schöne und das Biestige

Warum Ästhetik nicht immer hilft

Zu Weihnachten bekam ich zwei Bücher geschenkt, über die ich mich (zuerst) sehr freute, dachte ich doch: Klasse, endlich mal nicht irgendeinen Roman, den ich entweder schon kenne oder den ich sowieso nicht lesen werde. Sondern Bücher zum Thema Schreiben, die ich noch nicht kannte, von zudem von mir sehr geschätzten Autorinnen und in haptisch und optisch sehr ansprechende Aufmachung. Hach!
Ich bekam von Doris Dörrie Einladung zum Schreiben (Diogenes 2021), feines handliches Format, gebunden in rotem Leinen. Ich bekam von Silke Heimes ich schreibe mich gesund (dtv 2021), besonderes Zwischenformat mit in Gold geprägtem Titel. Ich strich über die Einbände – wie ich mich immer freue, wenn ich etwas Neues in Sachen (Kreatives) Schreiben in den Händen halte! Und ich schlug das erste auf, und ich schlug das zweite auf – und sank enttäuscht ins Sofaeck. Dutzende Seiten, auf denen ausschließlich Linien bzw. die modernen quadratisch angeordneten Pünkelchen zu sehen sind. Dazwischen kurze Textchen, Schreibimpulse.
Ich wusste sofort, dass ich niemals etwas in diese Bücher hineinschreiben würde. Ich wusste aber auch sofort, dass ich sie niemandem weiterschenken würde. Denn ich weiß aus Erfahrung, dass sie leer bleiben. Auch wenn der eine Titel mit dem Wort Einladung lockt und der andere mit dem Versprechen, sich gesund schreiben zu können (dazu könnte jetzt auch viel Kritisches angemerkt werden) – solche Bücher werden nicht zum Schreiben benutzt. Jedenfalls nicht zum Hineinschreiben. Das hat m. E. folgenden Grund:
Überall werden wunderschöne Kladden, Hefte, Papiere angeboten, die zum Schreiben einladen sollen. Das tun sie … auch. Vor allem aber halten sie sehr viele Menschen vom Schreiben ab. Da funkeln Pailletten auf dem leinenen Einband, da ist dieses schöne glatte (oder gar handgeschöpfte) Papier, da sind die vielen leeren Seiten … In solch ein kostbares Ding dürfen nur gewichtige Worte, kluge Sätze, auf ewig gültige Botschaften – das sagte mein innerer Zensor, als ich 13 war und ein quadratisches, in rotes Leder eingebundenes Tagebuch mit Schloss und mit sehr glatten, für Schönschrift mit Füller bestens geeigneten Seiten mit abgerundeten Ecken geschenkt bekommen hatte und meine ersten Tagebuchversuche machte. Und ich gab nach drei Tagen das Schreiben, das nicht direkt schulisch geforderte (Aufsätze) oder elterlich animierte (Reisetagebuch) oder kommunikative (Briefe an Oma und Opa) oder journalistische (Artikel für Alternativzeitungen) Schreiben für lange Jahre wieder auf. Als ich mit Anfang 30 wieder anfing, griff ich zum Schmierpapier (Fehldrucke, Makulatur etc.) – und schrieb schnell, strich aus, schrieb drüber und drunter und machte Sternchen und strich noch mehr und war beseelt wie nie bei irgendeiner Tätigkeit je.
Selbstverständlich sollte das Papier glatt sein und den Stift nicht am Fließen hindern. Auch kann es Spaß machen und hilfreich sein, mit dem Format zu experimentieren, denn ein DIN A3-Blatt wirkt anders als ein post-it-großes Zettelchen.
Die (materielle) Umgebung ist wichtig, aber nicht entscheidend. Einen idealen Ort, eine ideale Zeit, ein ideales Schreibgerät, ein ideales Papier, die idealen Stimulanzien (Kaffee, Schokolade, Joint) gibt es niemals, wie es tatsächlich manche Schreibratgeber suggerieren – und auch die beiden Bücher von Dörrie und Heimes. Wichtig ist, dass etwas in Fluss kommt, dass etwas zu Papier kommt, dass nichts hemmt – schon gar nicht das Psychologische, das durch die Ästhetik eben in unguter Weise angestochen werden kann.

P.S. Zum Sinn der Schreibimpulse in den beiden Weihnachtsgeschenkbüchern habe ich mich hier bewusst nicht geäußert.


10. Januar 2022

BLÜTENLESE 2021

Rückschau auf 365 Tage 2021

Täglich.
Ein Wort.
Wort. Des. Tages.
Essenz. Stellvertretung. Geschenk. Fundstück. Wiederentdeckung. Neuschöpfung.
Eine. Art. Tagebuch. Blütenlese.
Täglich. Eine. Blüte.

Das. Wort.

Im gerade zuende gegangenen Jahr habe ich nicht nur notiert, mit wem ich täglich Kontakt hatte (interessant – auch jenseits von Corona), sondern auch pro Tag ein Wort. Ein deutlich unaufwändigeres Projekt als 2020:366, dennoch wirklich spannend – zumal in der Rück- und in der Zusammenschau.
Interessierte finden die Sammlung BLÜTENLESE 2021 inklusive der gestalterischen Verarbeitung (auch gern als Anregung zur Nachahmung zu betrachten) unter dem Reiter SprachKunst auf meiner Website.


3. Januar 2022

Winzigkeiten

Eine Danksagung

Schon zum zweiten Mal (nach 2020) durfte ich auf 24 Schreibimpulse (vom 1. bis 24. Dezember) reagieren. Jeden Morgen in aller Frühe, wenn ich mein Mail-Programm öffnete, tauchte als erstes der aktuelle Impuls auf – ein neues Tagesgeschenk von Barbara Renner-Wiest aus München. Barbara und ich kennen uns seit fast zehn Jahren, als Schreibende, als Kolleginnen, als Am-Strand-Wandernde, als Schreibimpulse-in-die-Welt-Schickende. Auch ich habe ja tägliche Schreibimpulse versandt – Barbara und ich haben getauscht und uns über die manchmal ganz ähnlichen, aber meistens sehr weit auseinander liegenden Impulse. Ich habe an 21 der 24 Tage nach den Geschenkimpulsen nicht geschrieben, sondern gezeichnet (das hatte ich mir vorher vorgenommen). Dreimal aber entstanden Textchen, die nun hier zu lesen sind.

5. 12. Unscheinbar
Unscheinbar unterhalten wir uns untereinander, unentwegt unterhalten wir uns, über uns und Unglaubliches und Glaubliches, und um uns unterhalten sich unsere unausstehlichen uferlos unverschämten Usurpatoren, ein Umstand unfassbarer Unausweichlichkeit – um zu überleben, unterhalten wir uns unscheinbar untereinander, ursprünglich und unbeugsam und subkutan.

13. 12. Entdecke (d)einen Knoten

KNOTEN

 NOTEN
 NOTE
 NOT
 NO
  O

23. 12. Einen Zentimeter ist der Tag heute länger – was machst du damit?
VERGRÖSSERN
V E R M E H R E N
versüßen
verspeisen

Danke, Barbara! Auf bald und ein Neues!


27. Dezember 2021

Gastbeiträge

aus dem Schreibimpulsadventskalender II

Am 13. Dezember hatte ich bereits Texte aus dem Schreibimpulsadventskalender von drei EinsenderInnen gepostet. Heute will ich noch einmal einige mir zugesandte Texte teilen. Vielen Dank für die Zusendung.

Türchen 20: Gedicht Vor einem Winter von Eva Strittmatter

WINTERLIED
(von Katharina W.)

Stille
Licht
Ich
Nicht?

Türchen 21: 2. Impuls: Heute um 16.59 Uhr (MEZ) beginnt der Winter.

(von Katharina W.)

Pssst!
Heute, 16.59 Uhr (MEZ)
Der Winter beginnt.
Also jetzt gleich.
In vier Minuten.
Freue dich!

Türchen 23: Foto eines Zweigleins, Titel: Baum steht

(von Katharina W.)

Baum steht.
Kerze brennt.
Tee dampft.
Hektik weicht.
K. schreibt.
Hoffnung keimt.


20. Dezember 2021

Das Maus-Prinzip

Adaption des Lexikonspiels II

Im Blogeintrag vom 29. November regte ich dazu an, das bekannte Lexikonspiel zu adaptieren und eine Definition eines zunächst unbekannten, eventuell ausgestorbenen Wortes zu verfassen. Heute nun möchte ich dazu anregen, solch ein ausgestorbenes oder sehr ungebräuchliches Wort zu erklären – und zwar für die Sendung mit der Maus. In dieser werden Tätigkeiten oder Dinge oder eben Begriffe (so meine Idee) kindgerecht vorgestellt. Christoph stellt etwas vor, Armin erklärt und kommentiert aus dem Off. Ein Beispieltext von einer meiner Schreibschülerinnen aus der Frauenschreibwerkstatt am Donnerstagmorgen, Sanne H.:

Federkauen
Als das Wünschen noch geholfen hat, schrieben die Menschen noch nicht mit Kuli oder Computer. Die gab‘s da noch gar nicht. Die Leute hatten Federn, mit denen sie schrieben – so wie Christoph – der zeigt uns das mal.
Christoph hat heute seinen grünen Pullover nicht an, stattdessen ist er angezogen wie die Leute damals: [Bilder von Frauen und Männern durch die Zeiten werden gezeigt/imaginiert] Hier seht ihr, wie sie angezogen waren: auf jeden Fall mit Hüten, Frauen mit Rock-bis-zum-Boden, Männer manchmal mit Pluderhosen bis zum Knie und Strumpfhosen oder mit einer Jacke, die auch ein bisschen wie ein Rock aussieht. Also: Die Leute sahen anders aus, haben sich anders angezogen.
Es gab auch keine Autos und keine Telefone oder Computer. Wenn die Leute sich etwas mitteilen wollten, konnten sie nicht einfach anrufen oder SMS schicken oder mailen. Sie konnten sich noch nicht mal ins Auto setzen oder in den Zug oder ins Flugzeug, um die andere Person zu treffen und ihr direkt zu sagen, was los ist. Wie ging das dann?
Angenommen: Christoph will seiner Freundin Nola mitteilen, wie es ihm geht und was er heute erlebt hat. Dafür braucht er Papier. Kennt ihr alle: Ihr malt darauf, Bücher sind aus Papier und die Brötchentüte auch (es sei denn, ihr geht mit einem Stoffbeutel zur Bäckerin). Das Papier aus der Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, ist ein bisschen anders – aber das erklären wir euch ein andermal …
Christoph will also auf dem Papier einen Brief an Nola schreiben. Was nimmt er als Schreibgerät? Füller und Kuli nicht und Computer nicht und Filzstift nicht – das gab es alles noch nicht (haben wir schon gesagt). Was gab‘s denn dann?
Christoph – was nimmst du?
Eine Feder …
Ja doch, wirklich: eine Feder. Such dir mal eine.
Nee ja, so eine kleine ist wunderbar weich und flauschig, aber zum Schreiben zu labberig. Such mal weiter.
Eine Taubenfeder oder eine Möwenfeder– ja, das ist schon besser. Hier ist eine Gänsefeder, oder ein ‚Gänsekiel‘ (wie man es nennt) – versuch‘s mal mit der. Äh ja – aber wie soll ich jetzt schreiben?
Christoph – du brauchst natürlich auch noch Farbe, Tinte.
Du hast jetzt also Papier, eine Feder und ein kleines Glas mit Tinte (das Glas nennt man übrigens Tintenfass, obwohl es so klein ist).
Jetzt tunkst du die Feder vorsichtig … Halt, Christoph, nicht das weiße fiederige Ende, das dicke stipperige Ende. Das musst du noch eben anschneiden, schräg, so dass eine Spitze entsteht, ja – genau so eine schräge Spitze wie bei deinen Lieblingsnudeln – den Penne. Mit der Spitze kannst du auf dem Papier Linien ziehen und zeichnen.
Christoph, tunk doch nochmal ein – ganz langsam, damit wir gut zugucken können.
Jetzt seht ihr: Die Feder ist innen hohl. Wenn Christoph die Feder in das Tintenfass stippert, läuft ein bisschen Tinte in die hohle Feder … Versuch mal zu schreiben …
Oh, das kleckst ganz schön, also üb noch ein bisschen: Kreise und Kringel, Rechtecke und Schleifen und Striche und Punkte … Hejejej – und immer Klekse … Das ist nicht so ganz einfach.
Versuch‘s noch mal. Na – geht doch schon ganz gut
Was wolltest du eigentlich? Wolltest du nicht einen Brief an Nola schreiben?
Du kannst loslegen. [Christoph sitzt da und kaut an der Feder.]
Christoph, was ist? Weißt du nicht mehr, was du schreiben wolltest? Hej, du bist ja ein Federkauer!
Du musst dich beeilen, die Postkutsche nimmt den Brief mit; aber sie wartet nicht. Und wenn du die Postkutsche verpasst – die nächste fährt erst in einer Woche …

  • Anm. Laut Wikipedia gab es ‚Bleistifte‘ schon im antiken Ägypten; ab Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts gab es dann Metallfedern.

Du kannst z. B. forkeln nehmen, es meint aufspießen, wie der Hirsch es mit seinem Geweih im Kampf macht. Du kannst auch mappieren nehmen, es meint eine Landkarte erstellen.


13. Dezember 2021

Gastbeiträge

aus dem Schreibimpulsadventskalender

Wie im letzten Jahr habe ich einen Adventskalender aufgelegt: 24 Türchen, hinter denen sich täglich Schreibimpulse verbergen (mit oder ohne Schokolade zu genießen). Und ich habe angeboten, dass ich ein paar der entstandenen Texte hier posten könnte. Das soll nun geschehen. Vielen Dank an die EinsenderInnen.

Türchen 1: Paul Klees Buchstaben-Gedicht
mit den darin verstreuten Worten „So fang es heimlich an“

Fang an
(von Christina D.)

Fang (2) heimlich (4) an (5), so (1) wie ich es (3) schon immer mache.
Ohn viele Wort, ohn Zerren und Gemache.
Setz Wort an Wort und warte auf den Sinn,
und während ich so wart, verläuft der Sinn am Kinn.

Tropft auf das Blatt, das vor mir weiß noch lieget
und sich in aller Unschuld schamlos wieget.
Doch weiß ich schon, was es von mir bald krieget.
Ein übler Plot, ein’ Dirn und eine Zieget.

So wird das nix, denk ich vorm jetzt schon grauen Blatte,
Was dort so steht, haut niemand von der Matte.
Ich sollt den Plot doch besser tun in Watte
und dieser Fiesen eines mit der Latte

auf ihren Deetz drauf geben, dass sie kreische
und ich sie rasch als Polizei erheische
und aus der üblen Unke wird ne Weiche,
das dürfte wohl die Leser schier erheitern.

Denn die Moral vom Lesen von Geschicht
ist, dass der Leser liebt das recht Gericht.
Liebt Einen oben, der für Ordnung sorgt
und klar tut sühnen jeden üblen Mord.

Oje, was »tut« es da in diesem meinem Texte?
So wird das nix mit Stil und Zauberhexe
wie man das glatte Texten wohl auch nennt.
Ich glaub, so wird das nix, ich hab die Kunst verpennt.

Türchen 2: Die ersten drei Sätze
aus Ilse Aichingers Kurzgeschichte Wo ich wohne

Nach unten
(von Christina D.)

Du sinkst und singst als wär’s das große Glück
als hättest Du das erste Los gezogen,
jetzt wo du Dir’s gemütlich machst im zweiten Stock,
als ob der dritte Dir nie war gewogen

so wie der Zweite. Doch bedenke nur
Du wärest droben blieben
wir beide wie schon Jahre Flur an Flur
und hätten uns an unsrer Wand gerieben.

Geträumt hab ich davon, dass Wände fallen,
und wir die Hände reichen überm Topf.
Jetzt sitzest du ein Stockwerk tiefer.
Ich trampel Dir dafür jetzt auf dem Kopf.

Türchen 3: Andersweiß, Bittergrün, Chamäleonfalb, Drängelpink …

(von Thorge M., 9 Jahre)
… Eselgrau, Froschgrün, Giraffengelb, Hasenbraun, Igelschwarz, Jaguarflecken, Kamelcaramell, Lamaweiß, Minzgrün, Neonorange, Otterbraun, Pinguinfrack, Quarzstein, Reisweiß, Schimmelgrün, Tintenfischblau, Untergrundbahn, Vogelflug, Winterweiß, Xeriongrün, Yak, Zebraschwarzweiß

(von Anonyma)


6. Dezember 2021

Wiedergelesen 1

Anaïs Nins Tagebücher

1980 las ich sie zum ersten Mal, die Tagebücher der Anaïs Nin. In der Straßenbahn zu meiner Praktikumsstelle in der Gesamtschule Köln-Holweide. Stehend, weil die Bahn morgens immer voll war, einen Arm um eine Stange geschlungen, das Buch nah am Gesicht, weil ich so kurzsichtig und das Bahnlicht so schummerig war, aber auch, weil ich mich lieber ins Buch und zu ihr, die schon nicht mehr lebte (1903–1977), gebeamt hätte, als mich in diese angebliche Vorzeige-Schule, die mir doch wie eine der brutalsten Anstalten vorkam und nach einem Semester den Entschluss reifen ließ, niemals Lehrerin an einer Regelschule werden zu wollen. Aber zurück zu Anaïs Nin und dem Wiederlesen.
Damals las ich von einer mutigen, lust- und experimentierfreudigen Frau, erotisch-sexuell mutig, lust- und experimentierfreudig – vor allem diesen Aspekt sog ich auf und hob sie, diese wundervolle Person, neben Simone de Beauvoir auf meinen persönlichen Vorbilder-Olymp. Und wandelte mich, mit ihr, mit ihren Tagebüchern als Elexier im Rucksack.
Und nun las ich die Tagebücher erneut – und las ganz andere Tagebücher … Nein, so kann ich das nicht sagen … Ich las die gleichen Zeilen, aber ich las sie als eine Gewandelte, las sie nicht mehr als die 19-Jährige, die ich damals war, las sie als 61-Jährige und als Schreiblehrerin. Und fand Anderes, was mich anfasste: die besondere Art der Autofiktion, die Ausführungen über das Schreiben … Und ich erneuerte meinen Vertrag mit Anaïs – allerdings ist mein Olymp längst Geschichte, ich habe eine Tafelrunde gegründet, in der ich mich von Zeit zu Zeit mit wundervollen Frauen treffe: Simone ist immer dabei, Rosa, Friederike, Toni, Etel und Andere von Zeit zu Zeit.

Ein Stück, das ich fand beim Wiederlesen:
Wir schreiben […], um unser Bewusstsein vom Leben zu vertiefen […]. Wir schreiben, um das Leben zweimal zu kosten: im Augenblick und in der Rückschau […]. Wir schreiben, um unsere Leben zu transzendieren, um daraüber hinauszugreifen. […] Wir schreiben, um unsere Welt zu erweitern, wenn wir uns stranguliert fühlen, eingeengt und einsam.
Quelle: Nin, Anaïs (1974): Tagebücher 1947–1955. Frankfurt/Main: S. Fischer: S. 214

P.S. Und hier noch die Übersetzungen der Begriffe, die ich am 29. 11. für das Lexikonspiel vorgeschlagen habe, sie sind heute nicht mehr gebräuchlich, sozusagen ausgestorben wie Säbelzahntiger oder Dinosaurier.

  • mappieren: Landkarten entwerfen
  • kaudern: Zwischenhandel treiben, auch: mäkeln
  • aushosen: der Flachs host sich aus, wenn er die Wurzelhülsen fallen lässt
  • heunen: heulen, bellen wie Wolf und Fuchs


29. November 2021

Die überzeugendste Definition

Adaption des Lexikonspiels

Vielleicht hast du früher auf Familienfeiern auch so gern das Lexikonspiel gespielt. Das geht so: Reihum sucht eine Person aus einem Fremdwörterlexikon einen Begriff heraus, den möglichts niemand kennt; alle schreiben eine Fantasiedefinition, die, die allen überzeugendsten erscheint, ,gewinnt‘.
Hier geht es ja nicht ums Gewinnen, sondern ums lustvolle Kreative Schreiben – und manchmal macht es einfach Spaß, etwas vollkommen Ersponnenes zu Papier zu bringen. Schreib also – als Adaption des Lexikonspiels sozusagen – eine Definition wie in einem Fremdwörterlexikon oder auch gern umfangreicher von einem der folgenden Begriffe: mappieren, kaudern, aushosen oder heunen.
Die Begriffe stammen aus dem Grimm’schen Wörterbuch, das Jacob und Wilhelm Grimm 1838 begonnen haben und das 1961 als vollendet erklärt wurde.
Wenn du die Definitionen geschrieben hast, kannst du die tatsächliche Bedeutung natürlich nachschauen; ich werde sie im Eintrag am 6. Dezember 2021 ebenfalls liefern.


22. November 2021

Schattenseiten

Anmerkungen zur Freiberuflichkeit 1

Eigentlich hadere ich selten. Nun, ich hadere schon hin und wieder mit allem Möglichen (z. B. mit Wänden, gegen die ich anrenne), aber ich hadere selten mit meinem freiberuflichen Dasein. Seit ungefähr anderthalb Jahren hadere ich allerdings zunehmend öfter.
Ich weiß gar nicht, ob hier die richtige Stelle ist, aber jetzt habe ich beschlossen, dass sie es ist, um mein Hadern (oder Jammern oder Stöhnen) öffentlich zu machen. Um zu zeigen, welche Schattenseiten ein meistens doch so entzückendes freiberufliches Dasein haben kann.
Es sind fünf Kompaktkurse ausgefallen, von denen nur einer kompensiert werden konnte – aber bis alles geklärt war in Sachen Geld, hatte ich Dutzende Stunden insbesondere mit Kommunikation, aber auch mit Rückerstattungen verbracht, die mir keinE SekretärIn abnahm. Unbezahlte Arbeit zusätzlich zu mehreren tausend Euro, die ich nicht eingenommen habe.
Jetzt 2G – eigentlich bin ich damit einverstanden. Aber ich bin es so leid, immer wieder Neues kommunizieren und Diskussionen führen zu müssen, dazu gezwungen zu sein, auch weil Menschen sich so verhalten, wie sie sich eben seit Monaten massenhaft sagenhaft uninformiert und irre leichtsinnig und brutal egozentrisch verhalten. Zum Schluss für heute etwas auch Positives: Ich könnte jetzt Zoom-Fortbildungen anbieten.


15. November 2021

Meine Biografie hinterlassen?

Die ,weichen‘ Faktoren beim (Ver-)Erben

Vor Kurzem ist das Buch „Achtsam (Ver-)Erben“ erschienen. Silke Gronwald und Almut Siegert von der Edition Ten Talks haben es initiiert und verlegt. Wie der Name Ten Talks vermuten lässtm befinden sich im Buch zehn Gespräche mit ExpertInnen – eines davon wurde mit mir geführt. Als Schreibpädagogin. Wir sprechen über das autobiografische Schreiben. Die Fragen, was ich warum vererben will aus meiner Lebensgeschichte und was ich vielleicht lieber mit ins Grab nehmen sollte, aber auch, wie und warum ich mir selbst gegenüber Rechenschaft ablegen möchte, stehen im Mittelpunkt. Immmer wieder auch berührt wird der Aspekt des heilsamen Schreibens.
Wer sich ansonsten noch geäußert hat, verrät der Klappentext:
„Trauer, Verzweiflung, Neid und Wut: Wenn im Erbfall die Emotionen hochkochen, entwickeln sich oft schwere Familienkonflikte. Jahrzehnte alte Rechnungen kommen auf Wiedervorlage.
Vielleicht zeigt sich im Testament des Vaters wieder einmal die dysfunktionale Familienstruktur, unter der man ein Leben lang litt. Oder Geschwisterfehden aus Kindertagen brechen nun mit ungeahnter Wucht wieder aus. Manche Erbstreitigkeiten nehmen einfach kein Ende, weil einer oder alle Beteiligten sich ungerecht behandelt fühlen. Wie gehe ich mit solchen Konflikten um? Lassen sie sich sogar vermeiden? Wie verstehe ich die Gefühle besser, die hinter Schriftsätzen oder Sachargumenten stehen? Wie vererbe ich selbst nicht nur Geld und Gold, sondern auch Familienfrieden? Wie sieht mein emotionales Erbe aus, das ich hinterlasse?
In zehn ausführlichen Interviews geben rennomierte Fachanwälte für Erbrecht, Psychologinnen, Mediatorinnen und Soziologen qualifizierten Rat. Sie beantworten die wichtigsten Fragen zum klugen Erben und Vererben. Sie erläutern, was ein gutes Testament ausmacht. Wie Gerechtigkeit funktioniert. Sie zeigen auf, wie man Erbkonflikte auch mit schwierigen Menschen lösen kann – und genauso: wie man selbst Abstand gewinnt und nicht verbittert.“

„Es gibt Dinge, die sollen mit ins Grab gehen“. Die heilsame Kraft des autobiografischen Schreibens (Gespräch mit Kirsten Alers, S. 151–167). In:
Gonwald, Silke / Siegert, Almut (2021): „Achtsam (Ver-)Erben“. Von Geschwisterzwist, alten Rechnunben und ungerechten Testamenten – ein psychologischer Wegeweiser durch die Untiefen des Erbens. Hamburg: Edition Ten Talks. ISBN 978-3-00070150-4, 14 Euro


8. November 2021

Schreibaufruf

zum kollektiven Tagebuch 2021

Sehr gern annonciere ich hier den Schreibaufruf des Tagebuch- und Erinnerungsarchivs Berlin:

In vielen Ländern der Welt wird schon über viele Jahre ein Großmuttertag als Ehren- und Gedenktag begangen. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird seit dem Mauerfall jährlich am 12. November ein Oma-Opa-Tag gefeiert. Dieser hatte in der DDR bereits Tradition und geht zurück auf eine Initiative der Kinderzeitschrift „Bummi“.
Neben Eltern und Geschwistern gehören Großeltern oft zu den wichtigsten Bezugspersonen für Kinder. Wir alle haben Großeltern. Welche Erinnerungen haben wir an sie? Welche Erlebnisse sind uns in Erinnerung geblieben? Oder hat dieser Feiertag vielleicht auch gar keine besondere Bedeutung für uns?
Wir haben uns als neues Team des Tagebuch- und Erinnerungsarchivs Berlin e.V. diesen Tag herausgesucht und bitten Sie darum, Ihre Gedanken an diesem Datum auf Papier zu bringen und uns zuzusenden.
Das „Kollektive Tagebuch“ ist eine besondere Form des individuellen Tagebuchschreibens. Alle interessierten Diaristen schreiben an einem bestimmten, vorgegebenen Tag ihre Gedanken und Reflexionen auf. So sind seit 2003 bereits acht kollektive Tagebücher in gebundener Form entstanden und werden immer wieder gerne gelesen. Wir greifen mit Freude die Tradition von Karin Manke-Hengsbach auf, die diese Art des gemeinsamen Tagebuchschreibens berlinweit ins Leben gerufen hat.
Der auserwählte Schreibtag ist nun der offizielle Oma-Opa-Tag, der 12. November 2021.
Bitte senden Sie uns Ihren Text bis zum 12. 12. 2021 per E-Mail an
vorstand@tea-berlin.de
oder per Brief an
Tagebuch- und Erinnerungsarchiv Berlin e.V. c/o Sabine Musial, Güldenauer Weg 44, 12555 Berlin


1. November 2021

Die alte Leier – und die Erde schreit

Schreib eine Rede an den UNO-Klimagipfel

Vielleicht hast du es noch im Ohr: Beim UNO-Klimagipfel in New York 2019 hat Greta Thunberg PolitikerInnen aus aller Welt eklatantes Versagen vorgeworfen. „Menschen leiden. Menschen sterben. Wir befinden uns am Anfang eines Massen-Aussterbens, und alles, woran ihr denken könnt, sind Geld und Märchen von ewigem Wachstum. Wie könnt ihr es wagen!“, sagte sie, damals noch 16, voller Wut und Überzeugungskraft. Zurzeit sitzen wieder hunderte Mächtige der Welt zusammen, um – ja, um was?
Das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen, ist utopisch, es geht immer noch vorrangig um Geld und Wachstum rund um den Globus, der Regenwald wird immer noch abgeholzt, der Plastikteppich im Meer wächst weiter, AKWs gelten neuerdings (wieder) als saubere Energie – schreiben möchte ich … oder vor dem derzeit in Glasgow stattfindenden UNO-Klimagipfel reden! Der Papst hat es schon getan und die Delegierten aufgefordert, den „Schrei der Erde“ zu tun (den Papst habe ich noch nie zitiert, mit diesem Zitat ist es vertretbar).
Schreib eine Rede, die du gern dort halten würdest – vielleicht schickst du sie an die deutsche Delegation in Glasgow.


25. Oktober 2021

„Ich zweifle, also bin ich“

Friedenspreis für Tsitsi Dangarembga

Mit dem Zitat „Ich zweifle, also bin ich“ trifft mich Tsitsi Dangarembga. Der Schriftstellerin aus Simbabwe wurde am 24. Oktober der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen. Im Berliner Tagesspiegel ist eine gute Zusammenfassung der Preisverleihung zu lesen.
Es bleibt eine Fremdscham, es bleibt eine Hoffnung, es bleibt ein Erschrecken und Erstaunen. Und noch ein Tipp: Antje Rávik Strubel erhielt am 18. Oktober den Deutschen Buchpreis für ihr Buch Blaue Frau. Und ein dritter: Identitti von Mithu Sanyal schaffte es auf die Shortlist für diesen Preis – und trotz vieler Unkenrufe und Verunglimpfungen will ich es explizit den LeserInnen meines Blogs ans Herz legen, ich habe mich einspinnen lassen in die Wirrungen der Identitäts- und Legitimationsfragen, die auf jeder Seite in neuer Weise aufgeworfen werden.


18. Oktober 2021

Denn was ist Lyrik?

Zur Vorbereitung auf eine Dichtungstagung

Am Samstag und Sonntag tagte eine zehnköpfige Gruppe in Berlin-Schöneberg, um die Segeberger Jahrestagung vorzubereiten. Die Tagung findet im März 2022 im Kloster Drübeck im Harz statt. Ich hätte ihr gern den Titel „abdichten“ gegeben, aber durchgestzt hat sich dann folgender poetischer und auch appellativer Titel: „Ich hätte singen sollen … Jetzt: Lyrik“. Rund 50 Menschen werden sich also dreieinhalb Tage lang mit Lyrik befassen. Sie werden sich kreativ schreibend auch die Frage stellen, was denn Lyrik heute ist, was sie auch ist jenseits des Altbekannten und immer wieder reproduzierten. Mein Vorstandskollege Claus Mischon gab spontan folgendes Gedicht von Nora Gomringer zum Besten – er nannte als Titel „Auf der Alm“, im Netz fand ich es unter zwei anderen Titeln, „Bauernidylle“ und:

Landleben
Vater, Mutter, Rind

Wer sich für den Segeberger Kreis, eine Vereinigung von SchreibpädagogInnen und -didaktikerInnen, und die Jahrestaung interessiert, kann auf der Website mehr erfahren:


11. Oktober 2021

Das Gendern …

… und die Ästhetik

Heute Morgen bin ich vorm Weckerklingeln um kurz nach fünf aufgewacht und fast sofort auch aufgestanden – um nach dem Morgenseitenschreiben einen Stapel von Beiträgen aus alten Ausgaben der ZEIT zu lesen, zu überfliegen, gegebenenfalls auszusortieren. Dabei fiel mir auch eine Kolumne von Sophie Passmann aus dem ZEIT MAGAZIN No. 30 vom 22. Juli 2021 (abermals) in die Hände. Darin plädiert sie fürs Gendern. Ich zitiere: „Das Gemeine an dieser Lagerbildung in der Debatte ist, dass so getan wird, als sei Gendern automatisch nicht schön, als sei das bereits entschieden, als hätten selbst die Befürworter*innen sich das eingestanden und würden faktenbewusst nur noch für das Gute und nicht für die Schönheit des Gendern einstehen. […] Das Sternchen ist ein wirklich äußerst ansehnliches Satzzeichen im Gegensatz zum restlichen Kram: - . ; , «.“ Ich halte die gesamte Kolumne für lesenswert. Man kann sie über ein digitales Probeabo lesen, aber hier möge das Zitat als Schreibanregung dienen: Wie hältst du es mit dem Gendern und der Ästhetik? Darf die Ästhetik ein Argument gegen eine geschlechtergerechte Sprache sein? Mussten wir uns nicht auch im Laufe der Sprachentwicklungsgeschichte an alle Satzzeichen erst gewöhnen? Sind ästhetische Argumentationen von daher nicht per se ahistorisch? Welche Interessen werden mit den Ästhetikargumenten verschleiert?


4. Oktober 2021

Das 19. klingt!

Was Dichten mit Zitronenkuchen zu tun hat

„Wenn ich ein Pantun schreiben will, dann muss ich mir immer noch das Schema raussuchen, das Beispiel anschauen, die Zahlen vorne vor die Zeilen schreiben, also nach Schema F vorgehen, irgendwie nach Rezept, wie beim Kuchenbacken.“ Angelika P. schaut mich fragend oder Absolution erbittend oder Tipps erhoffend an.
Wir sitzen in der Schreibwerkstatt, als Hausanregung habe ich beim letzten Mal die Aufgabe mitgegeben, acht Zeilen herauszusuchen aus den an dem Tag geschriebenen Texten und daraus ein Pantun zu ,bauen‘. „Ja, so ist es, wenn ich erst dreimal ein Pantun geschrieben habe“, sage ich. „Es ist wie beim Kuchenbacken. Zuerst brauche ich ein Rezept.“
Wenn ich noch nie solch einen Zitronenkuchen gebacken habe, den es früher immer bei Oma gab und der immer, aber auch wirklich immer als perfekter Quader auf der Kuchenplatte lag und immer so schmeckte und solch eine perfekt weiche Konsistenz hatte wie erwartet. Als Oma gestorben war, kam Omas zerfleddertes Backbuch zu mir. Oma hat den Zitronenkuchen nie nach Rezept gebacken, und doch wurde er immer perfekt. Bei mir war es nicht so. Mal blieb die untere Schicht beim Stürzen in der Form kleben, obwohl der Kuchen doch oben schon fast verkohlt aussah, mal schmeckte er fad und war von staubtrockener, ein anderes Mal von selbst für mich von zu klitschiger Konsistenz. Usw. Obwohl ich jedes Mal genau nach Rezept vorging. Vielleicht liegt es an der Kuchenform, vielleicht am Mehl (Oma nahm sicherlich das vollkommen weiße), vielleicht am E-Herd (Oma kochte und buk mit Gas). Ich habe es nie herausgefunden, kann aber heute einen Zitronenkuchen backen, der weder zu klitschig noch zu fad ist – immer gleich perfekt ist er nicht, was auch daran liegt, dass ich immer das Mehl nehme, was gerade da ist, also auch mal eine Mischung aus Buchweizen-, Kartoffel- und Maismehl, manchmal Margarine statt Butter, manchmal mehr Zitronenabrieb, meistens keinen Zuckerguss. Usw. Perfekt – ich weiß nicht. Immer gleich perfekt – nein. Eine Zitronenkuchenvariante 57 – ja.
Das alles erzähle ich in der Schreibwerkstatt. Was hat das aber mit dem Schreiben eines Pantuns zu tun?
Wenn ich meine Inhalte, das, was ich in eine (literarische) Form bringen will, in eine Form bringen will, die ich noch nie ausprobiert habe, dann brauche ich ein Vorbild und ein Rezept. Vielleicht wird das erste Pantun klitschig, das zweite verbrennt mir, das dritte klingt fad, das vierte klingt gar nicht nach Pantun, sondern nach Rondell. Nach und nach aber kann ich die Zahlen vor den Zeilen weglassen, weiß einfach, dass sich die Zeilen 2 und 4 der Vorstrophe als Zeilen 1 und 3 in der nächsten wiederholen. Nach und nach fühlt sich das Arbeiten in der Form geschmeidiger, routinierter an, meine Worte, meine Inhalte und die Form schmiegen sich aneinander, beeinflussen sich gegenseitig, in gewisser Weise automatisch schreibe ich im Rhythmus, es gibt keine Ausreißer in der Zeilenlänge mehr … Und plötzlich klingt es, das 19. Pantun klingt! Ich kann es auch Menschen außerhalb der alles tolerierenden Schreibwerkstattfamilie servieren.


27. September 2021

„So hingekippt“

Wie Schreibwerkstatt wirken kann

„Ich bin hier immer so hingekippt, irgendwie aufgeschlagen …“ Simone R., seit einigen Jahren Mitglied der Frauenschreibwerkstatt, schilderte heute Morgen, wie es ihr jeden Montag um 9 Uhr geht, wenn sie von ihrem prall gefüllten Alltag mit Handwerkergeschäft, vier Kindern und Ehrenämtern für zwei Stunden eine Art Auszeit nimmt und schreibt. Einfach so. „Ich komme zuhause irgendwie gar nicht zum Denken, und ich schreibe wenig bis gar nicht, muss mich immer erst hierherschreiben – wer war ich noch mal?“ Und dann fließen, auch schon vor der Antwort (oder ohne eine solche) auf diese Frage, wer sie denn eigentlich sei, die wundervollsten bilderreichen Sätze aufs Papier, die von umkreisenden Suchbewegungen genauso zeugen wie vom Mäandern durch fantastische Welten oder noch von ganz Anderem … „So ist Schreibwerkstatt“, habe ich gesagt, zu Simone und den anderen Frauen, die heute am Tisch in meiner Werkstatt saßen. „Wir richten, aus dem Alltag kommend, den Blick im Schreiben nach innen, halten schreibend inne und staunen, was sich uns zeigt. Zwei Stunden für sich selbst – und alle Texte selbstbedeutsam, von was sie auch immer handeln.“


20. September 2021

Vom weißen Blick

Hommage an Toni Morrison

In der Schreibwerkstatt erstellten wir zuerst Listen mit Frauen unseres Lebens; die linke Sitznachbarin kreuzte eine Frau an, zu der dann ein freier Text entstehen sollte. Auf meiner Liste wurde Toni Morrison angekreuzt. Toni Morrison war eine US-amerikanische schwarze Schriftstellerin (1931–2019). Ich schrieb anschließend den folgenden Text (der ausschließlich aus einsilbigen Wörtern besteht). Das Buch, um das es im Text geht, ist Menschenkind.

Für dich
Du – da ist so viel, was du bist, da ist so viel, was du warst, für mich warst, ein Sprung war es, ich sprang in dein Buch, da – oh, der Sog, es war so ein Sog, ich kam nicht mehr los, nie mehr wird es so sein, wie es war vor dem Tag, als ich dich traf. Ich traf dich im Buch, im Wort, traf dich, weil du mich trafst mit dem, was da stand. Die Welt war neu. Nein, ich sah, ich las sie neu. Dass das ein Buch kann, ein Wort gar, dass di Welt nicht mehr so ist, wie sie war vor dem Wort, dem Satz, dem Text. Die Welt war neu – sie war nicht mehr weiß, sie war schwarz und braun und rot und gelb und weiß, ja, auch weiß, doch nur hier und da. Du gabst den Blick frei, du zwangst mich. Ich sah, ich las die Welt neu. Und das ist bis jetzt so. Es gibt kein So-wie-vor-dem-Buch mehr, vor dem Schock. Denn das war es, es war ein Schock, dass mein Blick auf die Welt weiß war und dass in dem Blick, so weiß, ein Stich wohnt, der in dein Herz geht. Und so bin ich der Mensch, der ich jetzt bin, mit dem Blick, der jetzt von mir in die Welt geht, durch dich. So klar ist es mir nun, was falsch war – und dass solch ein Blick, der weiß ist und bleibt, dass solch ein Blick sticht, ätzt, schmerzt und auch den Tod bringt. Für die, die nicht weiß, die schwarz, braun, rot, gelb sind. Es war ein Schock, die Schuld grub sich dann in mir ein. Und dann tat ich den Schritt und hob den Kopf und sprang und sah die Welt neu. Ich bin so froh, dass ich dich traf, dein Buch, dein Wort – du wohnst in mir seit dem Tag. Hörst du mich? Es ist nicht mehr nur dein Kampf.


13. September 2021

Wie sehr einem das Leben

erst gehört, nachdem man es erfunden hat

Neulich bekam ich ein Bücherpäckchen. Eine meiner langjährigen Schreibschülerinnen Marie-Luise E. hat ihre Regale gelüftet und mir zwei Anthologien mit Literaturvon Frauen geschickt. „Bei den beiden Büchern dachte ich, dass sie bei dir gut aufgehoben sein könnten …“, schrieb sie. Ja, dachte ich, denn ich habe eine umfangreiche kleine Bibliothek mit Literatur von Frauen … Hm, dachte ich, diese Bücher sehen aber alt aus … Dann kamen mir diese Kisten, die überall an den Straßen stehen und dann dem Regen überlassen bleiben, in den Sinn, und ich legte sie weg, erst mal auf den Stapel, der noch irgendwo einzusortierenden Bücher.
Und erst danach sprang mir der Titel des einen ins Auge: „Wie sehr einem das Leben erst gehört, nachdem man es erfunden hat“. Djuna Barnes ist die Autorin dieses Satzes, der zum Titel wurde. Ich war erfasst und traurig und und … Schrieb in der nächsten Schreibwerkstatt dazu, wie sehr mir das Leben erst gehört, seit ich … oder doch nicht …
Jetzt habe ich endlich das Buch auch aufgeschlagen und ertappte mich abermals bei dem Gedanken, dass da etwas vor mir liegt, das alt ist, das in eine andere Zeit gehört, das so heute nicht mehr erscheinen könnte, das nicht (mehr) passt. Vielleicht hat es auch 1997 (das Erscheinungsjahr, Bibilothek Suhrkamp) schon nicht (mehr) gepasst, nur damals hat das der Mainstream des Literaturgeschäfts, der exkludierend war und teilweise immer noch ist, nicht bemerkt – und ich hätte es womöglich auch nicht bemerkt. Versammelt diese Anthologie doch in erster Linie Literatur von weißen und (leider) toten Frauen wie Else Lasker-Schüler, Sylvia Plath oder Marie-Luise Kaschnitz. Die ich verehre, keine Frage. Aber … siehe oben.
Was aber dennoch bleibt: Vorgestern telefonierte ich mit meiner Freundin Ulrike M., einst eine meine Redaktionskolleginnen bei der Wuppertaler Frauenzeitung Meta M. (auch diese gehört in eine ganz andere Zeit), und wieder einmal waren wir uns einig, dass der Dualismus (man könnte auch sagen: der binäre Code), der die Welt regiert und in den Frauen und Männer automatisch einsortiert werden, nicht zuletzt verhindert, weiterhin und bis in die feinsten Verästelungen des Lebens verhindert, dass Frauen das, ihr Leben ,einfach‘ erfinden können.
So also werde ich diese so wunderbar betitelte Anthologie einsortieren und nicht in den Büchertauschschrank vor dem Bioladen stellen.


6. September 2021

Myzel

Die Magie der Wörter

Wörter, die immer wieder auftauchen, sich in die Texte schleichen, zumindest eine Zeitlang, hat jedeR. Sie lösen Assoziationsketten aus, sie lösen manchmal auch eine körperliche Reaktion aus. Gib dich der Magie eines Wortes hin, koste es, nimm es in den Mund, lass es sich in den Backentaschen bequem machen, lass es über die Zunge rollen, lass es den Rücken hinauf- und hinunterkrabbeln, lass es deine Strümpfe sein, deine Mütze, dein Unterhemd, lass das Wort sich an dich schmiegen – und lass es deinen Text dominieren, wiederhole es, nimm es auseinander und setz es wieder zusammen, geh nah heran und in Distanz, spür hinein und horch, was es dir zuflüstert, geh mit ihm spazieren, sprich mit ihm und koste es also schreibend aus.
Ein Wort, das für dich magisch, das dir vielleicht gar heilig ist, ist es nicht unbedingt allein wegen seines Inhalts, sondern auch wegen seines Klangs, seines Aussehens, wenn du es auf dein Blatt schreibst. Bei mir ist es derzeit zumindest Myzel, gleich danach aber fallen, üben, wiederholen und kantaper. Einige halten sich länger, andere sind kurzfristige Begleiter, Tröster, Erheber, Energielieferanten.
Wörter sind auch körperlich verankert – so also können wir uns selbst sehr nah sein, wenn wir schreibend die Magie intensivieren.


30. August 2021

Wiedergelesen

Und endlich geschenkt bekommen

Im Sommer, wenn ich mal für zwei Wochen offline bin (verordnet), lese ich meistens einige dicke Romane, am Stück, innerhalb von zwei, drei Tagen jeweils – und nicht über Wochen kapitel- oder gar nur sätzeweise am Abend. Das habe ich auch in diesem Sommer gemacht. Verschlungen habe ich (in lese-chronologischer Reihenfolge):

  • Abi Andrews: Wildnis ist ein weibliches Wort
  • Zeruya Shalev: Schicksal
  • Juli Zeh: Über Menschen
  • Elif Shafak: Unerhörte Stimmen
Sie haben mich alle erfasst, Shalev und Zeh haben mich wegen der mangelnden Tiefe an so mancher Stelle ein bisschen unzufrieden zurückgelassen, aber dennoch möchte ich sie empfehlen, nicht zuletzt, weil sie aktuelle gesellschaftliche Themen auf besondere Weise verweben – Zehs Roman spielt sogar im Corona-Jahr 2020!

Und dann las ich noch ein Buch, das ich schon mal gelesen und nun endlich geschenkt bekommen hatte, das aus ca. 200 Seiten mit 100 Sätzen besteht:

  • Heike Faller / Valerio Vidali: Hundert. Was du im Leben lernen wirst
Beginnend mit der Geburt sind wir Lernende und bleiben es, bis wir wieder gehen. Mit 1½ z. B. lernst du – so steht es im Buch –, „dass deine Mutter wiederkommt, wenn sie weggeht. Das ist Vertrauen.“ Mit 75 lernst du, „Dinge zu verlernen. Kannst du noch einen Purzelbaum?“
Das Buch ist im Verlag Kein & Aber erschienen und ein wunderbares Geburtstagsgeschenk für junge, jüngere, ältere und alte Lernende.


23. August 2021

Poesie unterwegs

Schreibwettbewerb des NVV

Gern unterstütze ich den Schreibwettbewerb, den der Nordhessische Verkehrsverbund ausgeschrieben hat. Bis zum 30. September können Texte zum Thema „Verbindungen“ eingereicht werden. Die Teilnahmebedingungen findest du hier.
Leider, so viel sei verraten, können sich nur Menschen beteiligen, die im Einzugsgebiet des NVV leben. Und noch etwas sei verraten: Ich bin als Mitglied der Jury berufen worden.


9. August 2021

Glashaar-Widertonmoos

Gehen, Sehen, Schreiben – z. B. über Moos

Wenn ich so durch die Gegend laufe, vor allem, wenn ich durch eine nicht alltägliche Gegend laufe, sehe ich oftmals Facetten unter einer Überschrift. So sehe ich beispielsweise Rundes oder Zugewuchertes oder Verfallenes oder Essbares oder Weggeworfenes. Sehr oft sehe ich tatsächlich Facetten unter einer Farbüberschrift, also Rotes, Blaues, Falbes … oder Pflanzenarten. Daraus erwächst die heutige Schreibanregung. Und natürlich aus dem gedichtartigen Gebilde, das hier als Anregung zur Nachahmung dienen möge:

Marion Poschmann: Moosgarten ein ready-made
(1. Strophe von 10; aus: #poesie, 2018)
Nickendes Pohlmoos
Gemeines Quellmoos
Glashaar-Widertonmoos
Einseitswendiges Torfmoos
Dreilappiges Peitschenmoos
Nacktmundmoos
Flaschenmoos
Breitringmoos
Vielfruchtmoos
Gewelltes Plattmoos


2. August 2021

Sommersonntag mit Kunst

Doppelzimmer – Ausstellung im Hugenottenhaus

Es gibt gute Orte. Es gibt gute Orte, die erst auf den zweiten Blick ihr Gutes preisgeben. So ein Ort ist das Hugenottenhaus in der Friedrichstraße 25 in der Kasseler Innenstadt. Nach den Ausstellungen Freie Zimmer (2019) und Bewegte Zimmer (2020) beschließt die aktuelle Ausstellung Doppelzimmer (2021) die von den Kasseler KünstlerInnen Silvia und Lutz Freyer kuratierte Ausstellungstrilogie.
21 KünstlerInnenpaare, die zum Teil seit vielen Jahren zusammenarbeiten, zum Teil zum ersten Mal sich künstlerisch aufeinander eingelassen haben, bespielen die Zimmer. Bezüge, Wechselwirkungen, Verschmelzungen – zwischen den KünstlerInnen und ihren Werken, mit dem Ort: Das Haus mit seinem morbiden Charme, der Hinterhof in seiner einladenden Gestaltung, dazu die Perle, das Café. Leider ist die Ausstellung nur freitags, samstags und sonntags jeweils von 12 bis 19 Uhr geöffnet (bis zum 26. September).
Warum ich hier auf das Hugenottenhaus und die Doppelzimmer-Ausstellung hinweise, hat einen einfachen Grund: Wörter, die Sprache spielen in vielen der Kunstwerke, z. B. in Collagen, Videos oder konkreter Poesie, eine wesentliche Rolle. Und zum Schreiben inspirieren auch die Zimmer, in denen Texte eine untergeordnete Rolle spielen.


26. Juli 2021

13/26 Minuten

Grenzüberschreitungen de luxe

Eine großartige kreative Woche liegt hinter mir, hinter uns. Meine Kollegin Yara Semmler (pieceofpie.de) und ich haben zum fünften mal die Grenzen zwischen Kreativem Schreiben und künstlerischem Gestalten abgetastet, aufgeweicht und überschritten. Mit wundervollen Teilnehmerinnen. In meinen Räumen, auf meinem Gelände in Kaufungen. Immer wieder setze dann auch ich mich herausfordernden Aktivitäten aus – Acrylfarbe ohne Pinsel.

Jetzt aber zur (Schreib-)Anregung:
Jeder Tag (mit acht Unterrichtseinheiten) begann mit einem von uns so genannten Kreativimpuls (eine Unterrichtseinheit). Meinen Lieblingskreativimpuls vom fünften Tag lege ich dir ans Herz, an den Stift.
Leg dir zwei DIN A3-Bögen Papier zurecht. Wähl dir einen Stift, mit dem du sowohl fließend schreiben als auch zeichnen kannst. Nun zeichnest du eine Linie, 13 Minuten lang, ohne den Stift abzusetzen, machst du Linien, Kringel, Schleifen, Gekritzel usw. auf dem Papier, die Linie darf kreuz und quer laufen, die einzige Regel ist wirklich: Lass den Stift auf dem Papier. Auf dem zweiten Bogen schreibst du 13 einen einzigen Satz, der also erst ganz am Ende einen einzigen Punkt bekommt. (Wenn du eine zusätzliche Herausforderung suchst, zu der wir unsere grenzüberschreitungsfreudigen Teilnehmerinnen motivieren konnten: Schreib den Satz ohne Satzzeichen, also verbinde alle Teile – Hauptsätze, Satzteile – mit „und“ oder „oder“, sodass keine Satzzeichen nötig sind. Das ist ein oulipotisches Verfahren.)


19. Juli 2021

Blütenstaub

Mehr als Novalis

„Fragmente wie diese sind literarische Sämereien.“ Das schrieb Novalis in einem seiner Blütenstaubfragmente. Aber wer mit Blütenstaub bestäubt werden möchte, muss gar nicht so weit in den literarische Vergangenheit reisen .... Ein neuer Blog ist am Start: Blütenstaub.
Meine Berliner Schreibfreundin und Kollegin Helen Perkunder, der ich u. a. einen wundervollen vierwöchigen schreibbasierten Einstieg in dieses Jahr 2021 verdanke, hat – ausgehend von ihrem literarisch-aktivistischen Blog –begonnen, Blütenstaubwölkchen in die Welt zu pusten. Möge er sich niederlassen und bestäuben, mögen neue Ideenpflänzchen sprießen, möge die Saat aufgehen und die Welt zu einem besseren Ort werden lassen. „Es geht um persönliches Wachstum, nicht weniger als das. Um unser Wachstum. Und dieses Wachstum führt dazu, sich zusammen stark zu machen für eine gerechte Welt“, schreibt Helen. U. a. bietet sie Klima-write-ins an, jeden Donnerstag ab 18 Uhr kommen Menschen virtuell zusammen, wer daran Interesse hat, melde sich hier: klimabriefe@writers4future.de


12. Juli 2021

Franz Mon:

immer mal wieder

Mein erster eigener automatisch geschriebener Text, die Lust an OuLiPo, die Dimensionen der Konkreten Poesie – einer hat mich insbesondere geprägt, angstochen, geradezu erschüttert, 2002 oder 2003 in Wolfenbüttel: Franz Mon. Ohne diese Weiterbildung zur Konkreten Poesie wäre ich eine andere, vielleicht weniger mutige, weniger experimentierfreudige, weniger kraftvolle Schreiblehrerin, vielleicht … Auf jeden Fall: Danke! Ein Text von Franz Mon zum Erfreuen, zum Nachahmen auch …

worttaktik
beschreibungen anritzen: ihre aufgetriebenen, gespannten hülsen reißen unter der niedlichen berührung. wortschaum wie wegerich quillt hervor. den zittrigen riss entlang mit der zunge drüberstreichen: haften die bläschen, die fäden auf den tastkörperchen, bis sie am gaumen breitgedrückt vom speichel ins hinterrücksgedächtnis gespült werden.

Quelle: Frankfurter Anthologie, faz.net< (Abruf: 28. 5. 2021)


5. Juli 2021

Der 5. Juli

Was könnte ich denn mal …

War nicht sehr kreativ, war nicht sehr einfallsreich, war nicht sehr lustvoll, war nicht sehr flüssig, war nicht sehr von allem – Fa schaute ich einfach mal im Netz nach dem 5. Juli, dem Tag des heutigem Posts. Und fand (auf Wikepedia): Der 5. Juli ist der 186. Tag des gregorinischen Kalenders. Es bleiben also noch 179 Tage bis zum Ende dieses Jahres. Um diesen 5. Juli herum befindet sich die Erde an ihrem sonnenfernsten Punkt auf der Umlaufbahn, genannt Aphel (so nennt meine Enkelin Nina einen Apfel). Außerdem erklärte Algerien am 5. Juli seine Unabhängigkeit von Frankreich (1962), Nelson Mandela wurde zum südafrikanischen Präsidenten gewählt (1991), Maria Callas verabschiedete sich von der Opernbühne (1965). Geboren wurde am 5. Juli die Freiheitskämpferin Clara Zetkin (1857), die Schriftstellerin Barbara Frischmuth (1941) und die Fußballerin Megan Rapinoe (1985).
So, und was mache ich jetzt, was machst du jetzt mit diesen Informationen? Schreib vielleicht einfach drauflos, ob zur Callas, zum Fußball oder zu deinem persönlichen 5. Juli (mein persönlicher 5. Juli ist Tag 1 nach der Hochzeit meiner Eltern (1959) …


28. Juni 2021

Was entstehen kann

OuLiPo – mehr als lustig

Am Wochenende habe ich endlich endlich einen Schreibworkshop durchgeführt, der sich einzig auf die contraintes (Verfahrensvereinbarungen, Regeln) der Gruppe OuLiPo (OuLiPo ist eine Art Akronym für Ouvroir la littérature potentielle – Werkstatt für mögliche Literatur) stützte. Viele Jahre schon wollte ich das tun … Und das, was Raymond Queneau, einer der Gründer der Gruppe 1960, einmal sagte, oulipotisches Arbeiten sei naiv, handwerklich und amüsant, hat sich absolut bestätigt. Sieben Teilnehmerinnen und ich haben gelacht, gespielt, gewerkelt und im Tun erkannt, welche möglichen Literaturen geboren werden können, wenn man sich diesen seltsam mathematisch oder auch absurd anmutenden Regeln stellt.
Recht bekannt sind etwa die oulipotischen Contraintes Tautogramm, Lipogramm und Monovokalismus.
Weniger bekannt ist wahrscheinlich die Regel, keine Satzzeichen verwenden zu dürfen. Ein Beispiel (von mir):
Das Und ist ein grandioses Wort und ersetzt ohne großes Gewese einfach ein Komma oder ein Semikolon oder einen Punkt oder gar einen Doppelpunkt und kann zudem noch alles miteinander verbinden und definiert damit zum Dritten auch noch quasi nebenbei in seiner akustisch unauffälligen und optisch minmalistischen Wesensart die Gleichartigkeit der durch es verbundenen Wörter oder Satzteile oder Sätze und ist so ohne Zweifel als eins der Wörter in der Kategorie „unverzichtbar“ zu diagnostizierenden und würde schmerzlich vermisst und beweint im Falle seines zweifelsohne dann durch allzu reduktions- und selbstverliebte Sprachverschlimmbesserer verursachten Ablebens.

Und wahrscheinlich völlig unbekannt ist die Contrainte Petite boîte (deutsch: Kleine Schachtel), die sich an den Silbengedichten Haiku und Cinquain orientiert und in sechs Zeilen 7 7 8 ? 8 7 Silben erlaubt (die vierte Zeile ist variabel und fordert insbesondere heraus). Ein Beispiel (von mir):
Als das Tabu ich hier traf
und mit Rotlicht nach ihm warf
dann mich fragte, ob ich das darf
kam es noch näher zu mir heran
Oh, dachte ich, jetzt wird es scharf
doch nur mein Bumerang traf

Zum Schluss verlosten wir jeweils einen unserer Lieblingssätze und gestalteten dann aus dem eigenen und dem gelosten Satz einen Text, der ausschließlich mit dem Wortmaterial der beiden Sätze operieren durfte. Teilnehmerin Verena N. las als letzte ihren Text vor, der mit dem Satz endete, der hier auch den Schlusssatz dieses Posts bilden soll (und der zeigt, welch Ernst aus dem Spiel entstehen kann): „Schwierigkeit ist nicht im Frausein inbegriffen, Schwierigkeit wird Frauen zugeschrieben.“


21. Juni 2021

Mittsommer

Was war, was kommt – und das Jetzt

Heute zwischen 5 und 6 Uhr hat der Sommer begonnen. Mir geht es immer so: Erst ist es sooo lange Winter, dann ist es sooo lange noch nicht warm genug (die beiden letzten Jahre lasse ich mal außer Acht), um draußen zu lesen, zu essen, Schreibwerkstatt zu machen. Und dann ist plötzlich Sommer und die Hälfte des Jahres schon vorbei … Dieses Jahr ist ein besonderes, wie auch schon das letzte. So kannst du, wie sonst vielleicht immer zur Wintersonnenwende, einmal Bilanz ziehen, heute, am Tag des Sonnenhöchststandes: Was war, was kommt (oder möge kommen) – und das Jetzt (der Moment).

Zwei Varianten:

  1. Vervollständige jeweils zum Satz: Gestern … | Heute … | Morgen …. Du kannst das dreimal oder noch öfter machen, sodass also quasi Strophen entstehen.
  2. Schreib einen Text über das Heute, das Jetzt, im Präsenz. Such den zentralen Satz heraus, starte damit einen Text über das Gestern, etwas in der Vergangenheit, im Imperfekt, Perfekt und Plusquamperfekt. Such aus diesem Text ein Wort heraus, nutz es als Überschrift für einen Text über das Morgen, die Zukunft, im Futur I und II.


14. Juni 2021

Konzeptentwicklung

mit Zettelwirtschaft

Am Wochenende besuchte ich meine Kollegin Yara Semmler in Leipzig (www.pieceofpie.de) – wir wollten unsere fünfte gemeinsame Sommerwoche Grenzüberschreitungen – Kreatives Schreiben und Gestalten vorbereiten, die vom 18. bis 23. Juli in Kaufungen stattfinden wird.
Viele Themen, viele Ziele, dutzende von Übungen in unseren Köpfen … Wie entsteht daraus ein Konzept? Die beiden Bilder mögen es illustrieren.
Zuerst (in der Morgensonne) in die Breite, unsortiertes Notieren auf Zetteln, rund 100 waren es schließlich … Am Ende (kurz vor Mitternacht) Sortierung in sechs Kolonnen für die sechs Kurstage … na ja, also eher viereinhalb, traditionell lassen wir die Tage 5 und 6 noch sehr offen, um auf die Entwicklungen der Teilnehmenden reagieren zu können.
Wir sind zufrieden – ein neues Roh-Konzept steht, wie ein Roh-Bau, gefeiert haben wir das Richtfest mit Chips und Gewürztee!


7. Juni 2021

Friederike Mayröcker ist tot!

Ein Verlust für die deutschsprachige Literatur

Gerade stand sie noch auf derf Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, gerade habe ich ihr neuestes Buch gekauft: da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete (schon der Titel!!!). Und nun ist sie nicht mehr da, die alte … nein, nicht Dame, eher. Furie der deutschsprachigen Literatur. Am 4. Juni ist sie mit 96 Jahren gestorben, sie war und bleibt eine meiner LieblingsdichterInnen! Und weil in der HNA neben dem Nachruf ein Gedicht schon ewig toten Mannes stand – Peter Hebbel – (Bettina Fraschke ist sonst sensibler), poste ich hier einen der Texte von Friederike Mayröcker, denen ich als erste begegnet bin vor Jahrzehnten. Diesen habe ich geliebt, verschenkt und in Schreibwerkstätten als Impuls und/oder zum Nachahmen gegeben.

wie ich dich nenne
wenn ich an dich denke
und du nicht da bist

meine Walderdbeere
meine Zuckerechse
meine Trosttüte
mein Seidenspinner
mein Sorgenschreck
meine Aurelia
meine Schotterblume
mein Schlummerkind
meine Morgenhand
mein Vielvergesser
mein Fensterkreuz
mein Mondverstecker
mein Silberstab
mein Abendschein
mein Sonnenfaden
mein Rüsselhase
mein Hirschenkopf
meine Hasenpfote
mein Treppenfrosch
mein Lichterkranz
mein Frühlingsdieb
mein Zittergaul
meine Silberschnecke
mein Tintenfasz
mein Besenfuchs
mein Bäumefäller
mein Sturmausreiszer
mein Bärenheger
mein Zähnezeiger
mein Pferdeohr
mein Praterbaum
mein Ringelhorn
meine Affentasche
meine Winterwende
meine Artischocke
meine Mitternacht
mein Rückwärtszähler

(da capo!)

Ich nehme mir ein Beispiel an dir, oftmals schon und weiterhin. Radikal schreiben, keine Konsistenzen vortäuschen, Furie sein. „Ich bin noch jung in meinen Träumen, in meinen Träumen bin ich high“, schreibst du – vielleicht kann frau das ja auch ein bisschen im Leben. Mach’s gut, Friederike.


31. Mai 2021

Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen

Wettbewerb der Brückner-Kühner-Stiftung

Den 100. Geburtstages der Kasselerin Christine Brückner nimmt die in Kassel ansässige Brückner-Kühner-Stiftung zum Anlass, zu einem Wettstreit von Rednerinnen einzuladen: „Wir laden alle Frauen ein, sich mit einer ungehaltenen Rede zu bewerben, um als eine von sechs Rednerinnen am 10. Dezember 2021 im Rahmen des 100. Geburtstages der Schriftstellerin Christine Brückner und am Tag der Menschenrechte das Wort ergreifen zu können. Die Reden werden im Kasseler Rathaus vor Publikum gehalten und vom Hessischen Rundfunk aufgezeichnet und gesendet. Einsendeschluss ist der 31. Juli 2021. Auf „ungehalten.net“ finden Sie Informationen und Aktuelles zum Projekt, den Zugang zur Teilnahme und später auch eine Auswahl von ungehaltenen Reden ungehaltener Frauen.“
Vorbild ist das wunderbare Buch Christine Brückners: Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen. In diesem schlüpft sie in elf historische Frauenpersönlichkeiten von Sappho über Katharina Luther bis zu Gudrun Ensslin und hält in deren Namen Reden, genauer gesagt schreibst sie diese in einem der historischen Zeit nachempfundenen Sprachduktus. Immer wieder nehme ich das Buch zur Hand, seit ich es 1996 erworben habe. Und nun diese wunderbare Idee der Stiftung, deren Aufruf zum Redenschreiben und -halten ich sehr gern unterstütze.


24. Mai 2021

Einladung zum …

Automatischen Schreiben

Am 2. Mai ist dieser Blig sieben Jahre alt geworden – und ich habe tatsächlich noch kein einziges Mal empfohlen, das Automatische Schreiben zu praktizieren. Das muss nachgeholt werden. Jetzt. Automatisch zu schreiben bedeutet, eine passive Schreibhaltung einzunehmen, die Kontrolle, die Steuerung aus der Hand zu geben, etwas, es schreiben zu lassen, nichts zu wollen, dem Bewiusstseinsstrom, dem Kopfkino zu folgen, zu protokollieren, was sich zeigt, was ich höre, was ich sehe … Der Schriftsteller und konkrete Poet Franz Mon, der am 6. Mai 95 Jahre alt geworden ist, hat einmal über das Automatische Schreiben gesagt (meine Mitschrift in einem Workshop 2003), es sei:
„Traumhaft somnambul gelöstes Tun.
Bewusstsein ohne einzugreifen dabei.
Es ist eine Schreibhaltung.
Eine Sprache, die mich hat.
Die mich hat kommen lassen.
Und ein Geschenk zum Anzapfen.
Oder auch ein Steinbruch.“

Als eine Art Impuls möge André Bretons Anleitung zur écriture automatique aus dem Surrealistischen Manifest (1924) dienen:
„Beschaffen Sie sich Schreibzeug, setzen Sie sich an einen Platz, wo Sie sich möglichst ungestört in sich selbst versenken können, entspannen Sie sich völlig, seien Sie ganz passiv und so hinnehmend und aufnahmebereit wie möglich! Lassen Sie sich nicht durch den Gedanken an Ihre etwaige Genialität beirren!
Sehen Sie von Ihren eigenen und den Talenten aller anderen Menschen ab!
Sagen Sie sich eindringlich, dass die Schriftstellerei der trübseligste Weg ist, der zu allem führt! Schreiben Sie rasch nieder, was Ihnen einfällt, und besinnen Sie sich gar nicht auf ein Thema! Schreiben Sie so schnell, dass Sie sich überhaupt nicht versucht fühlen, vom schon Geschriebenen etwas behalten zu wollen oder es noch einmal durchzulesen!
Der erste Satz kommt Ihnen ganz von selbst. Wie es mit dem zweiten geht, lässt sich zwar schon schwerer sagen … Doch machen Sie sich darüber keine Sorgen! Schreiben Sie einfach unentwegt weiter!
Verlassen Sie sich ganz auf die Unerschöpflichkeit des Wisperns, Raunens und Murmelns in Ihnen!
Und wenn dies doch einmal zu verstummen droht, etwa weil Sie über einen Schreibfehler stolpern … oder ein Wort, das Sie schrieben, Ihnen äußerst befremdlich vorkommt, dann schreiben Sie einfach irgendeinen Anfangsbuchstaben, z. B. ein L, gerade immer nur ein L, und stellen die anfängliche Willkürlichkeit dadurch wieder her, dass Sie dieses L dem beliebigen Wort, was Ihnen sogleich in die Feder fließen wird, als Anfangsbuchstaben aufnötigen“ (Breton 1924 in Nadeau 1986, S. 64).

Breton, André (1924): Manifeste du Surréalisme. In: Nadeau, Maurice (1986): Geschichte des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt


17. Mai 2021

2020:366

Was eine Schreibpädagogin sonst noch so treibt

Seit ein paar Jahren überschreite ich in meiner Arbeit als Schreibpädagogin Grenzen zu anderen Domänen, historisch zuerst zum Yoga, seit fünf Jahren zur Bildenden Kunst. So wenig, wie ich glaube, dass ich Yogi bin, so wenig glaube ich, dass ich Bildende Künstlerin bin – aber auf einer ganz anderen Ebene bin ich: Ich lasse mein Schreiben sich ausdehnen, lasse hinein, was hineinstrebt, verknüpfe es mit Nicht-Sprachlichem, verknüpfe mich mit Nicht-Sprachlichem. Experimentiere. Ich schreibe jeden Tag, seit Jahrzehnten. Es gibt genug Gelegenheiten in Kursen, aber hinzu gestellt sind Rituale wie das Morgenseitenschreiben, das mäandernde Notieren im Journal usw. Um auch im Künstlerischen eine Routine zu schaffen, sodass ich ,dranbleibe‘, erfand ich für das Jahr 2020 ein Jahresprojekt und gestaltete jeden Tag ein Bild, über das ich einen Text legte, 366 Tage. Und dann brach das Jahr 2021 an – und die 732 Blätter lagen geordnet in einem Pappkarton … Irgendwann beim Schneeschippen bei minus 15 Grad Anfang Februar war klar: Ich will es zeigen, ich will mich zeigen. Mit dem Jahresprojekt, mit meinen anderen zum Künstlerischen grenzüberschreitenden Projekten will ich mich zeigen. So entstand ein neuer Reiter im Menü meiner Homepage: SprachKunst .

Drei Beispiele aus dem Jahresprojekt:


10. Mai 2021

Eine Woche Kreatives Schreiben

Virtueller Kurs – mit allen Sinnen

Wahrnehmen, notieren, dichten, fantasieren … In Zeiten überbordender Informationen und eines allzu oft empfundenen Zuviels sollten wir unsere Sinneswahrnehmungen und Imaginationskräfte stärken, um uns die Fülle in der natürlichen und kultürlichen Umgebung vor unseren Haustüren und in uns selbst zu vergegenwärtigen. Schreiben gilt als eine der hervorragenden Methoden, um außergewöhnliche Lebenssituationen zu verarbeiten, aber auch, um im kreativen und selbstbedeutsamen Tun eben jene inneren Kräfte zu aktivieren, damit wir handlungs- und zukunftsfähig bleiben.
An sechs Tagen versende ich jeden Morgen eine zwei- bis dreiteilige Schreibaufgabe mitsamt Anleitungen und Hintergrundmaterial, die die Umgebung des Wohn- und Schreibortes mit einbezieht. Im Laufe des Tages entstehen in Einzelarbeit Geschichten, Gedichte und experimentelle Texte; ca. 90 Minuten individuelle Schreibzeit sind einzuplanen. Und jeden Abend findet ein dreistündiges Gruppentreffen mittels Videokonferenz statt, bei dem Texte vorgelesen und beantwor¬tet werden; Gespräche über das Schreiben als Handwerk und jetzt noch Unbekanntes bekommen eben¬falls Raum.
Vorkenntnisse im Schreiben sind nicht erforderlich. Der Link wird vor Workshopbeginn per Mail verschickt; Teilnehmende benötigen ein internetfähiges Gerät (Computer, Tablet, Smartphone etc.) inkl. Kamera und Mikrofon.

Termine 30. Mai bis 4. Juni 2021, Sonntag (10 Uhr) bis Freitag (21 Uhr)
Zeitentagsüber 90 Min. individuelles Schreiben, 18 bis 21 Uhr Videokonferenz für alle Teilnehmenden
Orteam eigenen Wohnort und im virtuellen Raum
Kosten140 Euro | min./max. TN-Zahl: 7/12
Anmeldung sofort bei Kirsten Alers


3. Mai 2021

Passung …

… und Selbstverantwortung in Schreibkursen

Eine Kollegin, Christine Kämmer, postete nach einem Massenworkshop bei der auch von mir sehr verehrten Schreiblehrerin Natalie Goldberg ihr Unbehagen auf dem Blog jungle writing.
Zusammengefasst: 2000 Menschen wurden von Natalie Goldberg dazu animiert, schreibend an tiefe Gefühlsschichten zu gehen, um dann in ständig wechselnden Kleingruppen die Texte vorzulesen.
Sie forderte KollegInnen dazu auf, ihren Post zu kommentieren – was ich tat. Hier mein Kommentar:
Auch von mir ein Danke an dich, Christine Kämmer, dass du uns teilhaben lässt. Jenseits dessen, dass ich wahrscheinlich mit der Art, wie ich Kreatives Schreiben unterrichte, näher am Konzept von Natalie Goldberg bin als du: Was mich dein Erfahrungsbericht lehrt, ist erstens, dass es notwendig ist zu fragen, ob Inhalte und Verfahren und Gruppe zueinander PASSEN, und zweitens zu kommunizieren, wie ich (Kreatives) Schreiben in diesem spezifischen Setting verstehe, damit alle Menschen, die teilnehmen, entscheiden können, ob sie im für sie PASSENDEN Kurs sind. Es liegt in meiner Verantwortung als Kursleiterin, meine Haltung und das zu Erwartende zu kommunizieren – es kann nicht in meiner Verantwortung liegen (vor allem nicht in einem mit solchen Massen konzipierten Kurs), Menschen (vor sich selbst) zu schützen. Es grüßt herzlich Kirsten Alers (Schreibpädagogin, wortwechsel-kaufungen.de)


26. April 2021

Gendern

Thesen zu */_:innen & X – Teil 2

Auch wenn heute Tschernobyl-Tag ist – kurz zögerte ich, ob das nicht doch heute hier zu einer Schreibanregung werden sollte … ich erinnerte mich, wie wir uns damals verhielten, was wir nicht aßen, wo wir uns nicht aufhielten … ein bisschen fast wie heute – und auch ganz anders …

  • Sprache scheint nur in Stein gemeißelt, sie hat sich entwickelt, sie wandelt sich täglich, sie wird sich immer verändern – Sprache muss ein dynamisches Gebilde sein. Begriffe, Wahrnehmungen und gesellschaftlicher Wandel stehen in dialektischem Verhältnis zueinander.
  • Es ist tatsächlich doch lustvoll, genau hinzuschauen und genau zu benennen – wenn auch nicht immer unanstrengend, sich irritieren zu lassen, sich in der ach so heimeligen So-war-es-doch-schon-immer-Einfriedung stören zu lassen.
  • Texte, in denen differenziert gegendert wird, können Komplexes differenziert abbilden – starre Begriffshülsen sind nicht sinnvoller als begriffliche Vielfalt.
  • Meine Sprache verrät, was ich sehe und/oder annonciere – und welche Bilder in den Köpfen Anderer ich erzeugen will. Wenn ich eine inkludierende Sprache in meinem Alltag und in meinen Veröffentlichungen verwende, erzeuge ich andere Bilder, als wenn ich an einer tatsächlich ja exkludierenden Sprache festhalte – die die exkludierenden Verhältnisse (hoffentlich doch) vergangener Zeiten spiegelt. Ich kann also durch winzige Verschiebungen zur Etablierung neuer Bilder, neuer mentaler Modellebeitragen – ist das nicht wunderbar?!
  • Die Schönheit der (deutschen) Sprache bzw. deren Bedrohung wird immer wieder ins Feld geführt (bei manchen noch gepaart mit dem befürchteten Untergang des Abendlandes). Wer bestimmt denn, was schön ist an der Sprache? Ich finde Genauigkeit schön, eine zu Aussage, Kontext, Zeit und AdressatInnen passende Sprache!
  • Wenn Lesebarkeit und Ästhetik Kriterien sind, dann ,gewinnen‘ Doppelpunkt (Schreiber:innen), Großes I (SchreiberInnen) und großes X (SchreiberX) gegen Slash (Schreiber/innen), Genderstern (Schreiber*innen) und Unterstrich (Schreiber_innen), weil sie die Harmonie des Schriftbildes weniger stören. Wenn andere Kriterien im Vordergrund stehen, ,gewinnt‘ eine andere Variante.
  • Auch wird die Grammatik immer wieder angeführt als Gegenargument zum Gendern. Es ist richtig, dass das grammatische Geschlecht nicht mit dem biologischen gleichzusetzen ist; die Sonne ist in den romanischen Sprachen und vielen Mythologien männlich, der Mond weiblich. Dennoch fallen eben grammatisches und biologisches Geschlecht bei menschlichen Personen und Tieren zusammen. Warum sonst müssten sich sonst die Englisch sprechenden Menschen Hilfskonstruktionen ausdenken und male und female etwa vor cat setzen, wenn ganz genau gesagt werden soll, ob es sich um einen Kater oder eine Katze handelt?!
  • Wenn jemand sich nicht mitgemeint fühlt und jemand anderes aber diese Person mitzumeinen angibt – wer hat dann die größeren Rechte? Es wäre wünschenswert, wenn mehr gefragt würde: Mit welchem Namen möchtest du angesprochen werden?, kann ich das neunjährige Kind fragen, das im Körper eines Jungen geboren wurde, aber seit Jahren sagt, es sei sei ein Mädchen. Wie willst du in meinem Essay benannt werden?, kann ich X. fragen – geboren als Mädchen, operiert, als Mann lebend und in einer Liebesbeziehung zu einem Mann.
  • Es ist ein Unterschied, in welchem Kontext ich Sprache benutze: Im persönlich-privaten Umfeld gelten womöglich andere Konventionen als in öffentlichen Institutionen, in der Wissenschaft oder auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Ich reagiere unterschiedlich (humorvoll) darauf, ob mein Sohn oder die Volkshochschule nicht gendert; ich fordere von Studierenden gegenderte Arbeiten, aber nicht von meinen Eltern gegenderte Briefe (trotzdem diskutiere ich auch mit meinen Eltern oder sage ihnen, dass ich vor allem Studentinnen* und Schreibschülerinnens unterrichte).
  • Und dennoch – es ist ratsam, sich vor Doktinen aller Art fürchten und davor, Menschen zu verachten, zu ächten, die Begriffe wie non-binär noch nie gehört haben.


19. April 2021

Pinky

Rubrik: Was frau nicht braucht

Teil 2 meiner Genderthesen muss aus aktuellem Anlass auf kommende Woche verschoben werden. Unbedingt will ich die Aktion gegen ein Produkt unterstützen, das einzig überflüssiger frauenfeindlicher kapitalistischer und klimaschädlicher Geldmach-Schwachsinn ist (erfunden und promoted von Männern): pinkfarbene Einweghandschuhe zum Wechseln und Einwickeln von benutzten Tampons.
Die hiesige (nordhessische) nicht gerade feminismusverdächtige Tageszeitung Hessisch-Niedersächsische Allgemeine kommentierte am 17. 4. 2021: „Das kommt dabei heraus, wenn Männer über Frauen nachdenken. Pinkfarbene Wegwerfhandschuhe zum hygienischen Entfernen von Periodenprodukten und – das ist kein Witz – zur Enttabuisierung des Themas. Vier Jahre haben die ,Frauenversteher‘ André Rittersürden (33) und Eugen Raimkulow (32) an der Idee getüftelt, die sie in der TV-Show ,Höhle des Löwen‘ vorstellten. Ab in die Höhle, möchte man ihnen zurufen!“
Und hier der Link zum die Gegenargumente exzellent zusammenfassenden Kommentar des auf instagram aktiven Frauenduos its.me.ooia.


12. April 2021

Gendern

Thesen zu */_:innen & X – Teil 1

Tiefe Schichten, die Identität gar scheint angegriffen zu werden vom Gendersternchen. Es haben beispielsweise Menschen meinen Newsletter abbestellt, weil ich gendere. Die Debatte um die differenzierte Verwendung von Begriffen wird hochemotional geführt. Der Diskurs um die sich verändernde Sprache ist tatsächlich hochkomplex, nicht zuletzt eben weil er neben ästhetischen und linguistischen Aspekten (die oft auch als Todschlagargumente benutzt werden) auch psychologische sowie kultur- und gesellschaftspolitische Felder berührt.
Ich leiste hier keinen wissenschaftlichen Beitrag. Ich ergreife hier Partei. Für mich, die ich nicht gelten soll. Für Andere, die nicht gelten sollen. Gegen die, die sich als HüterInnen von etwas angeblich Gutem und vermeintlich Ewigem aufspielen. Ich versuche, selbstgerechtes Gebahren und sogar Hass, die mir entgegenschlagen, wenn ich gendere, nicht mit selbstgerechtem Gebahren oder gar Hass zu beantworten. Mein Ziel ist Empowerment und Überzeugung und nicht Aufrüstung. Wenn ich mich auf das Gendern beschränke, liegt das daran, dass ich mich biografisch bedingt im Themenfeld Sex & Gender besser auskenne als beispielsweise im Themenfeld Rassismus. Die Thesen lassen sich aber meines Erachtens übertragen.

Hier also meine Anmerkungen bzw. Thesen zum Gendern, Teil 1:

  • Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken, ist Arbeit an Wahrnehmungen, ist Arbeit am produktiven Zweifel.
  • Immer wieder wird angeführt, dass es anstrengend ist, gegenderte Texte zu lesen. Für mich ist es anstrengend, weil wütend machend, Texte zu lesen, die im generischen Maskulinum geschrieben sind (Studenten) – ich fühle mich nicht mitgemeint, weder grammatisch noch inhaltlich. Texte, in denen das generische Femininum (Studentinnen) verwendet wird, lese ich deutlich entspannter – obwohl im generischen Femininum auch die genaue Differenzierung fehlt, steckt in den femininen Begriffen doch schon optisch mehr als in den maskulinen.
  • Es ist unsinnig, zum Beispiel in einem Text zu Cyber-Mobbing in der Schule, nicht differnziert zu benennen, ob es wirklich nur Schüler waren, die gemobbt wurden, oder auch Schülerinnen oder sogar vor allem sich als non-binär verstehende Jugendliche.
  • Es ist zumutbar, zumindest zwei Geschlechter zu nennen, das schaffen sogar konservative Politiker:innen öffentlich seit Jahren und seit einiger Zeit sogar Nachrichtensprecher:innen der öffentlich-rechtlichen Sender.
  • Neutrale Begriffe zu finden oder zu erfinden, schadet nicht – dass Studierende als Begriff grammatisch falsch sei, ist meines Erachtens ein Todschlagargument, das andere Interessen (Beibehaltung des Alten) verschleiert und Kreativität abgekanzelt.
  • Es ist zumutbar, sich der gesellschaftlichen Realtität zu stellen, dass es mehr als zwei Seinsweisen gibt, sowohl physisch/biologisch als auch psychisch als auch sozial-kulturell – tatsächlich schon, solange es Menschen gibt (siehe ethnologische und kulturanthropologische Forschungen).
  • Es ist unzulässig, Frauen sowie nicht-binäre Identitäten und Seinsweisen auszugrenzen – es ist notwendig, diskrimierungskritisch und diversitätssensibel zu sprechen und zu schreiben.
  • Nicht zulässig ist, mich zu beschimpfen, zu verhöhnen gar, ich würde mich anstellen, ich sei eine Emanze, ich verhunze die Sprache usw. – es sei denn, ich dürfte beschimpfend antworten, sie, die mich Angreifenden, würden sich angstvoll festkrallen an längst Überholtem, sie seien Ewig-Gestrige und würden diskrimieren, sie beschränkten die Sprache usw.
  • Ich gelte: als Frau, als Feministin, als Visionärin in Sachen non-binär.


5. April 2021

Funde am Karfreitag

Wörter auf der Untersuchungsliege

durch ein paar Zeitungsstapel gelesen (nicht weniger prokratinierend), also genauer gesagt habe ich die meisten Zeitungen und Zeitschriften (ZEIT, SZ … inkl. aller Magazine) nur durchgeblättert, irgendwie auch ein bisschen pflichtschuldig, einfach wegschmeißen geht eben doch nicht, selbst wenn sie schon sechs Wochen da liegen und ich die Lektüre nicht vermisst habe … Und dann finde ich ja auch immer etwas, das mich erreicht, das mich angeht.

Ausgerechnet in chrismon (4/2021) habe ich dann zwei mich erreichende, mich angehende Dinge gefunden:

  1. Ursula Ott, Chefredakteurin von chrismon, hat seit Kurzem einen Podcast: „Sprachstunde“. In diesem untersucht sie mit jeweils einem Gast zusammen ein Wort, das Menschen weh tut – und wenn diese Menschen ihr Verletztsein äußern, vehement verteidigt wird. Das jeweilige Wort kommt auf die Untersuchungsliege, bisher lagen dort die diese drei Wörter:
    • Exotisch (die Mannheimer Schulamtsdirektorin Florence Brokowski-Shekete ist zu Gast),
    • Problemstadtteil (die ehemalige Lübecker Kultursenatorin Annette Borns ist zu Gast),
    • Männlichkeit (Gianni Jovanovic ist zu Gast, Unternehmer, Performer, Roma-Aktivist).
  2. Außerdem habe ich folgendes Zitat von Wladimir Kaminer gefunden (im Gespräch mit Barbara Schöneberger): „Mich hat meine Tochter aufgeklärt, dass ich sexistisch und rassistisch bin, das habe ich nicht gewusst. Aber wir sind alle so, nicht weil wir schlechte Menschen sind oder andere nicht mögen, sondern weil wir es nicht anders kennen, deshalb merken wir es nicht und empören uns, wenn uns jemand darauf hinweist. Meine Tochter lernt europäische Ethnologie und Genderstudies, sie macht jetzt den Master – und ich möchte auch den Master machen und die veränderte Welt besser verstehen" (S. 30). Wie schön, dass es Menschen gibt, die sich öffnen.


29. März 2021

Daumenkino

Schreiben Richtung innen

Nimm ein Buch aus deinem Regal, das du noch nicht gelesen hast oder an dessen Inhalt du dich nicht mehr erinnerst (der Rechtschreibduden ist auch eine gute Möglichkeit). Du lässt die Seiten des Buches mit dem Daumen durchrauschen, ohne dass du Wörter bewusst erkennen kannst. Mach das einmal, höchstens zweimal. Anschließend entsteht ein Text, spontan, schnell, ohne bewusst aktivierten Gestaltungswillen.
Die Daumenkino-Schreibanregung stammt von meiner Regensburger Kollegin Sabine Rädisch. Sie aktiviert unser Vor-/Unter-/Unbewusstes.


22. März 2021

Kleines. Täglich.

Texte aus dem Vorfrühlingskalender II

24 Mal bis zum 20. März habe ich tägliche Schreibimpulse versendet (siehe Blog-Post vom 22. Februar). Nun ist der Frühling da – und noch einmal (wie schon vor zwei Wochen, siehe Blog-Post vom 8. März) haben mir einige der Teilnehmerinnen Texte zur Veröffentlichung überlassen. Deutlich werden Motiv-, Themen- und Formenvielfalt. Viel Vergnügen beim Lesen. Und vielleicht regen auch wiederum die Impulse sowie die Texte zu eigenen Schreibversuchen an.

Türchen 13, 9. März: Beichte (Gedicht von Eva Strittmatter)

Keimzelle

Ruht in unsrem
Denken.
Ruht in unsrem
Traum.

Zerstörerisches
Lenken.
Zerstörerisches
Schaun.

Ruht in unsrem
Herzen.
Ruht in unsrem
Sein.

Erlöser
Aller Schmerzen.
Erwachter
Sonnenschein.

Sandra Engelbrecht

Türchen 16, 12. März: B-Mannschaft oder: Plan B
Die Bremer Stadtmusikanten hatten einen guten Plan. Sie wollten nach Bremen und richtig was erleben. Doch im Wald da sind die Räuber, und nachts sind alle Katzen grau. Da griff Plan B, denn der Hahn auf dem Dach ist allemal besser als der Knüppel aus dem Sack.
Doris Apel

Türchen 17, 13. März: Zeit für ein Corona-konformes Abenteuer
GERISSENERGEDULDSFADENNERVENKOSTÜMSSAMTHANDSCHUHE
Doris Apel

Türchen 19, 15. März: Betrachtungen über Brillen und andere Alltäglichkeiten
Venedig
Es ist unglaublich. Sogar beim Nachdenken über Brillen fällt mir ein Film ein, der in Venedig spielt, meinem Sehnsuchtsort. Märchenhaft unwirklich und doch auch real in dieser realen Lagunenstadt. Der Film heißt Brot und Tulpen.
Ich sehe den Ehemann vor mir, der seine Ehefrau an einer Autobahnraststätte vergessen hat – was schon grotesk genug ist. Er steht in Venedig an einem kleinen Kanal und scheint wie aus der Zeit gefallen. Mollig, um nicht zu sagen: dick, ungeschickt gekleidet, schwitzend dank der sommerlichen Hitze schaut er auf einen maroden, alten Kahn. Den hat er eben von einem etwas zwielichtigen Vermittler als Unterkunft gemietet, da angeblich jedes Bett in Venedig an Touristen vermietet sei. Getoppt wird die unrealistische Szene – es gibt in Venedig keine Wohnkähne, schon gar keine maroden, und doch passt dieser in die Szenerie –, also getoppt wird die Szene durch die Brille, die er auf der Nase trägt. Sie ist konventionell und unauffällig, gäbe es da nicht diesen grauenvollen Aufsatz gegen das helle Sonnenlicht. Er ist praktisch, da man ihn hochklappen kann, wenn es zu dunkel wird. Da in die engen Gassen Venedigs jedoch kaum Sonnenstrahlen fallen, trägt der Mann ihn ständig hochgeklappt wie einen Baldachin vor sich her. Auch er scheint wie aus der Zeit gefallen, wie fast alle Protagonisten im Film. Alles ist erfüllt von Melancholie, Abschied, Vergangenem, Sehnsucht, Verfall, von vergänglicher Schönheit, und alles ist dennoch liebenswert in und an diesem Film. Und Venedig ist die passende Kulisse. Nicht die Prachtbauten bestimmen sie, sondern das Alltägliche, Vernachlässigte und dennoch Großartige. Filmhandlung und Kulisse sind eins. Die grotesk anmutende altertümliche Brille gehört zu dem Ehemann, der nicht begreifen kann, warum er das Wichtigste verloren hat. Was für eine Symbolik für Venedig.
Brigitte Warlich-Schenk

Türchen 23, 19. März: Zum Greifen nah

Zum Greifen nah

Seit einem Jahr sind sie immer zum Greifen nah
unsere unangemeldeten Begleiter
sie zerknittern in der Hosentasche
verstecken sich im Handschuhfach
und hängen am Rückspiegel

Seit einem Jahr sind sie vor aller Munde
unsere neuen Accessoires
sie lassen uns nicht los
wollen nicht mehr verschwinden
und entführen unser Lächeln

Seit einem Jahr sind sie zum Greifen nah
die Masken
obwohl gar kein Maskenball auf uns wartet

Schade

Agnes Heisler


15. März 2021

One-Minute-Paper

Freewriting-Variante

„Dichten ist für mich … eine zu klein geratene Praline, Energieverschwendung de luxe, nicht das, was ich routinemäßig tue – mal abgesehen vom Haiku-Schreiben (aber ob das Gedichte sind …).“ So der Wortlaut meines One-Minute-Papers aus einem Workshop Ende Februar. Der Impuls hieß: Dichten ist für mich …
Ein kurzes Innehalten, eine kurze Reflexion, ein fokussierter Schreibsprint – One-Minute-Papers kann man in vielen Situationen verfassen. Um sich kurz einmal herauszunehmen aus der Situation, um schreibbasiert nachzudenken oder um etwas auf den Punkt zu bringen. Es ist wichtig, eben nicht nur ein paar Stichworte aufzuschreiben, sondern dem Gedankenstrom zu folgen, wie beim klassischen Freewriting.
Trotzdem ist ein One-Minute-Paper wiederum kein klassisches Freewriting – weil nach einer Minute schon Schluss ist. In didaktischen Unterrichtsempfehlungen wird dieses Verfahren auch verwendet, um den Lernstand abzufragen oder ein Feedback einzuholen. Hier soll es aber empfohlen werden wie oben beschrieben, als selbstwirksames Mini-Verfahren.


8. März 2021

Kleines. Täglich.

Texte aus dem Vorfrühlingskalender

Seit dem 25. Februar versende ich jeden Tag einen einfachen Schreibimpuls an Menschen, die sich zu diesem Kurs (siehe Blog-Post vom 22. Februar) angemeldet haben. Nun ist Halbzeit – und einige haben mir jeweils einen Text zur Veröffentlichung überlassen. Deutlich wird, dass die unterschiedlichen Impulse sehr unterschiedliche Texte hervorlocken. Viel Vergnügen beim Lesen.

Türchen 1, 25. Februar: Stifte-Skulptur
(Foto: Kirsten Alers)

Stiftewand
Der Himmel ist klar in hellblau getaucht und von keinem Wölkchen getrübt, und die Sonne grüßt mit freundlich wärmenden Strahlen. Frühlingserwachen überall. Die Außentemperatur liegt im zweistelligen Bereich. Dabei lag sie vor zwei Wochen noch zweistellig im klirrend kalten Minusbereich. Vergessen sind die dicke Schneedecke, die zugefrorenen Flüsse und Seen, die in ihren Parkbuchten festgesetzten, von Schneebergen umwallten Autos, die im Depot gebliebenen Straßenbahnen und die am Himmel fehlenden Flugzeuge.
Eine ungewohnte Ruhe bestimmte das Leben. Und die Menschen erinnerten sich fast ungläubig an die Winter, wie sie einmal waren. Nach dem ersten Schock genossen sie den Ausnahmezustand, der über sie gekommen war. Der helle Schnee lockte sie raus mit Schlitten und Skiern. Sie bauten Schneemänner und Iglus. Kinder kugelten dick eingepackt über Schneehänge und freuten sich. Die Sonne weckte erste Frühlingsgefühle und nährte die Hoffnung auf bessere Zeiten als die zurückliegende Corona-getränkten. Und jetzt, zwei Wochen später, ist der Schnee fort, aber die Sonne geblieben. Erste Frühblüher recken plötzlich überall ihre Köpfe aus der Erde gen Himmel, und Vogelgezwitscher füllt die Luft. Erste Pollen quälen die Allergiker und die wärmende Winterkleidung bringt die Menschen zum Schwitzen. Die Umstellung ging zu schnell. Aber alle sind glücklich.
Die Sonne liegt warm auf der nahezu weißen Wand mit der davor schwebenden Skulptur aus drei parallel angeordneten Buntstiften einem gelben, einem grünen und einem roten. Man kann sie für Düsenjets halten, die synkron mit leicht gesenkter Nase im Sinkflug lautlos über eine Wüste – vielleicht die Sahara – streifen, unaufhaltsam ihrem imaginären Ziel entgegen, und ihren Schatten auf dem Sand zurücklassen. Frühlingserwachen ist Sehnsuchtserwachen. Wie schön wäre es, frei zu sein, um wie ein Vogel einfach davonzugleiten zu einem fernen Ziel, begleitet von den ersten wärmenden Sonnenstrahlen und einem kühlenden Lufthauch und voller Hoffnung.
Brigitte W.

Türchen 7, 3. März: ICH MAG DICH TEN
(Grafik: Yara Semmler)

Ich mag Gedichte
Ich – AngelSchnur
Ich – BackPinsel
Ich – ChatRoom
Ich – DeckMantel
Ich – EssZimmer
Ich – FegeFeuer
Ich – GrabHügel
Ich – HaltePunkt
Ich – IrrLichter
Ich – JubelPaar
Ich – KnallErbsen
Ich – LiebReiz
Ich – MischPult
Ich – NagelSchere
Ich – OpferStock
Ich – PlanÄnderung
Ich – QuasselStrippe
Ich – RufMord
Ich – SehHilfe
Ich – TretBoot
Ich – UlkNudel
Ich – VexierBild
Ich – WarnWeste
Ich – X-Beine
Ich – JoyStick
Ich - ZiehVater
Nicole Ohm-Hansen

Türchen 9, 5. März: Rosa Luxemburg, geboren am 5. 3. 1871
Berlin, 15. Januar 2019
Ich ziehe meine Mütze über die Ohren,
puste in meine Hände
und steh vor deinem unscheinbaren Grab
mit deinem großen Namen

ROSA LUXEMBURG

Polin, Bürgerin, Jüdin?, Übersetzerin,
Intellektuelle, Feministin, Revolutionärin,
Frau, Märtyrerin.

Deine kleine Gestalt mit Damenhut hinkt
unbeirrt den Herren und Arbeitern voraus,
um ihnen den Weg zur Freiheit zu zeigen.

Verschmäht, verehrt, gehasst, verfolgt,
festgenommen.

Die verwelkten Nelken wirbeln auf
und legen dein Grab frei.

ROSA LUXEMBURG
ERMORDET
15. JANUAR 1919

Ich schiebe meinen Schal über die Nase,
trete von einem Bein auf das andere
und sehne mich nach dir.

Wie gerne würde ich einen Tee mit dir trinken,
bevor dein geschändeter Körper
aus dem Landwerkanal gezogen wird,

damit du mir den Weg zur Freiheit zeigst.

Agnes Heisler-Intetrad

Türchen 10, 6. März:
Gedicht aus gezeichneten Pflanzenteilen (Mary Plant)

All die weißen Tage.
All die leisen Tage.
All die heißen Tage.
Sind sie Plage
oder nur
der Dinge Lage.
U. H.

Klone
Leise Linien
bilden Bilder
bilden Worte
bilden Dich

Zarte Zeichen
zeichnen Pflanzen
zeichnen Kräuter
zeichnen Mich

Freie Formen
formen Leben
formen Welten
formen Uns

Dich aus Linien
Mich aus Zeichen
Uns aus Formen
Klone der Kunst

Marlies Lamberg


1. März 2021

Magisches

Fund im Bücherregal

Manchmal ist es magisch – du gehst an deinem Bücherregal entlang, weil du ein Buch suchst, dessen AutorIn dir entfallen ist, das aber in deiner Erinnerung einen pinken Umschlagsrücken hat … und dann wirst du von einem magisch angezogen, obwohl es einen orangefarbenen Rücken hat … Es heißt Magische Blätter III. Du kannst dich nicht erinnern, jemals darin gelesen zu haben, du kannst dich noch nicht einmal erinnern, wie es in dein Regal gekommen ist. Manchmal nimmst du aus einer dieser Kisten vor den Häusern ein Buch heraus, manchmal bringen dir SchreibschülerInnen ihre aussortierten Bücher mit … Nun, jedenfalls ist es nicht verwunderlich, dass du es genommen oder behalten hast – es ist nämlich von einer der AutorInnen, die dich magisch anziehen: Friederike Mayröcker. Du schlägst es auf und liest:

„blauer Bericht / Erdichtungen
blauschielend der Morgen : hatte ich nicht seit Wochen auf einen solchen Morgen Morgenhimmel gewartet, gehofft, sehnsüchtig bin ich auf die Suche gegangen nach blau, alle Tage bin ich auf die Suche gegangen, habe kein blau gefunden, das mir unter die Röcke gefahren, mich angezischt, durchblitzt, durchflutet, aufgewühlt und geschunden hätte. Endelich, heute!, blauschielend der Morgen! an den Fenstern sinken stahlblaue Stores herab usw. […]“ (S. 38).
Friederike Mayröcker: Magische Blätter III. edition suhrkamp 1991


22. Februar 2021

24 Vorfrühlingsversüßungsschreibimpulse

Tägliches Schreiben hin zum Frühlingsbeginn ab dem 25. 2.

„Es gibt überall Blumen für den, der sie sehen will“ (Henri Matisse).
Noch sind die Kontaktmöglichkeiten stark eingeschränkt, noch ist es Winter – wir sehnen die Begegnungen, die Wärme und den unbeschränkten Aufenthalt im Freien herbei. Was könnte es Besseres geben, um das Warten nicht endlos lang erscheinen zu lassen, als das Schreiben?! Schreiben macht Spaß, führt in die Weite und in die Tiefe, aktiviert unsere Lebensenergien, drängt das lähmende Gefühl des Wartens in den Hintergrund. Hier setzt die Idee des Vorfrühlingsversüßungskalender mit 24 virtuellen Türchen an. Jeden Morgen verschickt die Kursleiterin per Mail einen einfachen, manchmal gar minimalistischen Schreibimpuls. Das Schreiben gestalten die Teilnehmenden selbst. Es besteht gern die Möglichkeit, einmal einen kurzen Text als Gastbeitrag auf meinem Blog, also hier zu veröffentlichen. Vorkenntnisse im Schreiben sind nicht erforderlich. Teilnehmende benötigen ein internetfähiges Gerät (Computer, Tablet, Smartphone etc.) zum Empfangen der täglichen Mail.

Kursleitung Kirsten Alers
ZeitenDonnerstag, 25. 2., bis Samstag, 20. 3., 24 Impulse täglich 9 Uhr (individuelles Schreiben)
Orteim virtuellen Raum
Kosten30 Euro
Anmeldungvhs-region-kassel.de, Tel. 0561/1003-1681, Kursnummer: 202-05459


15. Februar 2021

Zettelgeschichten

Kostenlose Mitbringsel vom Einkaufen

Da, ein handbeschriebener, weißer Zettel auf dem weißen Schneeberg – ich hebe ihn auf. „Milch (2 l), Reiswaffeln, Käse, Zahnpasta, Bananen, Schokolade (zb), Chips“ lese ich. Eine schöne Schrift, ausladend, wahrscheinlich von einer Frau. Ein Bild taucht in meinem Inneren auf: Eine Frau, Mitte 70, Kurzhaarschnitt, blau-türkise, wollige Oberbekleidung, sitzt in einem Sessel und schaut den Tatort, in ihrem unteren Rücken eine Wärmflasche, auf ihrem Schoß ein Teller mit Häppchen: Reiswaffeln mit Cheddarkäse, Bananenscheibchen, vier Stückchen Zartbitterschokolade, ein kleiner Berg Paprika-Curry-Chips, in der Hand hält die Frau eine große Tasse mit Kakao. Ich sehe diese Frau nicht nur, ich fühle sie auch, ,weiß‘, welchen Beruf sie einst hatte, warum sie Tatort schaut und warum niemand außer ihr da ist.
Immer wieder bleiben Einkaufszettel im Einkaufswagen zurück oder fallen aus der Jackentasche und landen im Schnee. Wenn du das nächste Mal beim Einkaufen einen solchen findest, nimm ihn mit nach Hause und lass ein Bild in dir auftauchen, das dich dann zu einer Figur oder einer Szene führt.
Der Buchtipp zur Schreibanregung: Kathrin Pläcking: Zettelgeschichten. Freiburger Verlag 2009


8. Februar 2021

Mit allen Sinnen

Eine Woche Kreatives Schreiben ab dem 14. 2. 2021

„Alles in der Welt ist merkwürdig und wunderbar für ein paar wohlgeöffnete Augen“ (José Ortega y Gasset).
„Schreiben führt zu anderen Sichtweisen“ (Helga Kämpf-Jansen).
Insbesondere in Zeiten erzwungener Kontaktbegrenzungen und Ortsgebundenheit sollten wir unsere Sinneswahrnehmungen und Imaginationskräfte stärken, um uns das übervolle Sein in der natürlichen und kultürlichen Umgebung vor unseren Haustüren zu vergegenwärtigen. Schreiben gilt als eine der hervorragenden Methoden, um außergewöhnliche Lebenssituationen zu verarbeiten, aber auch, um im kreativen und selbstbedeutsamen Tun eben jene inneren Kräfte zu aktivieren, damit wir handlungs- und zukunftsfähig bleiben.
An sechs Tagen versende ich jeden Morgen eine zweiteilige Schreibaufgabe mitsamt Anleitungen und Hintergrundmaterial, die die Umgebung des Wohn- und Schreibortes mit einbezieht. Im Laufe des Tages entstehen in Einzelarbeit Geschichten, Gedichte und experimentelle Texte. Und jeden Abend findet ein dreistündiges Gruppentreffen mittels Videokonferenz statt, bei dem Texte vorgelesen und beantwortet werden; Gespräche über das Schreiben als Handwerk und jetzt noch Unbekanntes bekommen ebenfalls Raum. Vorkenntnisse im Schreiben sind nicht erforderlich. Der Link wird kurz vor Workshopbeginn per Mail verschickt, ein Programm muss nicht heruntergeladen werden; Teilnehmende benötigen ein internetfähiges Gerät (Computer, Tablet, Smartphone etc.) inkl. Kamera und Mikrofon.

Kursleitung Kirsten Alers
ZeitenSonntag, 14. 2., bis Freitag, 19. 2., täglich 9 Uhr Schreibimpuls und individuelles Schreiben, 18 bis 21 Uhr Videokonferenz für alle Teilnehmenden
Orteam eigenen Wohnort und im virtuellen Raum
Kosten81 Euro
Anmeldunghs-region-kassel.de, Tel. 0561/1003-1681, Kursnummer: 202-05458


1. Februar 2021

Feministisch bloggen

Damit die Welt eine andere werde

Gestern habe ich in meinem virtuellen Unterricht an der Uni Kassel zum ersten Mal zu mir im Grunde unbekannten Menschen gesagt, dass ich mich als feministische Bloggerin verstehe. Ja, das tue ich, das bin ich. Ist vielleicht auch deutlich geworden in den fast sieben Jahren, in denen ich hier schon jeden Montag etwas poste. Meine Berliner Kollegin Nadja Damm weiß das schon. Sie arbeitet intensiv zum Thema feministisch bloggen. Sie versteht das feministische Bloggen als diskriminierungskritisches und diversitätssensibles Handeln. Und sie will sich in ihrer Perspektive nicht aus Themen beschränken lassen. Sich als Feministin zu verstehen, heißt eben nicht, sich auf Frauen- oder Genderthemen beschränken zu lassen! Feministisch zu denken und zu handeln, heißt die Welt anders zu denken und entsprechend zu handeln. In ihrem Dezember-Post hat sie sich zum Thema Rassimus positioniert und verweist im folgenden Beitrag auf diverse andere Beiträge dazu:
Damm, Nadja (2020): #4GenderStudies: Rassistische Strukturen in der Lehre überwinden. Blogeintrag auf feministischbloggen.de, abrufbar hier.


25. Januar 2021

Q-Spiele

Was aus Gesprächen werden kann

Am 12. Januar – ich war zu Besuch bei meinen Eltern in Mülheim – ging ich mit meiner Schwester Imke an der Ruhr spazieren, den ganzen Weg von der Mendener Brücke bis zur Ruhrtalbrücke und wieder zurück, sieben Flusskilometer. Wir sprachen über unsere Eltern, unsere Sorgen, unseren Umgang mit der Pandemie, unsere Söhne – und über Spiele mit Sprache, Lautpoesie, Vertonungen usw. (Imke ist Oboistin bei den Duisburger Philharmonikern und Musikvermittlerin im Verein Dinslakener Kinderkonzerte. Kaum war ich wieder in Kaufungen, bekam ich das folgende Blatt per Mail von Imke. Ich mag es sehr. Und es könnte (oder dürfte) anregend wirken!


18. Januar 2021

Lioba Happel: Frisch gekürt

mit dem Alice Salomon Poetik Preis 2021

Am 16. Januar wurde der Alice Salomon Poetik Preises 2021 verliehen. Die Schriftstellerin und Sozialarbeiterin Lioba Happel (geb. 1957) erhielt den Preis im Rahmen des Neujahrsempfangs der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin. Da die Veranstaltung ohne Publikum stattfand und aufgezeichnet wurde, kann sie auf der Website der Hochschule angeschaut werden. Oder auf youtube.
Insbesondere die Dankesrede der Preisträgerin (ab Minute 70) ist überaus berührend und Mut machend. Sie, eben auch studierte Sozialarbeiterin und immer wieder auch als solche tätig, bricht eine Lanze für „das Helfen, die oft weggespottete Fähigkeit“ und für die Soziale Arbeit als „größte aller Künste“, weil sie es vermag, „die Welt des Ichs und die Welt des Nicht-Ichs“ zu verbinden und eine Haltung sozialer Intelligenz zu entfachen vermag, die dazu ermuntert, die Augen aufzumachen, zu erkennen und einzugreifen – zur Not auch menschenunwürdige Verhältnisse einzureißen: „Denn etwas stimmte immer noch nie, niemals im Gefüge der Welt.“ Menschen, die in der Sozialen Arbeit und im Schreiben sich verorten, sollten sich diese Dankesrede der Lioba Happel unbedingt anhören.
Lioba Happel – bis vorgestern hatte ich noch etwas von dieser Schriftstellerin gehört oder gar gelesen. Was ich bedaure. Denn sie widmet sich den brennendsten und dauerbrennendsten gesellschaftlichen Missständen – und kann durch eine kompetente Ästhetisierung des Alltags überzeugen, ohne mit erhobenem pädagogischen Zeigefinger überzeugen zu wollen, so eine der Begründungen der Jury.
Möglicherweise wird dann demnächst folgender Satz, der eine kreative Abwandlung bzw. Umkehrung eines Verses aus dem Gedicht An die Nachgeborenen von Bertolt Brecht ist („Was sind das für Zeiten, / wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, / weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt.“), an der Südfassade der Hochschule zu lesen sein: „Was sind das für Zeiten, in denen kein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist.“ Dort steht jetzt noch ein Gedicht der Alice Salomon Poetik Preisträgerin von 2017, Barbara Köhler (1959–2021), die vor zehn Tagen leider gestorben ist. (Das Gedicht wird nicht deshalb überschrieben, sondern weil die Texte an dieser Wand in festgelegtem Turnus wechseln.)


11. Januar 2021

Nimm 2

Erhellendes durch ,Überlistungen’

Den Namen fand ich schon als Kind genial: „nimm2" stand (und steht) auf der Tüte, erlaubt war es also, gleich zwei auf einmal zu nehmen, das war sonst nie erlaubt! Aber was nützt es mir, die gedruckte Erlaubnis zu bekommen? Gar nichts! Ich fand diese Bonbons mit der glibberig-cremigen Füllung, die auch noch nach Frucht schmeckten, widerlich. Also blieb ich bei Lakritz – eine Tüte Katjas reicht echt lange, wenn man immer nur eins nimmt und lutscht!
Über Süßigkeiten der Kindheit und die die familiären Verzehrregeln könnte auch geschrieben werden – ein anderes Mal! Die Idee, die sich hinter der Überschrift "Nimm 2" verbirgt, ist folgende:
Wähl zwei Begriffe, die weit voneinander entfernt liegen. Du kannst z. B. MONTAG und FLUTLICHT wählen. Zu diesen beiden Begriffen machst du jeweils ein Akrostichon in der Kryptichon-Satz-Variante. Hier zwei Beispiele von mir (zu SONNTAG und CORONA):

S onderbar
O bertonreich
N agen
N ebensächliche
T hemen
A m
G enerellen

C lusterartig
O perieren
R espektlose
O rganisationen
N eben
A rtverwandten

Nun soll aus diesen beiden ,Vortextchen’ (die aber natürlich auch schon zufriedenstellend sein können) ein Text entstehen – entsprechend des Versprechens in der Unterüberschrift dieses Posts.

  1. Du kannst das erste Wort aus dem ersten und das letzte Wort aus dem zweiten Akrostichon als Impulse nehmen, hier also: Sonderbar / Artverwandten.
  2. Du kannst die jeweils dritten Wörter nehmen, hier also: Nagen / Respektlose.
  3. Du kannst aus beiden das jeweils längste (oder kürzeste) Wort nehmen, hier also: Nebensächliche / Organisationen (Am / Neben).
  4. Du kannst auch einfach die beiden Kryptischen-Sätze als ganze mit in deinem Text verarbeiten, hier also: Sonderbar obertonreich nagen nebensächliche Themen am Generellen. / Clusterartig operieren respektlose Organisationen neben artverwandten.
Lass nun deinen Assoziationsfluss frei fließen. Es gibt so viel, was wir schreibend wollen – wenn wir uns dem Zufall, der ja auch oft nur bedingt so zu nennen ist, überlassen oder anvertrauen, entsteht etwas, mit dem wir nicht gerechnet haben, das uns aber trotzdem etwas von uns selbst offenbart.


4. Januar 2021

Ins Neue starten …

… mit leichter Hand

In diesen Tagen telefonieren wir wahrscheinlich mehr als üblich – wir wünschen unseren Liebsten ein gutes neues Jahr und außerdem ist Lockdown und wir können uns nicht im Café oder in Küchen zum Neujahrsplausch treffen … Wenn du auch zu den Menschen gehörst, die während des Telefonierens kritzeln, schreib doch einfach zwischendurch mal ein paar Wörter mit, die aus dem, was die andere Person sagt, hervorleuchten. Und wenn ihr dann euer Telefonat beendet habt, machst du ein Elfchen – mit leichter Hand. Dieses kannst du dann der Person (vielleicht gar auf Papier mit der echten Post) zukommen lassen. Ein Elfchen besteht aus 11 Wörtern in 5 Zeilen (1, 2, 3, 4, 1 Wörter), beginnt klassisch mit einer Farbe und endet klassisch mit einer Quintessenz oder einem noch andere Räume öffnenden Begriff. Gestern habe ich aus Texten einer Kollegin, die ich hören durfte, ein paar Wörter und Halbsätze notiert – und in einem Elfchen verarbeitet.

Elfchen für Sabine
blassrosa
mit Salbei
betrittst du Räume
springst in heißen Brei
atmest


28. Dezember 2020

Zum Jahresende

Warum nicht schreiben?!

Als dieses Jahr begann, dachte ich, es müsse ein besonderes werden – allein schon wegen der tollen Zahl 2020 und weil ich am Ende 60 und Oma geworden sein würde. Nun, 60 und Oma bin ich geworden, und das Jahr war tatsächlich ein besonderes – allerdings ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Zum Ausklang möchte ich vorschlagen zu schreiben – was auch sonst?! Als Impuls möge folgendes Zitat dienen, mit dem ich mich verabschiede vom Schreibblog-Jahr 2020:
„Wir leben nicht in besinnlichen Zeiten, aber das Schreiben ist eine besinnliche Erfahrung, selbst wenn die Vorstellung, dass etwas wohlüberlegt und langsam abläuft, statt sich sofort zu entfalten, nicht zur heutigen Schnelllebigkeit passt.“
Die US-amerikanische Schriftstellerin Meg Wolitzer schrieb es in dem von Ilka Piepgras herausgegebenen und in diesem Jahr bei Kein&Aber erschienenen Band Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben, das ich mir selbst zu Weihnachten schenkte.


21. Dezember 2020

Erfreuliche Einsichten

Sprache lebt und prägt das Denken

Beim Stöbern auf der Website des Hermann Schmidt Verlags fand ich in der Beschreibung des Buches von Maren Martschenko Design ist mehr als schnell mal schön (2020) folgenden Textausschnitt unter der Überschrift „Ein Wort zur Sprache“:
„Dieses Buch ist das erste Schmidt-Buch, in dem wir alles daran gesetzt haben, gendergerecht zu formulieren. Maren Martschenko und wir haben viele Varianten ausprobiert. Wir sind miteinander oft gescheitert an Binnen-I‘s und Gendersternchen.
Schließlich haben wir uns entschieden, hoffentlich konsequent, Gestalterinnen und Gestalter zu benennen und selten Gerundivformen zu bilden. Sprache lebt und Sprache prägt unser Denken. Wenn wir Gleichberechtigung ernst nehmen, ist es wichtig, sie sprachlich abzubilden. Wenn das noch ungewohnt ist, müssen wir uns daran gewöhnen. Das tun wir, indem wir es üben. Wir wissen nicht, welche Form sich durchsetzen wird. Bücher sind Zeugen ihrer Zeit. Dieses wird neben seiner inhaltlichen Bedeutung für immer das Erste sein, das in dem wir es immerhin konsequent versucht haben …“.
Der Hermann Schmidt Verlag ist nicht verdächtig, besonders feministisch zu sein, der so begründete Umgang mit dem Thema gendergerechte Sprache aber kann m. E. als nachahmenswert bezeichnet werden.


14. Dezember 2020

Rauhnacht-Texte

Schreiben zwischen den Jahren

Die Zeit ,zwischen den Jahren’ gilt seit alters her als eine besondere. Den zwölf Rauhnächten um den Jahreswechsel zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar wird eine spezielle Kraft zugesprochen. Mannigfaltige Rituale sind überliefert. Ihren Ursprung hat die Heraushebung von zwölf Nächten in der Differenz zwischen Mond- und Sonnenjahr: Während ein Mondjahr 354 Tage hat, hat das Sonnenjahr 365 (oder alle vier Jahre 366).
Unabhängig davon, ob man sich mit spirituellen Ritualen verbinden möchte: Die Zeit zwischen den Jahren empfinden viele von uns als eine, die herausfällt aus allem – sie gehört nicht zum alten und auch noch nicht zum neuen Jahr, wir lassen das Vergangene Revue passieren, bereiten uns (z. B. mittels der berühmt-berüchtigten guten Vorsätze) auf das Kommende vor. Die Rauhnächte sind also eine ideale Zeit, um zu schreiben: zur Besinnung, zur Selbstreflexion, zur Reinigung, zum Abschließen, zum Neubeginnen. Dazu lade ich dich ein.
Jeden Abend verschicke ich per Mail einen Schreibimpuls aus den Kontexten des Kreativen und des heilsamen Schreibens, der zur alten Symbolik der Tage passt; die Impulse bauen aufeinander auf.
Kosten: 60 bis 75 € (nach Selbsteinschätzung für 12 mehrteilige Schreibimpulse)
Anmeldung: per Mail bei Kirsten Alers
Anmeldeschluss: 20. Dezember

P.S. Mein aktualisierter Newsletter mit vielen weiteren Schreibangeboten ist hochgeladen.


7. Dezember 2020

Geschenke

auch zum Advent

Über meine Leipziger Kollegin wurde ich eingeladen, an einer Adventskalenderaktion mitzumachen. Ich habe also 24 gleiche Päckchen gepackt (übrigens mit meinen sechs Lieblingsschreibanregungen darin) und selbst letzte Woche dann einen Adventskalender bekommen – mit 24 Päckchen von Menschen, die ich gar nicht kenne. Ohhh, wir lange ich keinen Adventskalender mehr hatte! Und wie schwer es ist, immer nur ein Päckchen auszupacken …
Und dann bekomme ich plötzlich noch einen: Meine Schreibfreundin Nicole O. aus Kaufungen schickt mir jeden Tag fünf bis sieben Zeilen eines in Kassel spielenden Kurzkrimis. Es ist eine ganz schön große Herausforderung, nicht weiterlesen zu können, weil es doch täglich spannender wird …
Und ebenso plötzlich bekomme ich einen dritten Adventskalender: tägliche Schreibimpulse, die meine Schreibfreundin Barbara R. aus München an ihre MitbewohnerInnen in der Hausgemeinschaft jeden Morgen verschickt – und an mich! Ohhh, wie großartig es doch ist, diese Schreibimpulse zu bekommen, die ich mir nicht selbst ausgedacht habe! (Danke, Barbara!) Aus Barbaras Kalender nehme ich den Impuls vom 5. 12., die mir sehr gut in diese Zeit zu passen scheint, aber möglicherweise auch mannigfaltige Assoziationen auslöst: Im Lotterbett lümmeln.

P.S. Und wenn du gern tägliche Schreibanregungen bis zum 24. 12. von mir bekommen möchtest: Schau einfach in den Post von letzter Woche!


30. November 2020

Adventskalender

24 Schreibimpulse kostenlos

Was macht eine Schreibpädagogin, deren Schwerpunkt auf der Leitung kreativ schreibender Erwachsenen-Gruppen liegt, wenn deren Arbeit wegen einer Pandemie untersagt ist, wenn sie aber trotzdem nicht anders kann (und will), als an ihre allein an ihren Schreibtischen sitzenden SchreibschülerInnen und -freundInnen (die alle Gartenarbeit erledigt haben und sich auch nicht in den Weihnachtstrubel in der Stadt stürzen wollen) zu denken und sich zu fragen, wie sie ihnen kleine Schreiberlebnisse bescheren kann? Ah, bescheren … Haben wir nicht Advent, und freuen sich nicht auch Erwachsene über einen Adventskalender?!
Morgen, am 1. Dezember, starte ich eine kostenlose Aktion: den exklusiven Schreibimpuls-Adventskalender! Es gibt jeden Tag per Mail einen winzigen Schreibimpuls. Immer nur ein Wort, einen Satz, ein Verslein, ein Bild. Keine Formvorgaben. Du nimmst das Angebot als Impuls, lässt es in dich hineinsinken, gehst damit in Resonanz und schreibst. 3 Minuten, 14 Minuten, 37 Minuten …
Alle, die regelmäßig meinen Newsletter bekommen, erhalten die Impulse automatisch. Wenn du, die du das hier liest, noch nicht im Verteiler bist, melde dich gern per Mail bei mir, dann bist du dabei! Und du kannst das Angebot bzw. die täglichen Impulse auch sehr gern weitergeben. Interessierte schreiben mir einfach eine Mail und werden mit ,versorgt‘.


23. November 2020

Bin ich eingeboren?

Das Unbehagen in den Begriffen

Durch die Protest- und Widerstandsbewegung BlackLivesMatter bin ich aufmerksamer geworden bezüglich all der Formen des Rassismus, die mir tagtäglich begegnen – bei anderen Menschen und bei mir. In den Kontexten, in denen ich mich bewege, habe ich es mit allen drei Ebenen des Rassismus zu tun, die in der Literatur unterschieden werden: Alltäglicher Rassismus begegnet mir in der Straßenbahn, den Schreibwerkstätten, Familiengesprächen, beim Sport; institutioneller Rassismus begegnet mir in den Strukturen und Curricula der Bildungsinstitutionen, in denen ich selbst unterrichte und mit denen ich über andere Menschen in Kontakt bin; und epistemischer Rassismus begegnet mir überall dort, wo ich lese und denke.
Ich äußere mich immer, wenn ich auf Rassismus in realen Begegnungen treffe. Auch wenn ich nicht weiß, ob die anderen Personen zuhören, verstehen, innehalten oder gar etwas ändern. Einfach nur, um etwas dagegen zu stellen. Eine andere Sicht auf die Dinge. „Man kann das auch anders sehen“, ist einer der Sätze, die ich seit Jahrzehnten in allen möglichen Kontexten benutze. Vielleicht einfach erst einmal nur, um zu stören, die vermeintlichen Gewissheiten, die Selbstverliebtheit, die Machtansprüche. Und auch, um überhaupt etwas mehr zu tun, als ab und zu zu spenden.
Aber jetzt, durch das im öffentlichen Raum wieder präsentere Thema in den USA und in Deutschland (existiert hat es ja immer), suche ich auch bewusster nach Begriffen. Denn ganz im Gegensatz zu vielen Menschen in meiner Umgebung halte ich eine korrekte Sprache für notwendig: Einerseits verändert sich ja nicht nur die Welt und in Folge die Sprache, sondern wir schauen auch anders auf die Welt, machen uns ein anderes Bild von ihr, je nachdem, ob wir – nur um ein Beispiel zu nennen – Nigger oder Afrodeutsche oder persons of colour sagen oder hören. Andererseits will ich auch wissen, wie die Menschen, die mit Rassismus konfrontiert sind, sich selbst bezeichnet haben möchten, denn auch ich möchte meine Selbstbezeichnung bestimmen können; so forderte ich schon vor Jahrzehnten, dass in meinem Abschlusszeugnis nicht stand – um auch hier ein Beispiel zu nennen: „… darf den Titel des Diplompädagogen tragen“ (leider steht es da immer noch so, in modernen Zeugnissen hoffentlich nicht mehr).
Nun habe ich mich also gefragt, wie ich mich denn nennen soll, wenn ich sagen möchte, dass und warum ich keine eigenen Rassismuserfahrungen habe. Den Begriff biodeutsch fand ich zuerst ganz witzig – dann erfuhr ich, dass er zwar vor vielen Jahren erstmalig von Cem Özdemir benutzt wurde, aber heutzutage von BiologistInnen und rechtslastigen Gruppierungen besetzt ist; zudem besagt der Begriff ja nun auch nicht, dass ich weiß bin. Da ich die Bezeichnung Deutsche ohne Migrationsgeschichte/-hintergrund zu umständlich finde, fragte ich meine Kollegin Nadja Damm (sie hat eine große Expertise bzgl. diskriminierungssensibler Sprache). Sie wies mich darauf hin, dass es ja auf den Kontext ankäme, in dem ich mich selbst bezeichne, welcher Begriff passt.
So also kann ich mich wohl manchmal einfach als weiße Deutsche, manchmal als Herkunftsdeutsche und ganz manchmal vielleicht gar als eingeborene (autochthone) Deutsche bezeichnen.


16. November 2020

Martinssommer

mitten im Totenmonat

Bis ich letzte Woche im Wetterbericht einer Nachrichtensendung den Begriff hörte, war er mir vollkommen unbekannt: Martinssommer. Um St. Martin herum scheint es immer wieder einmal ein letztes Aufbäumen des Sommers zu geben – in diesem Jahr ist es in jedem Fall so. Dieses Wetterphänomen wird Martinssommer genannt und ist quasi das Pendant zu den Eisheiligen Mitte Mai. Der November also ist nicht nur ein Totenmonat. Vielleicht eine gerade jetzt passende Schreibanregung, zur Lichtsymbolik des Martinsfestes und zum Sommer im November zu schreiben – draußen!


9. November 2020

Hybride Geselligkeit

im Lockdown light

Damit kein Verdacht aufkommt: Ich halte ein Eingreifen in Form von verordneten Maßnahmen (insbesondere im Hinblick auf die Krankenhauskapazitäten) für alternativlos, ich halte mich an alles, ich halte mich von Rechtsaußen und denen, die nicht querdenken, sondern nur querwollen, aber sowas von fern, ich halte mich – und ein paar Andere, die weniger privilegiert sind als ich. Aber …
Warum darf ein gut gefülltes Kreuzfahrtschiff auslaufen, aber kein Konzert stattfinden? Warum darf ich in alle Läden, seien sie auch noch so unübersichtlich und wuselig, aber nicht ins Museum, wo außer mir noch drei andere auf hunderten von Quadratmetern Kunst betrachten? Warum darf ich mich in eine überfüllte Straßenbahn quetschen, aber nicht Schreibwerkstatt machen in einem Raum, der von der vhs und von der Kommune als geeignet angesehen ist?
Ich war sauer, dass ich nicht in Präsenz weiterunterrichten darf, und noch saurer, als ich hörte, dass in Berlin vhs-Kurse laufen! Aber dann überkam mich (irgendwie ist es bei mir immer so, wie es sprichwörtlich heißt: Krise als Chance) ein kreativer Schub und ich entwickelte ein hybrides Schreibwerkstatt-Modell für meine drei Frauenschreibwerkstätten. Das funktioniert so:
Jeweils zwei der Teilnehmerinnen treffen sich privat bei einer der beiden; alle Paare treffen sich zur gewohnten Schreibwerkstattzeit; ich schicke per Mail die Übungen und Feedbackanregungen am Tag vorher an alle; und dann schreiben wir simultan z. B. Mittwochabend ab 19 Uhr. So lässt sich etwas besser, als wenn alle individuell die per Mail verschickten Übungen machen und sich dann in Paaren anrufen (so war das Verfahren im Frühjahr beim ersten Lockdown), die so sehr vermisste literarische Geselligkeit zumindest in der Light-Version genießen.
Und selbst für die Teilnehmerinnen, die in KiTas oder Schulen arbeiten und aus Solidarität lieber bei der Variante mit dem Telefonieren blieben, entsteht über das Wissen, dass die Gruppe gerade schreibt, ein Verbundenheitsgefühl. Wenn dann noch entstandene Texte mit der Gruppe per Mail geteilt werden …
Die erste Woche mit dem neuen hybriden Schreibwerkstatt-Modell war jedenfalls so schön für alle, dass es wohl das Modell für den November sein wird.


2. November 2020

Das war vorher

Ein Einfach-so-gesagt-Satz

Mit einigen meiner KursteilnehmerInnen wechsle ich manchmal schnell Mails hin und her, wenn wir gerade beide am Rechner sitzen.
Aus dem wildem Hin und Her mit Sanne, einer der Donnerstagsschreiberinnen und Nachbarin in Kaufungen, vom 3. Mai 2019, in dem es auch darum ging, was am Schreiben in der Gruppe so besonders ist, habe ich einen Satz herausgefiltert: „[…] mir machts auch deutlich Spaß – im Sinn von nachhaltigem tiefsinnigen Vergnügen!!!“, schrieb Sanne.
Und jetzt sitze ich wieder hier und weiß nicht, wie ich das nachhaltige tiefsinnige Vergnügen auch virtuell ermöglichen kann. Denn die Volkshochschulen haben zwar irgendwie geöffnet, aber nicht in allen Räumen usw.
Vor dieser Pandemie war es ein einfach zu habendes Vergnügen, das Schreiben in der Gruppe …


26. Oktober 2020

Preisträgerinnen

Frauen sichtbar machen

Dieses Jahr wurden zwei der im deutschsprachigen Raum bedeutendsten Literaturpreise und der Literaturnobelpreis an drei Schriftstellerinneny verliehen: Elke Erb erhielt den Büchner-Preis für ihr Lebenswerk, Anne Weber den Deutschen Buchpreis für Annette, ein Heldinnenepos und Louise Glück den Literaturnobelpreis.
Ganz genau weiß ich nicht, warum ich von keiner der drei, bevor sie nicht anlässlich der Preisverleihungen im Feuilleton erwähnt wurden, eine einzige Zeile gelesen hatte … Von der US-amerikanischen Lyrikerin Louise Glück kann man derzeit kein Buch auf Deutsch erwerben. Anne Webers Roman in epischen Versen über die französische Widerstandskämperin Anne Beaumanoir habe ich noch nicht gelesen. Einige Gedichte von der in der DDR bereits erfolgreichen Elke Erb fand ich im Netz.
Möglicherweise liegt es daran, wie Isabella Caldart in ihrem Essay Let’s talk about visibility, baby! in der Literaturzeitschrift allmende (Dezember 2019) schreibt: „Nicole Seifert, die mit ihrem femeinistischen Blog Nacht und Tag auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Buchblog-Award ausgezeichnet wurde, kommentiet Anfang 2019 in einem Blogbeitrag: ,Dass im Deutschunbterricht mal ein Buch von einer Autorin gelesen wird, ist nach wie vor die Ausnahme.‘“ (S. 8).
Im Rowohlt-Verlag erschienen im Herbstprogramm 2019 23 Bücher, 20 von Autoren, zwei von Autorinnen, eins von einem Mann und einer Frau, so ist im gleichen Essay zu lesen. Und: Drei Viertel der Rezensionen in den Feuilletons bespechen Bücher von Autoren und zudem noch ausführlicher, zitiert Caldart eine Studie des Forschungsprojekts #frauenzählen.
Giulia Becker schreibt im gleichen Heft: „Ich nehme auf jeden Fall wahr, dass der Literatur von Männern anders begegnet wird als der von Frauen. Bücher von männlichen Autoren sind für alle da, Bücher von Autorinnen werden meist von Frauen gelesen. Das ist eine ganz seltsame Vorstellung, die bei vielen Männern vorherrscht, nämlich dass die Kunst von Frauen sie nicht betrifft“ (S. 39).
Um so schöner, dass die Jurys der o. g. Preise Werke von Schriftstellerinnen ausgezeichnet und so sie und ihre Werke ins Bewusstsein gerückt, schtbar gemacht haben.
Und übrigens lohnt sich auch die Lektüre der 104. Ausgabe der Literaturzeitschrift allmende (die jetzt schon im 40. Jahr erscheint, ISBN 978-3-96311-270-6)) mit dem Titel „Neuer Feminsimus?“, in der sich 14 Autorinnen (u. a. Lena Gorelik, Annekathrin Kohout und Marlene Stark) literarisch-poetisch oder essayistisch den Fragen nach ihrer Positionierung als schreibende Frauen und im Feminsmus stellen.


19. Oktober 2020

Herkunft – Heimat – Horizonte

Ein Schreibtag in Kaufungen am 7. 11.

Eine Herkunft haben wir alle – aber haben wir auch eine Heimat? Schreibend soll der geografischen, sozialen und kulturellen Herkunft sowie den mannigfaltigen Untertönen des Begriffs Heimat nachgespürt werden. Im Schreiben klären sich Haltungen, aus denen wiederum Bilder von Zukunft, von neuen Horizonten erwachsen können. Die unterschiedlichen Perspektiven der Schreibwerkstattteilnehmenden werden deutlich, wenn in der Gruppe Texte zu Gehör kommen. Ausgewählte Texte können im Rahmen eines Festtages am 14. November anlässlich des 50 Geburtstages der Gemeinde Kaufungen präsentiert werden.

Termin Samstag, 7. November 2020, 14 bis 18 Uhr
OrtBegegnungsstätte Kaufungen (Mitte, Haltestelle Gesamtschule)
Kosten15 € (Kursgebühr, Getränke, Knabbereien)
Anmeldungper Mail bei Kirsten Alers; Anmeldeschluss: 1. 11.
Überweisung an Gemeinde Kaufungen, Stichwort „Kursgebühr Schreibwerkstatt“
IBAN: DE46 5205 0353 0204 0005 89


12. Oktober 2020

Farbe sein und …

Farbe schreiben

Schritt 1: Wäre ich eine Farbe, wäre ich heute? Beantworte zuerst diese Frage.
Schritt 2: Wenn du das gemacht hast, nimm Notizheft und Stift und geh nach draußen. Such nach Dingen und Gedanken, die dir in deiner (heutigen) Farbe entgegen treten. Bleib 20 Minuten draußen, geh um den Blog, durch den Garten, notier sinnlich Erfahrbares (vielleicht riecht oder schmeckt ja etwas purpur oder gelb) und auch Gedankliches.
Schritt 3: Wieder zuhause lass dich von deinen Notizen zu einem Text anregen. Dieser könnte von einer Farbwanderung handeln, er könnte von dir handeln, er könnte aber auch – die Notizen nutzend – assoziativ wo auch immer hinführen …


5. Oktober 2020

Manchmal ist etwas dabei

in diesen Kisten auf den Straßen

In den letzten Jahren hat sich eine neue ,Sitte‘ eingeschlichen: Wenn Menschen ihre Schränke leerer bekommen wollen, stellen sie nach dem Ausmisten ihren Mist, äh, ihre (ehemaligen) Schätze in Kartons an die Straße – vielleicht nimmt ja jemand etwas mit und erfreut sich daran noch eine Weile (und dann muss man sich nicht selbst um die Entsorgung kümmern).
Aus der Wortwahl und den Untertönen können die geneigten LeserInnen auf mein uneindeutiges Verhältnis zu dieser Sitte schließen, denn: Einerseits bleibt der Rest, den dann doch kein Mensch zu ,würdigen‘ weiß (angestoßene Suppenterrinen, von wem oder was auch immer zernagte Bilderbücher etc.) wochenlang und aufgeweicht einfach stehen, bis irgendjemand den Müll entsorgt, ich vermute, weil ich schon oft solch eine Kiste in meine Mülltonne gekippt habe, dass es in den meisten Fällen auch hierbei nicht nach dem VerursacherInprinzip geht; andererseits finde ich tatsächlich in jeder zweiten Kiste etwas, das ich – und das macht sogar irgendwie ein bisschen glücklich – an mich nehme: ein blaues Weinglas, ein Messbecher, an dem man tatsächlich die Skalen noch lesen kann, einen baumwollenen Strampler (der passt jetzt gerade Yuri, meinem dreieinhalb Wochen alten Enkel) oder ein Buch (und noch ein Buch für Uli und noch eins für Moja …). Mein letztes Mitnehmsel: Älter werden (2006) von Sylvia Bovenschen (es lag ganz alleine und ohne Kiste und nur ein bisschen augewellt vom Nachttau auf einem großen Sandstein vor Evas Einfahrt).
In den Bücherfunden finde ich natürlich dann Wunderbares. In Sylvia Bovenschens Langessay oder poetischem Bericht über das komplexe Thema Älterwerden fand ich direkt auf der ersten Seite diesen Satz: „Wann habe ich angefangen, die Menschen auf der Straße einzuteilen in diese, die leben wollen, und jene, die leben müssen?“ Und ich stellte mir direkt die Frage: Gehören die, die ihre Sachen an die Straße stellen, zur diesen oder zu jenen? Und mich fragte ich auch. Ich jedenfalls will und muss leben.


28. September 2020

Zum 60. Jahrestag

Ein Tag im Jahr

1960 rief die Moskauer Zeitung Iswestija SchriftstellerInnen in aller Welt dazu auf, den 27. September 1960 zu genau wie möglich zu porträtieren. Bereits 1935 hatte einmal Maxim Gorki KollegInnen aufgerufen, Einen Tag der Welt zu dokumentieren.
Viele folgten 1960 dem Aufruf aus Moskau, aber nur eine (soweit ich weiß) porträtierte von da an jedes Jahr den 27. September, daraus sind zwei Veröffentlichungen entstanden: Ein Tag im Jahr: 1960–2000 und 2001–2011: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert. Zwei wirklich lesenswerte Bücher, die 51 Jahre deutsche Geschichte auf sehr persönliche Art und Weise zeigen. Ich habe Christa Wolfs Idee aufgegriffen: Seit 2004 dokumentiere ich jedes Jahr ,meinen‘ 8. März. Nun möchte ich aufgrund des 60. Jahrestages der Aktion (gestern) dazu einladen, ebenfalls einen Tag zu dokumentieren, den heutigen oder den 4. Oktober oder einen, der mit persönlicher Bedeutung aufgeladen ist (wie bei mir der 8. März als Internationaler Frauentag). Und das jedes Jahr an diesem einen Tag wieder zu tun. Wenn ich meine Einträge jetzt lese – es sind mittlerweile ja 17 – spüre ich zumindest eine sprachliche und auch an mancher Stelle eine persönliche Entwicklung. Erfreulich und spannend.


21. September 2020

Könnte sein, …

… weil genial

„immer n bißchen extrem / son poem“ – Raymond Queneau wird dieses Gedicht, dieser Zweizeiler, dieser Vers zugeschrieben (https://schreibheft.de/, Abruf 15. 9. 2020, 14.55 Uhr). Da ich Queneau (einer der Gründer der von mir hoch geschätzten Gruppe OuLiPo) sehr verehre, insbesondere, weil ich ihm einige meiner immer wieder verwendeten Lieblingsschreibimpulse verdanke, möchte ich das glauben, Queneau war Franzose, und mir ist nicht bekannt, dass er der deutschen Sprache mächtig war – vielleicht ist also Gedicht/Zweizeiler/Vers nicht von ihm, aber es/er könnte von ihm sein: weil witzig, weil verblüffend, weil kurz und prägnant, weil sprachspielerisch mutig, weil nur auf den ersten Eindruck banal, weil eben (fast unnachahmlich) genial.


14. September 2020

Was ist Frauenliteratur?

Wie Gattungsnamen zu betrachten sein könnten

Es gibt Spezialliteraturen bzw. es gibt Bezeichnungen, die bestimmten Veröffentlichungen einen bestimmten Stempel aufdrücken, was aus ganz unterschiedlichen Interessen heraus geschehen kann. Eine Zeitlang hatte ich keine Probleme mit beispielsweise der Bezeichnung Frauen- und Lesbenliteratur, irgendwann aber schien sie mir merk- oder gar fragwürdig.
Meines Erachtens sind Bezeichnungen für Spezialliteraturen zum einen historisch und vom Kulturkreis geprägt. Zum anderen kann man vielleicht mit Hilfe der folgenden drei Perspektiven/Fragen herausfinden, ob eine Bezeichnung gerechtfertigt ist. Und wenn ja: unter welchen Umständen.

  1. Das begriffliche Herausstellen diskriminiert, weil es das Anderssein, das Nicht-Norm-Sein betont. Warum wird also etwa die belletristische Literatur von Simone de Beauvoir als Frauen- und die von Jean Paul Sartre nicht als Männerliteratur bezeichnet.
  2. Das begriffliche Herausstellen kann wichtig sein, um Öffentlichkeit genau für diese AutorInnen oder für diese Art der Literatur herzustellen (das ist der Ansatz in meinem letzten Blogeintrag), um zu zeigen, dass es mehr gibt als die vermeintliche Norm. Wer kannte schon in den 1970er Jahren den großartigen utopischen Roman Frau am Abgrund der Zeit von Marge Piercy, als alle Ökotopia von Ernest Callenbach lasen?
  3. Und der Inhalt ist auch zu betrachten: Geht es in der Geschichte um die Lage von Frauen oder Lesben (um bei diesem Beispiel zu bleiben) oder nicht? Wird explizit und parteiisch deren Blickwinkel eingenommen? So sehr Ulla Hahn in Das verborgene Wort (siehe Blogeintrag vom 7. September 2020) die Perspektive der Frauen in der deutschen Nachkriegszeit einnimmt, so wenig tut das Agota Kristof in Das große Heft.


7. September 2020

Lieblingsromane …

… neu entdeckt beim Aufräumen

„Du hast bestimmt 1000 Bücher!“ Ramon steht vor meiner Bücherwand und lässt den Blick von unten nach oben und wieder zurück über meine Regalbretter schweifen. „Ja“, sage ich, „ich glaube, es sind 2000.“ Und dann habe ich selbst meinen Blick am Freitag über all meine Regalbretter schweifen lassen und beschlossen, die Ordnung bei den Romanen zu ändern und (oh oh, nie wieder wollte ich das tun) zweite Reihen anzulegen. Die Ordnung habe ich nur in einer Sache geändert: Ich habe mein Frauenromaneregal aufgelöst und die vier Regalbretter alphabetisch zwischen die anderen einsortiert. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob es nicht heute immer noch außergewöhnlich ist, explizit und parteilich die Perspektive einer Frau oder einer Gruppe von Frauen einzunehmen, und ich bin mir sicher, dass ich nichts lesen will, was den Blickwinkel, unter dem etwas geschrieben ist, nicht transparent macht, und dass Gender dabei immer eine Relevanz hat, ganz gleich, um welche Art von Literatur es sich handelt. Aber aus noch nicht ganz geklärter Motivation habe ich alle vor Jahren als ,Frauenromane‘ von mir klassifizierten einsortiert. Und ich habe die Frauenkrimis aus den 1980ern und 1990ern in eine zweite Reihe geschoben.
Beim Umsortieren sind mir – weil sich ja alle Romane auf den dafür zur Verfügung stehenden 20 Regalbrettern verschoben und ich sie also alle in die Hand nehmen musste – meine Allzeitlieblingsromane wieder begegnet. Einige davon möchte ich als Lektüre empfehlen, auch wenn sie teilweise schon vor Jahrzehnten erschienen sind.

Hier ist meine (aktuelle) Longlist (die erste Zahl in Klammern ist das Datum der ersten Ausgabe):

  • Soazig Aaron: Klaras Nein (2002/2003)
  • Zsuzsu Bánk: Die hellen Tage (2011)
  • Simone de Beauvoir: Sie kam und blieb (1943/1972)
  • Annie Ernaux: Die Jahre (2008/2018)
  • Anna Gawalda: Zusammen ist man weniger allein (2004/2006)
  • Lena Gorelik: Die Listensammlerin (2013)
  • Ulla Hahn: Das verborgene Wort (2001)
  • Marlen Haushofer: Die Wand (1968/1991)
  • Ursula Hegi: Die Andere (1994/2000)
  • Siri Hustvedt: Was ich liebte (2003)
  • Agota Kristof: Das große Heft (1986/1990)
  • Ursula K. LeGuin: Das Wort für Welt ist Wald (1972/1997)
  • Toni Morrison: Menschenkind (1987/1992)
  • Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner (2011)
  • Marge Piercy: Frau am Abgrund der Zeit (1976/1996)
  • Marie-Sabine Roger: Das Labyrinth der Wörter (2008/2010)
  • Arundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge (1997/2006)
  • Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern (2011)
  • Jeannette Walls: Schloss aus Glas (2005)
  • Juli Zeh: Spieltrieb (2004)

P.S. Dass keine Romane dabei sind, die Männer verfasst haben, ist Absicht. Beim Neusortieren ist mir auch noch einmal meine Schulzeit begegnet – wir haben in Deutsch, Englisch, Latein und Französisch ausschließlich Romane und Erzählungen von Männern gelesen, mit einer Ausnahme: Die Judenbuche von Annette von Droste-Hülshoff. Auch diese Novelle kann ich empfehlen zur Lektüre. Selbstverständlich gibt es großartige Literatur von Männern (Siegfried Lenz‘ Deutschstunde zählt sicherlich zu meinen Allzeitlieblingsromanen ebenso wie Romane von Sartre, Camus und Grass), aber hier, in meinem Blog, positioniere ich mich bewusst als eine, die den Blick richtet auf die, die so oft immer wieder und immer noch unbenannt bleiben.


31. August 2020

Wie sehr wir auch wollen –

manches bekommen wir niemals geschenkt

In Vorbereitung auf den Schreibworkshop, den ich nächsten Samstag in Bad Hersfeld leite (Rote Krähen hinterm Mond – Geschichten (er)finde mit Kreativem Schreiben) stieß ich auf folgenden Text: „Hör zu, Bea, was das Wichtigste ist und das Schlimmste, am schwierigsten zu verstehen und, wenn du’s trotzdem irgendwie schaffst, zugleich das Wertvollste: dass es keine Eindeutigkeit gibt. Das muss ich hier, ganz zu Anfang, schon mal loswerden – weil ich es immer wieder vergesse. Und vermutlich vergesse ich es deshalb, weil meine Sehnsucht nach Eindeutigkeit so groß ist und die Einsicht, dass es keine gibt, mich so schmerzt. Aber gleichzeitig ist sie auch tröstlich.“
So beginnt der 2018 im Berliner Verbrecher-Verlag erschienene Roman Schäfchen im Trockenen, der 2019 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde. Die Autorin Anke Stelling erzählt darin vom komplizierten Zusammenleben in einer alternativen Hausgemeinschaft.
Jetzt habe ich diesen Romananfang auf der Folie der Corona-Pandemie ganz neu gefühlt. Ich will denen, die in den USA Trump zujubeln, oder denen, die in Berlin individuelles Wollen mit Grundrechten verwechseln, zurufen: Ja, tatsächlich, es gibt keine Eindeutigkeiten, da ist die tägliche Herausforderung, immer wieder mit sich selbst und mit den vielen vielen Anderen mit ihren so unterschiedlichen Interessen ins Gespräch zu gehen, jeden Tag sich neu auszurichten, denn es gibt für diese auf der Erde so noch nicht erlebte Pandemie-Situation kein Handlungsraster mit Vorbildfunktion, und auch wenn die Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten noch so groß ist – sie wird sich nicht erfüllen, denn es gibt in einer solch herausfordernden Situation keine einfachen, vielleicht sogar überhaupt keine Wahrheiten, außer der jeweils individuell-eigenen – und die stößt bekanntlich, kaum verlasse ich mein Kämmerchen, an die erstbeste oder erstgruseligste einer Nachbarin oder eines Kollegen etc.
Viele haben Angst und/oder sind mit dem Alltag überfordert – wie gut das zu verstehen ist! Aber die daraus erfolgenden Übersprungshandlungen machen mir Angst! Weshalb es nicht egal ist, mit wem und mit welchen Argumenten ich versuche, meine Interessen in die Welt zu stellen, ist in einem lesenswerten, vielschichtig argumentierenden Artikel „Corona-Rebellen – Paranoia, Taktik und Spektakel - »Corona-Rebellen« und »Covid-Leugner«: Versuch einer Demaskierung“ von Georg Seeßlen nachzulesen.


24. August 2020

Selbstbefragung

Warum mache ich das hier

„,Wir schlagen unseren Faden in ein Netz der Beziehungen. Was daraus wird, wissen wir nie.‘ Diese Metapher, die Hannah Arendt 1964 in einem Fernsehinterview mit Günter Gaus verwendet, um ihr politisches Denken und Handeln zu beschreiben, lässt sich gut auf das feministische Bloggen übertragen, finde ich.“ Das schreibt auf der Startseite ihres Blogs meine Kollegin Nadja Damm, die sich seit einiger Zeit intensiv mit dem Thema Feministisch Bloggen auseinandersetzt (Link siehe unten). Als ich den Satz von Hannah Arendt las, dachte ich zuerst an meine kleine Fahrradtour, die ich mit Lukas, Nora und Nina am 2. August machte: Ein langes Stück des Rundweges um den Maschsee in Hannover heißt Hanna-Arendt-Weg. Dann dachte ich: Ja, genau, ich weiß es nicht, aber ich vertraue darauf, dass jedes Wort Wirkung haben kann, immer schon. Und dann fragte ich mich: Warum mache ich das denn genau, das hier, jede Woche?
Jeden Sonntag (manchmal auch erst Montagmorgen) befrage ich mich, welche Notiz aus der Provinz des Kreativen Schreibens ich gern ins Netz stellen möchte. Diese Selbstbefragung ist eine Suchbewegung in zwei Richtungen. Die eine geht nach innen, die andere nach außen.
Indem ich mir die Frage stelle, richte ich meinen Geist aus. Ich befrage mich, woran ich gerade arbeite oder denke, was ich im schreibenden Suchen, ja, im mäandernden Schreinbhandeln umkreisen möchte. Ich schreibe dann, ohne mich in Sachen Textsorte, Sprachregister, Kohärenz etc. streng reglementieren zu müssen. In einer Art fokussiertes Freewriting suche ich voller Vertrauen auf den Reichtum der inneren Quelle, aus der sich mein Text speist, dem, was ich gelesen oder erkannt habe, und dem, was beim Schreiben passiert, Positionen, neue Facetten eines alten Themas, Fragmente … – in unterschiedlicher Sprache, mal persönlicher, mal wissenschaftlicher, wie es passt, zum Inhalt, zum Tag und mir.
Die zweite Richtung der Selbstbefragung hat mit dem öffentlichen Ort zu tun, an dem ich mich befinde. Ich frage natürlich auch immer, an was ich warum und wie die (Welt-)Öffentlichkeit teilhaben lassen will oder sollte. Und da ich Schreiblehrerin bin und vermute, dass in erster Linie Menschen auf meinen Blog stoßen und diesen dann auch immer mal wieder aufsuchen und nutzen, die sich für das (Kreative) Schreiben interessieren, habe ich genau diese Menschen vorrangig vor Augen, wenn ich hier so vor mich hin freewrite …
Dass ich ,nebenbei‘ auch noch linke Feministin bin, verheimliche ich nicht – ganz im Gegenteil, diese Tatsache hat großen Einfluss auf Inhalte und Sprache meiner Posts. Wer explizit etwas über feministische BloggerInnen wissen und Posts von ihnen lesen will, kann sich einen Überblick verschaffen auf dem Blog meiner Kollegin Nadja Damm.


17. August 2020

Sparen oder nicht

Die Frage von woanders aufgerollt

Zu meinem Geburtstag letzte Woche bekam ich von meinem Cousin die abgebildete Karte (was er mir auf der Rückseite schrieb, spare ich hier aus). Jenseits dessen, ob ich dem Inhalt zustimme (mal ja, mal nein, je nach Situation, je nach Kontext): Die Gestaltung des Satzes überzeugt durch die gelungene Passung zwischen Inhalt und Form. Spiele mit Sprache sind lustig – aber nur dann, wenn sie in irgendeiner Facette über das bloße Spiel hinaus­gehen.


10. August 2020

Vom Hölzchen …

Schreibanregung von Jutta Reichelt

Letzte Woche gönnte ich mir eine wunderbare Weiterbildung: „Buchexperimente: Notiz von der Natur“ bei und mit Odine Lang auf der Freudenburg in Bassum. Parallel zu unserem Kurs fand eine Schreibwoche statt, geleitet wurde sie von der Kollegin Jutta Reichelt aus Bremen. So wie Odine an einem Nachmittag den Schreiberlingen ein paar einfache Buchfaltungen zeigte, so schenkte uns Jutta drei Schreibanregungen. Eine kannte ich noch nicht und finde sie ziemlich gut – jedenfalls möchte ich dazu einladen, sie auszuprobieren.
Die Schreibanregung heißt „Vom Hölzchen aufs Stöckchen“. Die Idee ist, von einem physischen Gegenstand (z. B. ein Hölzchen vom Wegesrand) auszugehen, ihn möglichst genau zu beschreiben und sich dann nach einer Zeit wegzubewegen, um ganz woanders zu landen oder auch wieder in der Nähe.
Die Schreibanregung knüpft wunderbar auch an die aus der letzten Woche an. So wie diese fokussiert und schärft sie gleichermaßen die Wahrnehmung, lässt Details lebendig werden, die wiederum Texte beleben.


3. August 2020

Und dann spricht sie mit mir

Beschreibung und Perspektivenwechsel

Geh nach draußen, nimm Papier und Stift mit. Lass dich in der Nähe einer Pflanze, die dich aus irgendeinem Grund anspricht, nieder.
Schritt 1: Beschreib die Pflanze möglichst genau, geh nah heran, nutz all deine Sinne, riech an der Pfanze, berühr sie.
Schritt 2: Lass die Pflanze zu dir sprechen. Was sagt sie dir, wie sagt sie es dir, welche Wörter benutzt sie, welchen Tonfall?
Variante: Falls dir nach Spielen ist: Schreib deinen Namen rückwärts als Überschrift auf dein Blatt (bei mir stünde dann dort: Netsrik). Nun stell dir vor, wie eine Pflanze aussehen, riechen, schmecken könnte, die so heißt: Was für eine Pflanze also ist ein/e Netsrik? Und nun schreib einen Lexikoneintrag.


27. Juli 2020

Quer dorch de Godde

Wörter aus Machtlos

Was ist eine Ferrerbex, was ein Bruutwää, was bedeutet Rääwäärer, besbeln oder debbediern? Waltraud Viehmann-Moritz ist im Dörfchen Machtlos am Fuße des Knüll aufgewachsen. Die 77-Jährige, die heute in Bad Hersfeld lebt, hat mehrere Jahre die ,alten Wörter‘ ihres Herkunftsortes, mit dem sie sich heimatlich verbunden fühlt, zusammengetragen und jetzt in einem Büchlein zusammengefasst: Quer dorch die Godde.
Das liebevoll und hochwertig gestaltete Buch überliefert nun nahezu 1000 Wörter des Machtloser Platt, die nach Sachgebieten (wie Die Verwandtschaft, Schimpfwörter, Farben, Vom Wetter, Was auf den Tisch kommt usw.) sortiert und natürlich ins Hochdeutsche übersetzt sind.
Ferrerbex bedeutet Federkasten, ein Bruutwää ist ein mit Brautgaben beladener Wagen, Rääwäärer heißt Regenwetter, besbeln flüstern und debbediern debattieren. Und der Titel Quer dorch de Godde bezeichnet eine Suppe, die aus all dem gekocht wurde, was gerade so im Garten zu finden war. Ergänzt werden die Wörterrubriken durch einige Dutzend Redensarten sowie ein paar Geschichten und Verse. Quer dorch de Godde kann für 9,80 Euro plus Versand bei der Verfasserin bestellt werden.


20. Juli 2020

Schonung

Ein Wort schreiben nach Karl Kraus

Es ist Sommer. Ich brauche Schonung. Nach diesen herausfordernden Monaten. Ich lade dazu ein, ein Wort, das du magst, das für dich nah Verschnaufpause riecht oder schmeckt, schreibend zu erkunden, einfach mal so … Und dann kommt es näher, rückt weiter weg, verändertseinen Klang, seinen eruch und Geschmack, sein Aussehen …
Karl Kraus ist der Urheber dieser Schreibanregung, mit seinem Satz „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es zurück“ fordert er geradezu zum Schreiben auf. Mein Verschnaufpausen-Wort ist SCHONUNG.


13. Juli 2020

Wahrnehmen, spontan

Schreib Schnapptexte!

Du hast deinen Alltag, ganz normal, du arbeitest, du spülst, du gehst irgendwo lang, fährst mit der Straßenbahn oder dem Zug, sitzt auf einer Bank und liest oder schaust in die Gegend – dann klingelt der Wecker, dein Handy oder die Kirchenglocke. Und du weißt: jetzt! Du nimmst dein Notizheft und deinen Stift zur Hand und schreibst einen Schnapptext. Schnapp aus deiner Umgebung, schnapp aus deinem Innern. Schreib Stichworte, halbe und ganze Sätze durcheinenander, achte nicht auf Rechtschreibung und Grammatik, nicht auf irgendwelche Zusammenhänge. Nimm wahr und schreib. Mach das 2 Minuten, nicht länger.
Um diese Form des unzensierten und spontanen Schreibens zu praktizieren, ist es wichtig, dass du vergisst, dass du das tun willst. Du gehst also nicht extra irgendwo hin oder lässt dir extra ein Zeitfenster frei. Du brauchst nur eine Erinnerung, ein Zeichen, das dir sagt: jetzt! Die 2 Minuten, die der Schnapptext dann beansprucht, sind überall zu erübrigen. Du kannst dir jeden Tag auch eine andere Zeit aussuchen – es braucht eben nur eine Aufforderung, wie auch immer du sie dir schaffst.


6. Juli 2020

Zum Beherzigen:

Corita Kent zum Kreativen Tun

Gestern hat der Kurs Grenzüberschreitungen begonnen. In der Vorbereitung auf diese Woche Kreatives Schreiben und künstlerisches Gestalten mit meiner Kollegin Yara Semmler (Leipzig) habe ich, wie ich das immer tue, Impuls-Zitate gesucht – und bin noch einmal auf eine Frau gstoßen, die mich schon seit Jahren fasziniert: Corita Kent. „Die Ordensschwester Mary Corita leitete dreißig Jahre lang – bis 1968 – das Immaculate Heart College, eine katholische Hochschule in Los Angeles, welche sich durch ihre fortschrittlichen Kunstkurse rasch einen guten namen machte. Schwester Mary selbst war dank ihrer einzigartigen und gewagten Siebdruckeeine Vorreiterin der Pop-Art-Bewegung, darüber hinaus war sie mit Größen wie Alfred Hitchcock, Saul Bass und John Cage befreundet. Während ihrer Lehrzeit am College erstellte sie eine Liste von Regeln für das Insititut.“ Das steht in dem wunderbaren Buch Lists of Note (herausgegeben von Shaun Usher) auf S. 168. Regel Nummer 6 gaben wir den Teilnehmenden im Kurs Grenzüberschreitungen mit auf den Weg in ihre Wahrnehmungs- und Gestaltungswoche: „Es gibt keine Fehler. Es gibt keinen Sieg, es gibt kein Scheitern. Es geht nur um den Schaffensprozess.“ Möge diese Idee, die so entlastend und gleichzeitig so motivierend wirkt (meine ich), und in diesem Sommer zum kreativen Tun, welcher Art auch immer (Schreiben wäre eine Möglichkeit), ermutigen.


29. Juni 2020

Zum Denken:

Joseph Beuys

Ich liebe kluge Sätze mit du zum Denken. Klar, auch diesen ganz berühmten von René Descartes: „Ich denke, also bin ich!“ Ich habe vor einigen Jahren ein T-Shirt in einer dieser Kisten gefunden, die jetzt überall an den Straßenrändern stehen mit Dingen, die die Leute nicht mehr brauchen und die man einfach mitnehmen kann, auf diesem T-Shirt steht quer über der Brust: „Denken lohnt sich“. Ich mag die Farbe nicht so (irgendwie braun), deshalb trage ich das T-Shirt gern beim Arbeiten im Garten oder beim Renovieren – wenn Andere dabei sind, wird, sobald es warm wird und ich den Pullover ausziehe, eifrig genickt. Seit noch viel mehr Jahren hängt an meinem Schrank in der Schreibwerkstatt ein Zeitungsausriss aus irgendeiner Alternativzeitschrift aus den 1980er Jahren, darauf steht: „Niemand hungert, weil wir zu viel essen, sondern weil wir zu wenig denken.“ Das Nicken der diesen Satz Lesenden kommt zumindest verzögert, wenn es nicht ganz ausbleibt. Und jetzt habe ich einen ebenfalls alten Satz (wieder)gefunden, er stammt von Joseph Beuys – und ich würde ihn nicht ungerahmt in meiner Werkstatt aufhängen oder auf einem T-Shirt tragen, obwohl ich ihn derzeit so gern allen möglichen Menschen entgegenschleudern würde und dann auch zu gern die Macht hätte, ihn in die Tat umzusetzen: „Wer nicht denken will, fliegt raus!“


22. Juni 2020

Wenn …

Was wir alles dem Zufall verdanken

Von einer meiner StudentInnen bekomme ich jeden Tag, seit das Virus uns beschäftigt, eine Mail mit einem Gedicht, einem Sinnspruch oder einem kurzen Auszug aus einem philosophischen Text. (Auch das empfehle ich zur Nachahmung.) Letzte Woche bekam ich mehrere Gedichte von der polnischen Dichterin und Literaturnobelpreisträgerin (1996) Wisława Szymborska.
Das folgende Gedicht möge dich zu einem freien Text inspirieren oder zur Nachahmung.

Abwesenheit
(Wisława Szymborska)

Es fehlte nicht viel,
und meine Mutter hätte Herrn Zbigniew B.
aus ZduńskaWola geheiratet.
Hätten sie eine Tochter gehabt, wäre das nicht ich gewesen.
Vielleicht eine mit besserem Gedächtnis für Namen und Gesichter
und jede auch nur einmal gehörte Melodie.
Fehlerlos im Erkennen, welcher Vogel welcher ist.
Mit hervorragenden Noten in Physik und Chemie
und schlechteren in Polnisch,
doch heimlich Gedichte schreibend,
auf Anhieb viel interessanter als meine.

Es fehlte nicht viel,
und mein Vater hätte zur gleichen Zeit
Fräulein Jadwiga R. aus Zakopane geheiratet.
Hätten sie eine Tochter gehabt, wäre das nicht ich gewesen.
Vielleicht eine, die sturer auf ihrer Meinung beharrt.
Ohne Angst ins tiefe Wasser springt.
Geneigt ist, kollektiven Emotionen nachzugeben.
Die ständig an mehreren Orten zugleich zu sehen ist
aber selten über einem Buch, häufiger im Hof,
wie sie mit den Jungen Fußball spielt.

Vielleicht hätten die beiden sich gar
in derselben Schule getroffen, derselben Klasse.
Aber kein Paar,
keine Verwandtschaft
und auf dem Gruppenbild weit auseinander.

Mädchen, stellt euch hierhin,
hätte der Fotograf gerufen,
die kleineren vorn, die größeren dahinter.
Und bitte schön lächeln, wenn ich das Zeichen gebe.
Aber zählt noch mal durch,
ob ihr alle da seid?
Ja, Herr Lehrer, wir sind alle da.

Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
Aus: Glückliche Liebe und andere Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012


15. Juni 2020

Aus aktuellem Anlass

Und weil niemand frei ist von Rassismus

BLACK LIVES MATTER
Wenn du einen Eindruck vom alltäglichen und strukturellen Rassismus in Deutschland bekommen willst: Ich empfehle den ,Brennpunkt‘ von Karoline Kebekus (er dauert 12 Minuten).

Und wenn weiteres Interesse besteht, sich mit Erfahrungen, Haltungen und Positionen auseinanderzusetzen, hier ein paar Literaturtipps:

  • Stefanie-Lahya Aukongo: Buchstabengefühle. Eine poetische Einmischung. w_orten & meer
  • Fatma Aydemir / Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Alptraum. Ullstein
  • Nicol Ljubic (Hg.) Schluss mit der Deutschenfeindlichkeit. Hoffmann und Campe
  • Tupoka Ogette: exit RACISM: rassismuskritisch denken lernen. Unrast


8. Juni 2020

Verschwörungstheorien –

Schreib dir eine!

Das autorencafé im Soziokulturzentrum Werkstatt Kassel e.V. ruft dazu alle VerehrerInnen der literarischen Künste dazu auf, kreativ schreibend eine Verschwörungstheorie zu erdenken. Ich unterstütze diesen Aufruf gern, hier ist er:

Literatur-Preisausschreiben: „Neue Corona-Verschwörungstheorien“
Auch ein flüchtiger Blick in die Medien zeigt: Corona-Zeit ist Verschwörungstheorie-Zeit. Gelegentlich hat man sogar den Eindruck, dass der Wahrheitsgehalt einer Mitteilung für ansprüchlich oder gar lästig gehalten wird. Nun gut, das können wir auch! Deshalb loben wir einen kleinen Preis für eine literarisch-satirische Corona-Verschwörungstheorie aus. Dieser wird unter den Einsendungen ausgewählt (der Rechtsweg ist ausgeschlossen). Zusätzlich werden wir 10 bis 15 gelungene Zusendungen im Außenbereich öffentlich präsentieren. Dafür stehen unsere Werkstatt-Säulen zur Verfügung.
Einsendeschluss: 15. Juli 2020
Umfang: Max. 2 DIN A4-Seiten
Einsende-Adresse: Werkstatt Kassel e.V. – Schreibwettbewerb, Friedrich-Ebert-Straße 175, 34119 Kassel
Bei Zusendung beachten: Bitte zweifache Ausfertigung des Textes ohne Namensnennung. Adresse extra mit in den Umschlag stecken, damit die Texte anonymisiert ausgewählt werden können. Wir bitten um Angabe, ob die anonyme Präsentation gewünscht ist.


1. Juni 2020

Das Strahlende oder das Schreckliche

Visionen schreiben

Es ist Frühsommer, der Mairegen ist vorbei! Ich lade dich zu einem Draußenschreibexperiment ein.
Heute ist Pfingstmontag. An Pfingsten wird das Verstehen gefeiert, trotz verschiedener Sprachen können Menschen miteinander kommunizieren. Derzeit ist die Kommunikation mit allen Menschen auf der Erde vielleicht notwendiger denn je zuvor. Um herauszufinden, wie wir leben wollen, was uns wichtig ist, was getan werden muss, damit niemand das Nachsehen hat. Deshalb will ich heute dazu anregen, das folgende Zitat als Impuls zu verwenden, schreibend probezuhandeln.
„Ich glaube, das Virus hat uns an eine Zeitenwende gebracht. Beides ist jetzt möglich, das Strahlende und das Schreckliche“, sagt Ferdinand von Schirach in einem seiner Gespräche mit Alexander Kluge, die sie kurz nach dem Shutdown Ende März geführt haben und das unter dem Titel Trotzdem erschienen ist.

Quelle: Schirach, Ferdinand von / Kluge, Alexander (2020): Trotzdem. München: Luchterhand: 58


25. Mai 2020

Wer spricht denn da?

Perspektivenwechsel

Es ist Frühsommer, der Mairegen ist vorbei! Ich lade dich zu einem Draußenschreibexperiment ein.
Schritt 1: Geh in den Garten, den Park, den Wald, nimm deinen Schreibblock mit. Setz oder hock oder stll dich vor eine Pflanze, ein kleines Detail einer Pflanze. Beschreib sie oder es. Lass deine Bewerungen, deine Gedanken ganz beiseite, bleib bei der Beschreibung, nutz all deine Sinne: ie sieht die Pflanze aus, wie riecht sie, wie schmeckt sie, wie fühlt sie sich an, was hörst du, wenn der Wind hineinfährt?
Schritt 2: Wechsel die Perspektive: Nun spricht die Pflanze zu dir. Was sagt sie? Wie sagt sie es? Schreib, wie der Pflanze der Schnabel gewachsen ist.


18. Mai 2020

Aus Entsetzen

und aktuellem Anlass

Es gibt kein Grundrecht auf „Ich will“!


11. Mai 2020

NEU! Magazin SchreibRÄUME

Mit einem Essay von mir!

Die vielgestaltige Schreibszene hat ein neues Magazin bekommen. Im März erschien die Nummer 1 der SchreibRÄUME. Magazin für Journal Writing, Tagebuch & Memoir, herausgegeben von den Schreiblehrerinnen und -wissenschaftlerinnen Birgit Schreiber und Johanna Vedral. Der Namen der Zeitschrift ist auch Konzept, auf der Website ist zu lesen: „Dass beim Schreiben ein Möglichkeitsraum entstehen kann, der heilsam, therapeutisch und identitätsstärkend ist. Möglichkeitsraum ist wiederum ein Konzept von D.W. Winnicott, einem Bindungspsychologen, der ihn als einen sicheren Übergangsraum zwischen Welt und Innenwelt gesehen hat.“
Ich habe das Glück, mit einem Essay dabei zu sein in der Nummer 1, es heißt: Warum nicht schreiben? Schreibbasierte reflexive Praxis für Fachkräfte in pädagogischen Berufsfeldern: ein Konzept (S. 104–114). Im Abstract wird deutlich, worum es mir geht: „Aus professionstheoretischer Sicht braucht es in pädagogischen Berufsfeldern für eine qualitativ hochwertige Berufspraxis kontinuierliche Reflexion durch die Fachkräfte; bisher kommen aber in der Berufspraxis nahezu ausschließlich auf Mündlichkeit basierende Reflexionsinstrumente zum Einsatz. Hier wird ein Journal-Konzept entwickelt, das schreibbasierte Reflexive Praxis für die pädagogische Fachkraft als regelmäßige Praxis etabliert und Methoden zur Integration ins Team vorschlägt. Schreibbasierte Reflexive Praxis kann dokumentierende, analysierende, evaluieren-de und planende, persönlichkeitsentwickelnde und hedonistische sowie schließlich wissensgenerierende Funktionen haben, bei der Bewältigung von Herausforderungen helfen, die Vermittlung von Theorie und Erfahrungswissen erleichtern und zu höherer Professionalität führen, auf sich selbst, die KlientInnen, das Team und das Setting bezogen.“
SchreibRÄUME soll zweimal jährlich erscheinen und kostet pro Heft 14 Euro. Leseproben, Abstracts, Literaturlisten und Informationen über die AutorInnen der ersten Ausgabe können hier nachgelesen werden.


4. Mai 2020

Erst sprechen, dann schreiben

Nonnen- oder Mönchsgang

Du willst etwas klären und kommst mit Freewritings und nächtlichem Grüblen nicht mehr weiter? Das Verfahren, das ich vorschlagen möchte, heißt Mönchs- bzw. Nonnengang und ist sehr einfach zu praktizieren – und dennoch nach meiner Erfahrung sehr effektvoll:
Du tust dich mit einer Person zusammen, die – wie du – ebenfalls für sich etwas klären möchte. Zu zweit verabredet ihr eine Stunde, in der ihr spazieren geht. Es sollte ein Weg sein, den eine der gehenden Personen kennt, damit er quasi austomatisch gegangen werden kann, und es sollte ein Rundweg sein, der etwa eine Stunde normalen Gehens erfordert. Vor dem Losgehen legt ihr euch Schreibzeug bereit an eurem Ausgangsort (ob der bei einer der beiden ist, in einem Auto auf einem Waldparkplatz oder auf einer Bank) und ihr verabrede, wer beginnt.
Die erste Person darf 25 Minuten sprechen oder schweigen oder schreien oder sprechen und schweigen im Wechsel; die andere Person hört nur zu, fragt nicht nach (außer bei akustistischen Problemen), sie gibt keine Kommentare, auch keine zustimmenden/aufmunternden wie „Tatsächlich!?“, „Aha“ oder „Hmm“. Und die sprechende Person macht sich zwischendurch keine Notizen.
Nach den 25 Minuten (die zuhörende Person achtet auf die Uhrzeit) schweigen beide 5 Minuten, vielleicht auf einer Bank oder einfach im Weitergehen. Dann werden die Rollen gewechselt. Wenn die 25 Minuten der zweiten Person um sind, schweigen beide wiederum 5 Minuten (oder bis zur Rückkehr zum Ausgangsort).
Dort greifen nun beide schweigend nach ihrem Schreibzeug und schreiben – was und in welcher Form auch immer. Dafür nehmt euch mindestens 30 Minuten Zeit.
Später könnt ihr noch ein wechselseitiges Feedback (ob mündlich oder schriftlich) verabreden.


27. April 2020

Aus gegebenem Anlass

Maskentexte schreiben

Ab heute müssen wir alle in Läden Masken tragen. Ja, und Abstand halten eh. Und so weiter. Mehr muss hier dazu ja nicht gesagt werden. Außer: Lachen ist auch unter der Maske möglich. Und Schreiben ist selbstverständlich immer möglich. Mit Maske und ohne und zum Thema und vielleicht nach einem dieser Impulse (die Fotos hat meine Schwester Imke Alers gemacht).

P.S. Und zu meinem Blog-Eintrag von letzter Woche noch ein ergänzender Link. Schon den Titel des Aufsatzes von Miriam M. Reinhard finde ich sehr ansprechend: Habt Angst füreinander.


20. April 2020

Mal was zum Thema C

Weil ich so wütend bin

„Corona-Verbote verletzen unsere Grundrechte!“ Die heutige Schlagzeile der BILD-Zeitung, die ich heute früh im Vorüberradeln las, hat mich wütend in die Pedale treten lassen, damit ich schnell dieses hier schreiben kann.
Diese Aussage ist erstens in ihrer Pauschalität falsch und zweitens üble, Menschen gefährdende Propaganda!
Ja, einige Grundrechte sind derzeit zumindest beschnitten, aber weder alle noch grundlos. Es ist richtig, Versammlungen zu verbieten, weil sonst möglicherweise in den Krankenhäusern bzw. mit den schwerkranken Menschen das passiert, was in Italien passiert ist – da ist das eine Grundrecht auf Versammlung mit dem anderen Grundrecht auf Unversehrtheit vermittelt worden, und in dieser Entscheidung, Versammlungen zu verbieten, ,gewinnt‘ berechtigterweise das andere Grundrecht, das auf Unversehrtheit.
Es gibt in Deutschland viele Millionen Menschen, die gefährdet sind, schwer zu erkranken, und dann auf die entsprechenden Maßnahmen angewiesen wären. Es geht nicht nur um die Menschen in Pflegeheimen, es geht um Menschen mit Behinderungen, um Menschen mit Autoimmunerkrankungen, um Menschen mit Krebserkrankungen. All diese Menschen müssen gehört, ihre Interessen einbezogen werden in Entscheidungen. Und dann müssen diese Interessen vermittelt werden mit denen der Menschen, die andere haben: Zum Beispiel brauchen viele Menschen Beistand, ob psychologischen oder seelsorgerischen oder einfach den von Angehörigen – auch diese Interessen müssen gelten und Möglichkeiten geschaffen werden, wie sie ihn bekommen, z. B. indem in Gotteshäusern Plätze, auf denen man sitzen darf, gekennzeichnet werden. Aber weil das bisher nicht passiert ist, darf hier auch nicht, wie es einige Kirchenmänner sagen, von der Bescheniodung des Grundrechts auf freie Religionsausübung gesprochen werden – das ist genauso falsch und populistisch wie die Schlagzeile der BILD.
Rechte, auch Grundrechte sind weder einfach da und brachial jederzeit auslebbar – noch sind sie (und das ist mir fast wichtiger zu betonen) zu denken als Rechte, die ich als INDIVIDUUM einfach habe und einklagen kann. „Die Freiheit ist immer die Freiheit des anders Denkenden“, sagte einst Rosa Luxemburg. Und genau darin liegt die größte Herausforderung einer Gesellschaft: Wenn niemand sich das Recht auf Freiheit ohne Rücksicht auf Andere herausnehmen darf, dann müssen wir sprechen: über unsere Bedürfnisse und Interessen und wie sie miteinander in Einklang gebracht werden können auf Grundlage einiger nicht infrage zu stellender Prämissen, allen voran der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“
Und dann kann man auch nicht fordern, endlich wieder shoppen gehen zu können, weil sonst die Grundrechte echt viel zu lange und so weiter …

Falls noch Interesse besteht an interessanten Perspektiven, hier zwei Links:
Daheim ist es nicht am schönsten. Frauen in patriarchalen Systemen.
Ein rissiger Mantel der Fürsorglichkeit. Corona als „Seniorenseuche“.


13. April 2020

24 Zettel füllen

Statt Osterspaziergang

Ein Experiment schlage ich dir vor. Du musst dafür etwa eine Stunde Zeit einplanen. Lies und befolg bitte diese vier Schritte:
Schritt 1: Du schneidest dir aus vier DIN A4-Blättern jeweils 6 annähernd quadratische Stücke (Blatt längs einmal und quer zweimal falten, dann hast du schon sechs Gefache, sie müssen nicht exakt gleich groß sein).
Schritt 2: Du gehst mit diesen 24 Blättchen an einen anderen Ort als den, an dem du sonst immer schreibst, nach draußen, auf den Balkon, in den Keller …
Schritt 3: Dort füllst du die Blättchen innerhalb von 45 Minuten. Auf jedem Blättchen sollen mindestens 6 Zeilen stehen. Es geht ums schnelle Machen. Es geht nicht darum, jetzt 24 ,fertige‘ Textchen oder eine Geschichte mit 24 Kleinstkapiteln zu schreiben, sondern darum, schnell die 24 Blättchen zu füllen. Nummerier sie am besten.
Schritt 4: Schreib auf Zettel Nr. 20 bereits vor dem Platzwechsel das Wort „trotzdem“.
Jetzt starte. Wenn du einen Impuls zum Starten brauchst, hier kommt er: „parallel“.

P.S. Später, wenn du mit den Zetteln wieder an deinem Schreibplatz bist: Nun hast du 24 Zettel auf einem Stapel vor dir liegen. Breite sie aus. Du kannst jetzt mit dem Material unterschiedlich verfahren, z. B. so: a) Nimm eine Zeile von jedem Zettel und mach eine Collage. b) Nimm drei oder vier Zettel, die für dich irgendwie zusammengehören und füg sie zu einem Gedicht oder einer Prosaminiatur.


5. April 2020

Wer hier sitzt …

Schreiben in den Ferien

Es sind Osterferien, viele sitzen mehr als je zuhause, Verreisen geht nicht, FreundInnen treffen ist schwierig, Ausflüge machen, Museen oder Bibliotheken besuchen, Eisessen gehen – alles schwierig, und irgendwann sind auch Frühjahrsputz in Haus und Garten erledigt. Schreiben aber geht! Deshalb heute mal zwei Schreibanregungen:
1. Schreib einen freien Text und beginne mit: „Wer hier sitzt …“
2. Schreib einen Text zum Thema „Was ich jetzt machen kann“, der mit dem Prinzip des Seriellen arbeitet. Du kannst entweder jeden Satz mit der Floskel „Ich kann jetzt …“ beginnen oder einen aufzählenden Text schreiben, der z. B. so beginnt: „Ich kann jetzt … Spinnweben fegen, Stuhllehnen putzen, den Dachboden sortieren, ein Bild abhängen, Radieschen säen, die Füße hochlegen, die Fugen auskratzen, einen Stuhl bereitstellen […]“ (Simone R.-H.).
Und wer angestochen ist und mehr Schreib-Anregungen will: Ein Einstieg in mein Online-Format OsterSchreibVergnügen ist noch möglich (siehe Newsletter).


30. März 2020

Abwarten und Tee trinken …

… und auch mal von der Rolle sein

So mancher Spruch wird in diesen Pandemie-Zeiten plötzlich wieder aktuell oder bekommt eine neue Färbung. Von der Rolle sind wohl einige, bei den teilweise ununterfüttert in die Welt gepusteten Nachrichten (manche unreflektierte Panikmache ist einfach vollkommen überflüssig, da kann man ruhig mal einen Beschwerdebrief an den Presserat schreiben!) ist es auch eine individuell und innerpsychisch täglich zu bewältigende Herausforderung, nicht in aufkommender Panik zu versinken. Abwarten und Tee trinken, ist da schon ein besserer Spruch und Rat. So entstehen neue Sprüche, die auch dazu dienen, auf dem Teppich zu bleiben (ha!): Hefe ist das neue Klopapier.
Und dann werde ich auf Zitate gestoßen von großen weisen DenkerInnen vor unserer Jetztzeit: Blaise Pascal, ein französischer Mathematiker, Physiker und Philosoph, der von 1623 bis 1662 lebte, schrieb: „Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Das ist doch mal eine Aufforderung! Xavier de Maistre verbrachte 42 Tage in nur einem Raum und schrieb anschließend Die Reise um mein Zimmer; das war 1790! Das Buch endet mit folgenden Sätzen: „Dachten sie wirklich, sie würden mich damit bestrafen, dass sie mich in mein Zimmer verbannten. Ebenso gut könnte man eine Maus in einen Kornspeicher stecken.“
Und dann, während des vergleichsweise recht komfortablen Eingesperrtseins, das die meisten von uns in diesem Lande gerade aushalten, genießen oder beides, kann man dann auch noch mal an diejenigen denken, die derzeit überhaupt kein Problem mehr zu haben scheinen, ja geradezu gar nicht mehr zu existieren scheinen: die Millionen Flüchtlinge, die Verhungernden und die von der Hass- und Rassismus-Pandemie Betroffenen!
Wenn das Zuhausebleiben dann noch zu gesteigerter Schreiblust führt – mein neuer Newsletter kann auf der Website heruntergeladen werden. Besonders bitte ich das virtuelle Trotz-C-Schreib-Vergnügen zu beachten.


23. März 2020

Zum Tage

Lachen ist gesund

Wenn Andere mit Klopapierrollen jonglieren oder kicken, weil sie eben SportlerInnen sind, muss ich mir doch, so dachte ich, etwas als Schreiberin ausdenken. War gar nicht so schwer. Ein paar Wörter aneinanderkleben, ein bisschen Rolle abwickeln, schreiben … Und fertig war die Coronapandemieerleichterungsnachbarschaftssolidaritätsdauerleihgabe. Ich hoffe, du lachst jetzt, Schmunzeln ist das Mindeste!


16. März 2020

Schreiben in den Zwangsferien

Und dann ab in den Garten

Heute ist der erste Tag, an dem viele von uns tendeziell verordnet zuhause bleiben – außer wir arbeiten in infrastrukturerhaltenden oder Gesundheitsberufen. Sprachaffine Menschen neigen nicht dazu, zunächst jedenfalls nicht, sich eingesperrt zu fühlen, wenn sie nicht in die Disco, nicht ins Kino etc. dürfen. Endlich Zeit zum Lesen, für den Garten (oder die Fenster, oje) oder eben fürs Schreiben.
Für Familien mit Kindern empfehle ich Stadt-Land-Fluss-, Gefüllte Kalbsbrust- und Akrostichon-Sessions. Für Alleineschreibende empfehle ich einen freien Text, in dem folgende fünf Wörter vorkommen: Krönung, Krise, Klopapier, Kurve, Kritik.
Und dann ab in den Garten, Boccia oder Wikingerschach spielen, Giersch und Brennnesseln für den Salat ernten, alte Äste zersägen …


9. März 2020

Erfindungsrezeptchen

51 Arten, (Schrift-)Sprache zu dehnen

Auf Sylt stellte ich am zweiten Schreibtag die Aufgabe, mitgebrachte Gegenstände zu untersuchen. Ich hatte ein türkisblaues Gummiband mitgebracht, untersuchte es zuerst anagrammatisch, um mich dann mit dem Dehnungsvermögen zu befassen – auf Sprache bezogen. Hrausgekommen sind 51 Arten, (Schrift-)Sprache zu dehnen.

  1. Du könntest Verben erfinden.
  2. Du kannst eine Zukunft erfinden oder zwei.
  3. Aaaaaabeeer, das, also dahas kann man auch gaaaaaanz anders, vollkommen anders oder nur ein bisschen anders sehen – sag dir und Anderen das immer mal.
  4. Buchstabier: S.P.R.A.C.H.E. D.E.H.N.E.N.
  5. Im Plusquamperfekt werden alle Sätze länger, am besten ist es, noch das Passiv zu wählen – schreib seitenweise im Plusquamperfekt Passiv.
  6. Du kannst Wörter ausleihen und nutzen, türkische, mongolische oder nordfriesische – wie sjüün oder tuanbeenk.
  7. Schreib mit Links, von links nach rechts und dann von rechts nach links.
  8. Schreib alles dreimal.
  9. Wiederhol richtige, wichtige, gute, gewagte, mutige, befreiende Wörter täglich.
  10. Schreib mit der Hand.
  11. Fremdwörterbücher sind wunderbare Sprachdehnungshelfer, füg 13 Fremdwörter in deinen nächsten Text.
  12. Schneid deinen Text längs durch und schreib erst die rechte, dann die linke Seite neu (das geht auch wunderbar im Tausch mit einer anderen Person).
  13. Schreib mit Wachsmalstiften.
  14. Geh in eine katholische Kirche, knie dich in eine Bank und füll in 45 Minuten 34 Zettel à 10 x 10 cm mit jeweils mindestens sieben Zeilen.
  15. Und täglich grüßt das Murmeltier – das Zyklische könnte hilfreich sein, Wiederholungen, Rapporte, Rhythmen statt Schneller-Höher-Weiter, vielleicht mit Gertrude Stein als Hilfe.
  16. Du kannst Anagramme machen – das dauert!
  17. Erfinde dir neue Vergangenheiten, ein gelebtes Leben im Zaubergarten am Zaubertausee.
  18. Schreib Briefe auf Englisch oder Französisch oder Türkisch oder Finnisch oder Suaheli oder Runyoro.
  19. Zerschneide Wörter wie nimmermehr und übermorgen und setz sie zu neuen zusammen, wie nimmermorgen, übermehr oder mehrmorgen.
  20. Du könntest einmal ein ganzes Blatt mit einem Wort füllen, z. B. mit Gummiband.
  21. Du darfst Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik einmal außer Acht lassen und wild werden.
  22. Du könntest ein Gedicht machen über etwas, über das noch nie jemand ein Gedicht gemacht hat, z. B. über ein türkisblaues Gummiband.
  23. Du darfst Fische mit Zitronen vergleichen und mit Met beträufeln.
  24. Schreib über den Geschmack von Tiefkühlerbsen am 1. 3. Im Jugendseeheim auf Sylt (oder wo du gerade am 1. 3. bist oder am 16. 9.).
  25. Lass dir Wörter schenken, jeden Tag eins wie z. B. Sternencluster oder Ärgerspirale.
  26. In Schubladen und Regalen lagern alte Texte, sie können überschrieben werden.
  27. Nutz das generische Femininum.
  28. Sei Wörtergärtnerin: Blumen wachsen genauso gut, wenn sie, aus der Krone des Kirschbaums betrachtet, das Wort Bienchen oder das Wort Frieden.
  29. Mäh Botschaften an die Menschheit oder an die Nachbarschaft in das Brachland nebenan.
  30. Du darfst ein Transparent für Fridays for Future machen, mit deinem Herzensspruch, z. B.: Es gibt Fortschritt ohne Wachstum.
  31. Kauf dir die Stilübungen von Raymond Queneau, mach in den 99 Tagen nach diesem unvermeidbaren Einkauf täglich eine Stilübung à la Queneau.
  32. Du könntest Texte schreiben wir Friederike Mayröcker mit Akeleien und rosa Walen und M.
  33. Schreib Texte, wie Frida Kahlo oder Salvatore Dalí Bilder gemacht haben, mit Käfigen aus Bäumen oder Schlangen und fliegenden Tigern.
  34. Wenn ein Kamel ein Wüstenschiff ist, welche Metapher könnte eine sein, die du der Welt schenkst für Wattwürmer?
  35. Geh mit einer Freundin, einem Freund in den Wald, sucht zusammen Wörter für die besondere Rosettenform der Flechten, die Oberbekleidung der Pilze und eure Freundschaft.
  36. Mach Schlagzeilen-Collagen (und überhaupt Collagen aus Texten).
  37. Das Futur II wird arg vernachlässigt, du darfst es inflationär auskosten.
  38. Auf Spaziergängen darfst du laut mit dem Reiher und deinen Dämonen sprechen – notier ihre Antworten.
  39. Fahr Straßenbahn, Notizbuch nicht vergessen, Kopfhörer zuhause lassen.
  40. Im Deutschen können Nomen zusammengesetzt werden, so können Wörter entstehen wie Kartoffelrosenknospen oder Spülsaumabbruchkantenmuschelfund.
  41. Nimm einen deiner Texte aus der letzten Woche und streich alle Adjektive, mal so zur Probe.
  42. Schreib in Lila, Wörter klein, alle Buchstaben groß, im Binärcode oder Morsealphabet.
  43. Manche deiner FreundInnen brauchen Wochen, um eine Rede zum 80. Des Schwiegervaters oder eine Postkarte zu schreiben – erweis ihnen einen Freundschaftsdienst.
  44. Du könntest auf einen Einkaufszettel solche Dinge schreiben wie Winterschlaf, Wunder, Wut, Wendehammer usw.
  45. Wenn du etwas selbstverständlich immer Verwendetes weglässt, wie z. B. Verben oder den Buchstaben E oder Nebensätze, werden sich die Nebel heben und neue Blicke freigeben.
  46. Bilde feminine Formen zu maskulinen Wörtern und umgekehrt, z. B. der Mond – die Mondäne, die Mandarine – der Mandarin.
  47. Spiel Göttin (gern auch mit einer Gehilfin oder mehreren) und mach ein Schöpfungs-ABCdarium: Alabaster-Affe, Baldrian-Bienchen usw.
  48. Ändere oder tausch Präfixe und Suffixe, z. B. dranbleiben/durcharbeiten – dranarbeiten/durchbleiben, Blindheit/endlich – blindlich/Endheit.
  49. Erfinde Wörter durch Vokalvertauschungen nach Art der Schüttelreime, so wird z. B. aus Gummiband Gammibund.
  50. Notier die Sprache der Ameisen, der Blindschleichen, des Strandhafers, der Kartoffelrose, des rundgeschliffenen Holzes, das letzte Nacht aus dem Meer kam.
  51. Du darfst hundertmal schreiben: Ein Anfang ist ein Anfang ist ein Anfang ist ein Anfang ist …


2. März 2020

Ein guter erster Satz

Wie überzeugt ein Roman, eine Erzählung bereits mit dem ersten Satz?

Der schönste erste Satz – so hieß ein im Jahr 2007 veranstalteter Wettbewerb der Initiative Deutsche Sprache und der Stiftung Lesen. Gesucht wurde der schönste erste Satz in der deutschsprachigen Literatur. Es gewann der Anfang des Romans Der Butt von Günter Grass: „Ilsebill salzte nach.“
Lukas Mayrhofers Begründung: „Ein Satz mit nur drei Wörtern? Auf deutsch? Und spannungsverheißend? Keine leichte Aufgabe. Aber Günter Grass hat sie in meinen Augen bewältigt und mir persönlich mit dem Butt nicht nur eines meiner Lieblingsbücher, sondern auch einen genialen ersten Satz beschert. Ilsebill … komischer Name. Eine echte Ilsebill ist mir in meinem bisherigen Leben noch nie über den Weg gelaufen, aber da gibt es doch dieses Märchen vom Fischer und seiner Frau, eben jener Ilsebill. ‚Myne Fru, de Ilsebill, will nich so, as ik wol will.‘“
Franz Kafkas Einstieg in die Erzählung Die Verwandlung kam auf den zweiten Platz: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“
Siegfried Lenz‘ erster Satz der Erzählung Der Leseteufel aus So zärtlich war Suleyken überzeugte an dritter Stelle: „Hamilkar Schaß, mein Großvater, ein Herrchen von, sagen wir mal, einundsiebzig Jahren, hatte sich gerade das Lesen beigebracht, als die Sache losging.“
(Quelle: Wikipedia)

Ebenfalls gelungene erste Sätze:
Alle glücklichen Familien sind gleich, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich. (Leo Tolstoi: Anna Karenina)
Es war ein verrückter schwüler Sommer, dieser Sommer, in dem die Rosenbergs auf den elektri-schen Stuhl kamen und ich nicht wusste, was ich in New York eigentlich wollte. (Sylvia Plath: Die Glasglocke)
Wer von sich selber zu erzählen beginnt, beginnt meist bei ganz anderen Leuten. (Erich Kästner: Als ich ein kleiner Junge war)
Er war ein alter Mann und er fischte allein in einem Boot im Golfstrom, und seit vierundachtzig Tagen hatte er keinen Fisch gefangen. (Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer)
Hätte Desiree mir nicht mit ihren langen, sauberen Fingern jeden Lippenstift und Nagellack einzeln vorgeführt, wäre ich niemals auf die Idee gekommen zu klauen. (Fatma Aydemir: Ellbogen)
Am Rande der kleinen, kleinen Stadt lag ein alter, verwahrloster Garten. (Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf)
Mr. und Mrs. Dursley im Ligusterweg Nummer 4 waren stolz darauf, ganz und gar normal zu sein, sehr stolz sogar. (J. K. Rowling: Harry Potter)
Ich habe lange gezögert, ein Buch über die Frau zu schreiben. (Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht)
Vieles fiele leichter, könnte man Gras essen. (Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung)


24. Februar 2020

Hinter der Maske: Ich bin …

Schreiben am Rosenmontag

Nach dem Impuls „Hinter der Maske: Ich bin …“ haben wir heute Morgen in der Montagsfrauenschreibgruppe geschrieben. Der Kursschwerpunkt ist ein autobiografischer – aber es sind durchaus auch fiktive Texte entstanden. Das Thema Masken ist so vielfältig! Entlastung, Scham, Spiel, Tarnung – nimm den Stift und forsch in dir nach dem, was Masken für dich bedeuten.


17. Februar 2020

Sei doch mal kreativ!

Üben ist auch eine Option

In letzter Zeit werde ich (wieder) verstärkt von SchreibwerkstattteilnehmerInnen mit dem Wunsch konfrontiert, spontan zu schreiben, textlich kreativer zu werden, leichter in Gang zu kommen, frei zu sein für alles und jedes – und stattdessen die Erfahrung zu machen, die hinter folgendem Bild steht: Denk nicht an einen rosa Elefanten! Nehmen sie sich vor, spontaner, kreativer, flüssiger und freier zu schreiben, desto verkrampfter, kopierender, blockierter und angeketteter scheinen sie zu werden oder sich zu fühlen.
Dann erfolgt die (meist jammerige) Diagnose: Irgendetwas im Leben muss sich erst ändern, damit … Ich war schon als Kind nicht kreativ, also … Die Schreiblehrerin müsste andere Impulse geben, dann … Die Schreiblehrerin lächelt. Und sagt: Üben ist auch eine Option.
Vielleicht waren wir mal als Säuglinge spontan. Vielleicht waren wir als Kindergartenkinder im Fluss. Vielleicht. Jetzt aber sind wir erwachsen. Wir haben die Schule hinter uns. Wir haben uns mit Regeln auseinandergesetzt, auch mit Schreibregeln. Wir haben Muster entwickelt, auch Schreibmuster, die uns helfen zu handeln. Wir können ja schreiben, auch auf Kommando sozusagen, alles Mögliche fließt uns locker aus der Hand: Einkaufszettel, Whatsapp-Nachrichten, Antworten auf Mails usw. Das ist gut so. Dass wir dabei Konventionen beachten, z. B. dass private Whatsapp-Nachrichten andere Wörter erlauben als berufliche Mails, das merken wir meistens gar nicht, wir haben die Muster gelernt, viele Jahre angewendetund dabei (unmerklich) geübt und schütteln sie nun einfach aus dem Handgelenk. Das ist gut so.
Genauso verhält es sich mit anderen Arten des Schreibens. Dem Bewusstseinsstrom zu folgen, haben wir nicht jahrelang geübt, erst recht nicht, den inneren Bildern sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Wir sind nicht geübt darin, den Zensor beim Schreiben auszuschalten, also keiner Regel, keinem Muster zu folgen. Und dann merken wir beim Schreiben, dass es nicht klappt: spontan, kreativ, flüssig und frei zu schreiben. Und sind gefrustet, sprechen oben genannte Sätze oder lassen es sein, das Schreiben.
Dabei ist es einfach so, dass jede Art zu schreiben geübt sein will. Auch die spontane usw.
Wenn einmal etwas gelingt, wenn einmal spontan etwas aus der Feder geflossen ist, ist es hilfreich, sich klar zu machen, was dazu verholfen hat, um diese Hilfen beim nächsten Mal bewusst inszenieren zu können. Ein paar Techniken gibt es auch, die dazu verhelfen, erst einmal diese erste Erfahrung machen zu können. Da sind z. B. das Listenschreiben, das Schnellschreiben und das Blindschreiben zu nennen. Und dann gibt es keine Alternative zum Üben, zum täglichen Schreiben also. Wenn man es wirklich will.


10. Februar 2020

In Unrast gelesen

Von parallelen und anderen Zeiten

Weil ich als Schreiblehrerin auch literarisches Schreiben unterrichte, das Literarische als Kategorie tatsächlich unter fast jedem Text liegt, der in Kreativen Schreibwerkstätten entsteht, und weil ich vor allem mit Frauen arbeite, die ich ermutigen möchte, ihrem spezifischen Blick auf die Welt zu trauen, und weil ich in der immer noch männlich dominierten Welt ein Zeichen setzen will, lese und empfehle und verarbeite ich fast ausschließlich Literatur, die von Frauen (und sich als divers verstehenden Personen) geschrieben wurde.
Dabei lasse ich mich leiten vom Zufall (ich stehe in einer Bahnhofsbuchhandlung und brauche Lektüre für die Reise), von Erfahrung (die neuen Bücher von Juli Zeh, Birgit Vanderbeke oder Dörte Hansen will ich lesen) und vom öffentlich Diskutierten (Neuerscheinungen, Preise etc.). So also las ich >i>Unrast

von Olga Tokarczuk, der Literaturnobelpreisträgerin 2019 (neben Peter Handke).
Fasziniert hat mich die Struktur des Romans, der im Grunde das spiegelt, was die RomantikerInnen bereits postuliert haben: Die Ich-Erzählerin reist durch die Welt und erzählt von Begegnungen – nichts verrät eine Chronologie. Dennoch gibt es chronologische Erzählungen in der Nicht-Chronologie, ebenso wie es Chromos-Momente gibt, und dann ist da eben noch die Parallität der Geschehnisse in der Zeit (oder gibt es gar mehrere parallele Zeiten?).
Drei Arten von Zeit sind miteinander verwoben in diesem Roman, der mich am Ende verloren in die in ihrer Unübersichtlichkeit beängtigende und gleichzeitig in ihrer unglaublichen Fülle beglückende Weltwirklichkeit entlässt.

Tokarczuk, Olga (2019): Unrast. Zürich: Kamps


3. Februar 2020

Jahresgruppe Kreatives Schreiben

Noch wenige freie Plätze!

Zu einem Thema oder einer Textsorte schreiben, den heilsamen Effekt des Schreibens erfahren, eine eigene Schreibstimme entwickeln, Autobiografisches und Fiktives verfassen, assoziativ formlos drauflos oder mit Handwerkszeug ausgestattet eine Geschichte oder ein Gedicht schreiben – Kreatives Schreiben ist vielfältig und bedient unterschiedlichste Funktionen des Schreibens. In einer Gruppe Gleichgesinnter lassen sich Spaß am Texten und Vorlesen mit schreibenden Wanderungen im Innen und Außen verbinden. Einige der Schreibwerkstatttreffen finden in Cafés und Museen in Kassel statt. AnfängerInnen und Fortgeschrittene sind willkommen.

Termine: Dienstags, 17–20 Uhr (10 Termine, monatlich), Beginn: 18. Februar 2020 (die Termine des Jahres können bei Kirsten Alers erfragt werden)
Ort: Wortwechsel Kaufungen, Raiffeisenstraße 15
Kosten: ca. 120 Euro (für Kursgebühr, Kopien, Getränke)
Anmeldung: vhs Region Kassel (Kursnummer Y 2116)


27. Januar 2020

Erfasst und eingehüllt

von Jahreszeiten

Es gibt Bücher, die sich nicht aufdrängen. Die so tun, als bräuchte man sie nicht. Die unspektakulär daherkommen, nicht dick sind, mit zwei Farben auskommen und mit einem Einworttitel. Und selbst, wenn man sie schon gekauft oder geschenkt bekommen hat, liegen sie da und warten geduldig, bis man sie aufschlägt und beginnt zu lesen – und aufhören muss nach wenigen Seiten, weil man hinausgeschleudert wird in ein Universum, das immer schon bedrohlich unübersichtlich war, oder hinabgezogen in die eigenen geheimen Angründe, manchmal gleichzeitig. Und man fragt sich, ob man täglich ein Häppchen verträgt oder ob das gerade gekaute nicht für das ganze Jahr reicht.
Ein solches Buch ist Jahreszeiten von Etel Adnan. Es umfasst vier Kapitel (Frühling, Herbst, Winter, Sommer) – 76 Seiten Facetten –, ein Interview mit der Autorin und 8 Seiten Abbildungen aus ihrem grenzüberschreitenden Werk. Hier eine Facette als Kostprobe:
„Da sich die Erde nicht ausdehnt, tut es die Macht und könnte außer Kontrolle geraten. Indem sie sich selbst verzehrt, wird sie diesen turbulenten Planeten verzehren, Vulkane inbegriffen. Lässt man im Raum eine Hohlform zurück, ohne Körper? Ohne Geist? Ist der Geist allgegenwärtiger als das Fleisch? Wenn ja, sind beide nicht vom selben Stoff, sondern einander fremd und doch voneinander abhängig. Kann man der Wirklichkeit trauen? Es gibt Schluchten, in die wir entweder fallen, um zu sterben, oder mit dem Leben zu beginnen“ (S. 8).
Etel Adnan (geb. 1925 in Beirut, Libanon) ist Malerin und Schriftstellerin. Ich habe sie bzw. ihre Werke während einer Documenta (ich glaube, es war die 13. im Jahr 2012) immer wieder aufgesucht – schon damals war es für mich nicht leicht zu fassen, was an diesen so einfach daherkommenden Bildern so unwiderstehlich ist ... Bei den Texten ist es mir deutlich!

Adnan, Etel (2012): Jahreszeiten. Schrift und Bilder. Hamburg: Edition Nautilus


20. Januar 2020

Fang es an

Fang es heimlich oder endlich an

Das Bild von Paul Klee mit dem Titel „Anfang eines Gedichts“ (1938) ist und bleibt aktuell, es kann jedes Jahr, jeden Tag als Impuls dienen – und besonders das Wort „heimlich“ ... usw. ...


13. Januar 2020

Das Jahr ist eine Schlange

Schlangengedichte schreiben

Ein Tag reiht sich an den nächsten, immer stoßen die Tage aneinander, 24 Uhr ist 0 Uhr. In einem Schlangegedicht ist es so ähnlich. In Meret Oppenheims 2. Schlangengedicht von 1974 beginnt jedes Wort mit dem Buchstaben, mit dem das Wort davor aufgehört hat. Spannender finde ich (optisch, akustisch und vom Sog her, auf den ich mich beim Schreiben einlassen muss) die Variante, in der jeder Satz mit dem letzten Wort des Satzes davor beginnen muss.
Ein kurzes Beispiel: Wir gehen zum Rudern. Rudern ist wie das Leben. Leben heißt auch, nicht zwischen rückwärts und vorwärts unterscheiden zu können. Können wir überhaupt etwas erkennen?


6. Januar 2020

Am Anfang ...

... arbeitete Anna, aber Axel atmete

Das Jahr 2020 ist noch frisch – vielleicht lastet es auch noch nicht so schwer auf den Schultern, sodass ein Spielchen möglich ist. Zum Beispiel ein tautogrammatischer Text auf A. Das geht so: Du erzählst eine Geschichte, in der (im Idealfall) jedes Wort mit A beginnt.
Mein großes Vorbild in Sachen Tautogrammtexte ist einer der NestorInnen der Konkreten Poesie Franz Mon, hier deshalb ein Beispieltext von ihm vom 19. 2. 2003 (die Form des Textes mit den untereinander stehenden Wörtern ist nicht Bestandteil eines Tautogramms):

seltsamerweise
strauchelte
saumselig
sisyphos von
steinschlag
standspur
speiseresten
satt
separiert
sekundenlang
sobald ihm das
stichwort
stuhlbein durchs
stöpselherz
strich.
sah
stolpernd
seine
spasmische
staubspur im
sechseck.
stotterte
seismisch
skrupulös
statt den
salzigen
strunk im
stiefel zu
substituieren


29. Dezember 2019

Jungle Writing

Neue Plattform für Kreatives Schreiben

Zu Expeditionen ins Kreative Schreiben lädt die neue Plattform Jungle Writing ein. Auf Jungle Writing stellen Kolleginnen (alle sind Mitglieder in der Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung) Methoden vor, Schreibübungen, Bücher über und zum Kreativen Schreiben und auch Texte, die aus Übungen des Kreativen Schreibens entstanden sind. Ziel der neuen Website ist es, die Idee des Kreativen Schreibens als Abenteuer auf dem Weg zu Geschichten, Erzählungen und Erinnerungen weiter in die Gesellschaft zu tragen und damit vor allem jene zu erreichen, die sich bislang wenig oder gar nicht mit Kreativem Schreiben auseinandergesetzt haben. GastautorInnen sind willkommen. Es gibt keine strukturellen oder inhaltlichen Vorgaben, alle Interessierten sind frei, ihre persönliche ,Note’ einzubringen und über Gruppenerfahrungen, Methoden, Erlebnisse oder Meinungen rund ums Kreative Schreiben zu posten. Wir passen lediglich das Design an. Interessierte wenden sich bitte an Christina Denz (info@denz-berlin.de) oder an Gabriele Gäbelein (gaebelein@schreibraum-potsdam.de).
Ansprechend ist die Seite, das ist keine Frage – witzig vor allem die Bilder und Begriffe, die sich alle auf den Dschungel beziehen. Nicht alles ist gut, das ist auch keine Frage – einiges ist flach und abgegriffen oder gar fragwürdig (wie die „10 kreative Schreibimpulse für Eilige“), anderes ist spannend oder erhellend (wie der Beitrag „Eine Gruppe ist keine Klasse“). Aber so ist das, und: Alle können mitmachen, sodass das Kreative Schreiben, wie auch immer es verstanden und unterfüttert wird, (noch) bekannter wird.


23. Dezember 2019

Nur das Beste in f

Fluffige Feiertage

Ich wünsche: freudvolle, friedliche, fantastische, furchtlose, fließende, freundschaftliche, funkelnde, frustfreie, famose, federleichte, faltenfreie, frohgemute, fulminante, forderungsarme, fokussierende, festliche, funklochige, fröhliche, feierliche, findige, fluffige Feiertage!
Und immer schön schreiben, z. B. auch mal einen tautogrammatischen Text wie obigen. (Bei einem tautogrammatischen Text beginnen alle Wörter mit dem gleichen Buchstaben.)


16. Dezember 2019

Die Kleinigkeiten wahrnehmen

Listentexte schreiben

Als ich heute durch Niederkaufungen spazierte, fielen mir die unterschiedlichsten Arten auf, wie ein Baum, ein Strauch kahl sein kann, wie die letzten Blätter sich festklammern, dass da noch schwarze, braune, gelbe und rote Früchte in den dürren, knorrig wirkenden Astgäbelchen oder an den zarten äußersten Enden der Ästchen hängen. Ich schrieb eine Liste unterwegs mit dem Titel: Wie Niederkaufunger Bäume und Sträucher kahl sein können. Inspiriert hat mich dazu die längst verstorbene japanische Schriftstellerin Sei Shonagon (sie lebte um 1000 in Japan), deren Textstücke, Fragmente, Gedichte und Listen in einem Büchlein – Das Kopfkissenbuch der Dame Sei Shonagon – zusammengefasst sind. Der Klappentext erläutert: „Zui-Hitsu, ,aus dem Pinsel geflossen’, nennen die Japaner jene Literaturgattung, deren Kunst darin besteht, Einfälle, Erlebnisse und Stimmungen plaudernd, improvsierend und gleichsam mühelos zu Papier zu bringen.“
Als Inspiration (vielleicht zum Festhalten von Winterimpressionen in dieser derzeitigen doch farbreduzierten Draußenwelt) hier der Listentext Was vornehm ist.

Was vornehm ist
Schnee auf Pflaumenblüten.
Glyzinienblüten.
Ein bildschönes Kind, das Erdbeeren isst.
Eine weiße Jacke auf hellvioletter Weste.
Entenküken.
Ein Rosenkranz aus Bergkristall.

Zum Listenschreiben empfehle ich auch, zum Blog-Eintrag vom 31. Juli 2017 zurückzuspringen.


9. Dezember 2019

Kluges für Minuten

Minutenessays von Katharina Hacker

Der Klappentext sagt, dass das kleine Bändchen für Gern- und Nichtgern-LeserInnen, für Gern- und Nichtgern- SchreiberInnen ist, denn: Die Essays sind dicht und kurz genug (man braucht tatsächlich kaum läner als eine Minute, um eins zu lesen), im Buch steht was drin und da sind leere Seiten für eigene Worte – ich jedenfalls als Gern-Leserin und Besondersgern-Schreiberin fühle mich herausgefordert zum Lesen und Schreiben, von Klugheit, Dichte und Form. Ein Beipsiel:

Immer das gleiche
Ich nehme Idioten, die mir nicht erlauben, sie zu ignorieren, vor allem übel, dass ich ihretwegen immer das gleiche sage, noch schlimmer, ein ums andere Mal das gleiche denke. Es ist nicht fruchtbar, darüber nachzudenken, warum es keine Ehe zwischen Menschen des gleichen Geschlechts geben sollte. Es ist nicht fruchtbar, darüber nachzudenken, ob Menschen, di in Not sich mit ihren Kindern zu retten versuchen, Wirtschaftsflüchtlinge sind.

Die kurze Form passt auch in die Zeit, in der irgendwie niemand mehr Zeit hat, zum ausufernden Lesen nicht, zum alles verlangsamenden Schreiben schon mal gar nicht ...
Katharina Hacker: Darf ich dir das Sie anbieten? Minutenessays. Berenberg 2019


2. Dezember 2019

Erste Sätze

So beginnen PreisträgerInnentexte

Am Freitag ist der 7. Nordhessische Autorenpreis im Offenen Kanal Kassel verliehen worden. Es wurden vier PreisträgerInnen durch ein Abstimmungsverfahren mit Publikumsbeteiligung ermittelt. Die ersten Sätze aus den vier gekürten Texten mögen als Schreibanregung dienen – veröffentlicht sind die Geschichten noch nicht. Möglicherweise wird 2020 eine Anthologie erscheinen.
Hab ein Feuerwerk vor deinem Haus gezündet. [...] (Lisa Neumann (Gudensberg), 1. Preis mit: Brausepulver).
Da verpuppt sich was. [...] (Patricia Malcher (Lüdinghausen), 2. Preis mit: Nachkoloriert).
Hautschnitt eins: du hattest einen Satz gesagt, der vom Ende sprach, von etwas, das uns vertrauter schien als Ewigkeit [...]. (Raoul Eisele (Wien), 3. Preis mit: sektion).
Es wird noch drei Minuten regnen, also wartet Frank Olbrich unter dem Vordach und sieht sich währenddessen seine Einkaufsliste in dem kleinen Tagebuch an. [...] (Jörg Ho (Kassel), 3. Preis mit: Erinnerungen an die Zukunft).


25. November 2019

Schluss mit den Morden an Frauen

Heute Trauermarsch in Kassel

Heute – am Internationelen Tag gegen Gewalt an Frauen – wird in Kassel ein Protest- und Trauermarsch stattfinden, der auf die erschreckend hohe Zahl von Morden an Frauen in der BRD hinweisen will, ihnen gedenken und eine Stimme geben will und sich für eine effektive Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen einsetzt.
In der BRD wird jeden 2. Tag eine Frau, weil sie eine Frau, ist ermordet. Wir nennen dies nicht Beziehungs- oder Eifersuchtsdrama, sondern Femizid. Gemeinsam mit vielen anderen Bewegungen weltweit setzen wir uns damit für eine Abschaffung von Gewalt gegen Frauen und die systematischen Morden an Frauen und ihren Kindern ein.
Treffpunkt ist um 16.30 Uhr Am Stern in der Stadtmitte, der Trauermarsch geht über die Königsstraße bis zum Rathaus. Veranstalter ist das Kasseler Frauenbündnis.


18. November 2019

7. Nordhessischer Autorenpreis

Preisverleihung am 29. November

Der 7. Nordhessische Autorenpreis kann verliehen werden! Aus 204 in der ersten Jahreshälfte eingereichten Texten hat zunächst eine vom Vorstand des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V. beauftragte dreiköpfige Lesegruppe (Jana Ißleib, Jacqueline Engelke, Klaus Henning) 68 Texte ausgesucht – in stundenlangem kriteriengeleiteten Ringen. Aus diesen haben die Jurymitglieder Nicole Braun, Martin Piekar, Jörg Robbert, Isa Rühling und Alexandra Serjogin am 3. November zehn ausgewählt – sie sind die Gewinnertexte!
Noch sollen die Namen hinter den Texten nicht verraten werden – hier aber schon mal die Titel, die Lust machen auf mehr, auf das, was „Und täglich grüßt die Gegenwart“ bedeuten kann, welche Facetten die im Titel des Wettbewerbs anklingenden Hauptdimensionen Gegenwart und Wiederholung haben kann: Warten, Unmöglichkeitsform, Brausepulver, Sektion, Nachkoloriert, blüten wege, Heute an morgen denken, Erinnerungen an die Zukunft, Bad Wilhelmshöhe und Verliebt.
Die Preise werden am 29. November 2019 in einer öffentlichen Feierstunde mit Lesung durch die zehn AutorInnen im Offenen Kanal Kassel ab 19 Uhr verliehen. Das Publikum wird an der Vergabe der ersten drei Preise beteiligt, es verspricht also ein spannender Abend zu werden. Der Eintritt ist frei.


11. November 2019

Congratulations!

Hans Magnus Enzensberger zum 90.

Nicht unumstritten ist er, ich will mich hier auch gar nicht zu ihm und seinem Werk (politisch und literarisch) positionieren. Da sind Andere kompetenter. Ich will ein Buch empfehlen, das es nur noch antiquarisch gibt und das zu meinen kostbarsten gehört: Enzensberger hat unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr (ein Anagramm wäre aus seinem Namen wäre netter gewesen) Das Wasserzeichen der Poesie veröffentlicht. Es versammelt besondere Stücke aus der Dichtung und kreative Variationen derselben. Es ist eine von Seite zu Seite immer wieder neue Offenbarungen bietende Fundgrube für alle, die Menschen an Poesie und/oder Kreatives Schreiben heranführen möchten.

Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechszig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr. Erschienen 1985 bei Greno (Nördlingen)


4. November 2019

Tod und Stille

Schreiben im November

Der November ist der Monat mit den Totenfesten, Allerheiligen, Allerseelen, Volkstrauertag, Totensonntag. Nichts ist mehr da vom Gold, das noch vor Tagen draußen leuchtete. Kaum ein Vogel ist mehr zu hören. Usw. usw. usw. JedeR hat ein eigenes Verhältnis zum November, eine eigene Geschichte mit diesem Monat. Und da es nicht mehr sehr spaßig ist, draußen zu sein, kann man ebensogut im Haus bleiben – und schreiben. Als Impuls möchte ich das folgende Gedicht anbieten, es lädt auch ein, sich zu erinnern an die, die schon gegangen sind.

Mascha Kaléko
Memento

Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast’ ich todentlang
und lass mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr –
und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: Den eignen Tod, den stirbt man nur;
doch mit dem Tod der andern muss man leben.


28. Oktober 2019

Schrift und Bild 2

(Kunst?)Werk aus Fundstücken

Machen – das empfahl ich im Blogeintrag vom 2. 9. 2019. Machen ist auch heute ein Motto: etwas machen aus Herausgefallenem, Herabgefallenem, Weggeworfenem, Abgeworfenem, Verworfenem ... Man nehme: Schnipsel aus der Altpapierkiste (mit Text und ohne), Herbstblätter (oder was man sonst so mehr oder weniger Flaches findet); alles wird aufgeklebt, collagiert, geschichtet ... Und dann braucht das Werk noch einen Titel. Fertig. Und falls sich jemand fragt, was denn nun das Schreibkreative dabei ist: die Titelfindung natürlich. (Und wenn das nicht reicht: Weitere Betextungen sind selbstverständlich nicht untersagt!)


21. Oktober 2019

Sprache ermöglicht

... und engt ein

Manchmal sammle ich Zitate, die ich irgendwann noch mal gebrauchen will. Dann speichere ich sie irgendwohin und ... vergesse sie. Wenn ich sie dann wiederfinde, bin ich ganz beglückt, wenn sie immer noch ein Nicken, ein lautes Ja, begeisterte Zustimmung in mir auslösen. Ich fand folgendes Zitat also wieder, als ich nach Material zum Lesetagebuch suchte (das mit dem Lesetagebuch verfolge ich dann ab morgen weiter):
„Wenn verschiedene Sprachen den Geist ihrer Sprecher auf unterschiedliche Weise beeinflussen, dann nicht wegen der Dinge, die jede einzelne Sprache den Menschen zu denken gestattet, sondern vielmehr wegen der Art von Informationen, zu deren gedanklicher Berücksichtigung jede Sprache ihre Sprecher gewohnheitsmäßig verpflichtet.“ Genau, rufe ich Guy Deutscher, dem Verfasser dieses Satzes zu. Er ist Linguist und Mathematiker und unterrichtet an der Universität Manchester. Genau. Wobei ich sagen möchte: Auch den ersten Teil des Satzes, den Deutscher verneint, würde ich bejahen, denn es macht doch wohl einen Unterschied eben auch fürs Denken und das Verständnis von Welt, ob ich sechs grammatische Zeiten oder zwölf zur Verfügung habe oder ob ich es gewöhnt bin, ein Genus (wie im Englischen) zu verwenden oder drei Generi (wie im Deutschen: Femininum, Maskulinum, Neutrum). Oder ist das etwa das, was Deutscher meint? Dass ich gedanklich zu berücksichtigen habe, von welcher Vergangenheit ich spreche und ob ich, wenn ich Studenten sage, wirklich nur männliche Studierende meine?
Auf jeden Fall ein Zitat, um darüber nachzudenken – und über die Struktur von Sprache und was sie uns verpflichtet, gedanklich zu berücksichtigen. So wäre also z. B. weiter zu fragen, ob die Sprache, in deren Verbreitungsgebiet ich lebe und die ich gewohnheitsmäßig spreche, meine Weltwahrnehmung prägt oder ob meine Weltwahrnehmung Sprache prägt.

Quelle: Deutscher, Guy (2010): Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. München: C. H. Beck


14. Oktober 2019

Tanz das Blau

Das Bauhaus schreiben 2

In den ersten Jahren war das Bauhaus noch nicht so sehr auf Architektur und Produktion ausgerichtet, das gesellschaftliche Experiment, die Entwicklung der einzelnen (KünstlerIn-)Persönlichkeit war zentral. Diese Idee wirkte sich auch auf den Fächerkanon aus, so gab es z. B. Gartenbau und auch Tanz.
1919 kam Gertrud Grunow mit fast 50 Jahren ans Bauhaus, das sie mit „ihrem ganzheitlich orientierten philosophischen Entwurf und den konkreten rhythmisch-musikalischen Übungen ihres Unterrichts“ (Müller 2016: 27) stark beeinflusste. Ihre Praktische Harmonisierungslehre „bestand in einer Wahrnehmungs- und Ausdruckssculung, die der Sensibilisierung, Wiedererweckung und Reintegration vernachlässigter Sinnesorgane und dem ,Heilwerden’ des Menschen dienen sollte“ (ebd.: 28). Gertrud Grunow, die die einzige Formmeisterin am Bauhaus war, soll ihre SchülerInnen zu außergewöhnlichem körperlichen Ausdruck ermutigt haben, u. a. durch solche Aufforderungen wie: „Und nun tanzen Sie die Farbe Blau!“ (ebd.: 32).
Diese Aufforderung möchte ich aufs Schreiben übertragen: Und nun schreiben Sie die Farbe Blau!
Konkrete Tipps: Wähl eine Farbe (Wachskreide, Buntstift oder gar Wasserfarbe) – es muss nicht Blau sein – und nimm ein großes Blatt (mindestens DIN A3). Kritzel das Blatt voll, ausufernd, deckend oder luftig – lass dich vom Moment ziehen. Wenn du meinst, dass es genug ist, hör auf. Und dann schreib.
Schreib die Farbe! Variante 1: Benutz die Bezeichnung für die gewählte Farbe (also Blau oder Orange etc.) so oft, wie es sich gut anfühlt. Variante 2: Schreib die Farbe, ohne die Bezeichnung auch nur einmal zu benutzen – am Ende sollte für eine Leserin deutlich sein, um welche Farbe es sich handelt.

Quelle: Müller, Ulrike (2016): Bauhaus-Frauen. Meisterinnen in Kunst, Handwerk und Design. 3. Auflage. München: Elisabeth Sandmann im Insel Verlag (LESENSWERT!)


7. Oktober 2019

Text-Gewebe

Das Bauhaus schreiben 1

Von Sonntag bis Dienstag weilte ich auf einer privaten (Weiterbildungs-)Reise in Dessau. Die Faszination, die das Bauhaus-Konzept auf mich ausübt, hat jetzt etwas Handfestes bekommen. Drei Faktoren werden mich nachhaltig begleiten: Erstens ist da das historische Ensemble der Schule selbst: Wir übernachteten in den Zimmern, in denen einst die SchülerInnen und JungmeisterInnen auch wohnten. So viel Licht, so viel Platz, so viel Transparenz – atmen kann man dort und kreativ werden. Zweitens ist da das neue Bauhaus-Museum – alles da, was man aus Büchern kennt: Stühle, Lampen, Zeichnungen ... und Gewebe. Drittens faszinierte mich insbesondere die Idee des Vorkurses, erfunden von Johannes Itten in Weimar (1919–1923), in Weimar und ab 1925 in Dessau fortgeführt von Laszlo Moholy-Nagy (1923–1928) und später noch Josef Albers (1928–1933); solch einen Vorkurs einmal für das Kreative Schreiben entwickeln, dachte ich ... Dazu einmal an anderer Stelle.
Um das, was die Frauen leisteten, nämlich mit den Erzeugnissen der Weberei sowohl Designvorstellungen bis heute zu prägen als auch durch den Schritt zu auf die Industrie (Stichwort: Serienfertigung von Stoffen und Teppichen) das wirtschaftliche Überleben des Bauhauses in Dessau entscheidend zu sichern, in den Vordergrund zu stellen, lade ich dazu ein, zu einem Teppich von Anni Albers zu schreiben. Sich von den Mustern, vom Gleichbleibenden und sich Wandelnden, vom Seriellen und den Variationen anregen lassen zu einem einem Text (textur = lat. Gewebe), etwas Inneres mit etwas Äußerem verweben ...


30. September 2019

200 Jahre Bremer Stadtmusikanten

Kreativer Umgang mit Märchen 2

1819 wurde das Märchen Die Bremer Stadtmusikanten erstmalig in den Kinder- und Hausmärchen der Grimms veröffentlicht – also genau vor 200 Jahren. Diesen ,Geburtstag’ möchte ich zum Anlass nehmen, zur Adaption des Märchens einzuladen. Nimm dir ein Märchenbuch aus dem Regal (oder such im WWW), lies das Märchen und versetz die Geschichte in die heutige Zeit.
„Etwas Besseres als den Tod findest du überall“ – dieser berühmte Satz des Esels im Märchen lässt natürlich sofort an die Millionen Menschen denken, die weltweit auf der Flucht sind, vor Hunger, Diskriminierung, Verfolgung, Folter etc. Aber auch andere Assoziationen sind möglich. Wenn du dich anregen lassen möchtest, empfehle ich dir ein Buch aus meinem Verlag, das textlich und in der künstlerischen Gestaltung eine wunderbare Adaption des Märchens darstellt (siehe auch Blog-Eintrag vom 18. April 2016):

Yara Leonie Semmler
FischWolfVogelEidechse
Verlag Wortwechsel
ISBN 978-3-935663-29-8
13,90 Euro


23. September 2019

Wenn Rotkäppchen mit Rapunzel ...

Kreativer Umgang mit Märchen 1

Am vergangenen Dienstag besuchte ich mit einer Gruppe schreibender Menschen eine besondere Einrichtung im Landkreis Kassel, die der Kunst und den Märchen gewidmet ist: die Märchenwache in Schauenburg-Breitenbach. Wir hatten dort einen so vergnüglichen Abend, dass ich wieder (mehr) Lust auf Märchen(schreiben) bekommen habe und dazu augenblicklich also auch anstiften will.
Ich lade dazu ein, zwei oder drei dir bekannte Märchenfiguren auszuwählen (z. B. Rotkäppchen, Rapunzel und Hans im Glück), sie sich begegnen, miteinander sprechen und neue märchenhafte Abenteuer erleben zu lassen.


16. September 2019

CONNEX I/O – mitmachen!

Kollaboratives Schreiben 4.0

Donnerstag, 12. 9., es ist 19.07 Uhr, Schummerlicht, die Laptops und Tablets summen, Angelika und Klaus klappen ihre Laptops auf, Sabine setzt sich mit ihrem Schreibheft etwas abseits, ich bekomme eine kurze Einführung in ein Tablet, drei weitere Menschen haben sich uns gegenüber an die Laptops im Untergeschoss des Kunsttempels gesetzt. Ich bin ein bisschen aufgeregt.
„Der Kunsttempel wird in diesem Jahr 20 Jahre alt. Und wir feiern die Sprache“, sagt Friedrich Block, Vorsitzender des Vereins Literatur und Kunst, der auch für die aktuelle Ausstellung Poeisis – Sprachkunst verantwortlich zeichnet. „Kollaboratives Schreiben war vor 20 Jahren auch schon ein wesentlicher Punkt digitaler Kunst.“ Kollaboratives Schreiben ist das Stichwort für Sascha Pogacar. Mit Matze Schmidt hat er dazu eingeladen, an diesem Donnerstagabend Texte zu mischen, zu samplen. Eingeladen sind wir, uns an CONNEX I/O zu beteiligen, einer offen zugänglichen Plattform, auf der in 100 ,Schreibzimmern’ unbeschränkt, unzensiert und gleichzeitig Menschen schreiben, löschen und ergänzen können. Löschen?
Nur drei aus der Donnerstagsschreibwerkstatt haben sich auf dieses Experiment einlassen können, insbesondere die Möglichkeit, dass Störungen, Überschreibungen, Hineinschreibungen und eben auch Löschungen dem eigenen Text ,zugefügt’ werden können, hat wohl einige abgeschreckt. „Das Verfahren verflüssigt das Monolitische, das Texte oft haben“, sagt Sascha. Matze lacht und sagt: Manchmal entstehen battles, ich mag das!“
Ich habe schon längst begonnen, habe mich in Zimmer Nr. 54 eingeloggt, dann gehe ich zu Nr. 11, 007, 085. Äh, Momnent mal, wer mischt denn da mit, also, ich kann nicht richtig schreiben, da setzt jemand immer wieder Wörter in meinen Text, wer das ist, weiß ich nicht, Pokerfaces, ich denke an die battles, will ich nicht, logge mich aus, atme durch. Im Vorfeld hatte ich mir überlegt (nach einer Konzept-Idee von Aneke, die sich 100 Fragen ausdachte und in jedes der Schreibzimmer eine davon positionierte), mal Nomen durch andere Nomen zu ersetzen, mal Subtextsätze hinter jeden vorhandenen Satz zu schreiben, mal alle Adjektive zu streichen – dazu komme ich gar nicht, meine konzeptionellen Überlegungen werden torpediert. Ich muss umdisponieren.
Man kann sehen, in welchem Zimmer in diesem Moment wie viele Personen aktiv sind, ich wähle das mit den meisten Aktiven, will mitmischen, mischen, samplen, battlen vielleicht gar ... In Nr. 21 sind drei aktiv, ich logge mich ein. Lese Anekes Eingangsfrage, lasse mich leiten, ziehen von dem, was ich finde, assoziiere, wiederhole, assoziiere, gehe in Resonanz, spiele, mische mit ... Heute, am Sonntag, den 15. 9., schaue ich nach, was dort jetzt steht, wieder ist es 19.07 Uhr, ich finde Folgendes:

Was formt sich in Dir?
Eine meiner Ankündigungen setzt Sprache und Schrift in ein rosa Spannungsfeld.

, decollage, Stempeldruck, Fotografie bis zu computerprogrammen. In Form von text-Bild-Partituren sind auch Verbindungen zur akustischen dich-tung und musik gegeben. gerade in einer Zeit der Bilderflut und der Mens ist es von Interesse, text-Bild-Verbindungen ungerührt zu erforschen, kritisch zu feiern, poetisch zu erproben und spielerisch auszukotzen

eine heiratsfähige Frau
eine Tür
eine Kampfarena
ein Teekessel
Ein Glas Wasser
eine Straße
eine verschlossene Tür
ein nicht-heiratsfähiger Mann

Collagen

collagen

also, assoziazohnen sind gefährliche
Dinge? gerechte dinge genormte dinge bekloppte behaemmerte bediente besorgte betende blasse dinge bruenftige dinge blendende beruehrende balabala balabala dinge buersten borsten bier bor bass bratpfanne baeren beeren becken boden balken barren

Assoziazonen – was geschieht wohl in diesen Gebieten? Sie sind wohl extrem gefährlich ...

Und in Zimmer Nr. 85 steht heute Abend Folgendes:

Was von Deinen Träumen läßt sich jetzt umsetzen?
die r-ä-u-m-e dazwischen

Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen ihren Formen verboten.
lose enden rote und blaue faeden und enden faeden und gewebe und texturen und vergebliche versuche alleine zu weben wollte ich nicht immer eine egalitare tafelrunde ohne artus und ohne ritter und ohne koenige wollte wollte will will und ein gewebe mit vielen die sich verbinden im vergleichlosland ohne leibeigenschaft ohne sklavenhandel 400 jahre 400 4000 40000 jahre patriarchat und und und und ohne tafelrunden und gewebtes gewebe

Ich habe einige Leerzeilen und Steuerzeichen gelöscht, sonst nichts geändert. Morgen ist mein Text (jeweils in Orange) – noch ist er da – vielleicht nicht mehr da ...
CONNEX I/O gibt es schon seit 1997, in dieser Form des offenen experimentellen Forums ist es noch bis Ende Oktober nutzbar. Ich rufe auf zum Mitmachen, die Erfahrung ist eine spannende. Hier geht’s lang.


9. September 2019

Ein Verlust

Toni Morrison ist tot

Als erstes Buch von Toni Morrison las ich Menschenkind. Und war erschüttert. War aufgewühlt, wollte das alles nicht hinnehmen – obwohl es lange her und weit weg geschehen war und ich doch gar nicht betroffen, oder etwa doch? Obwohl ich nicht schwarz und nicht arm bin, (fast) nicht diskriminiert werde? Toni Morrison zog mich, wie andere WegweiserInnen zuvor, hinein in (m)eine Verantwortung für das Hinschauen, für das Nicht-Hinnehmen.
Heute ließ mir meine Kollegin Lahya Aukongo ein Zitat von Toni Morrison zukommen, das ich hier sehr gern wiedergeben möchte, nicht zuletzt weil auch ich eine Lehrerin bin: „Ich sage meinen Studierenden: ,Wenn Sie diese Jobs bekommen, für die Sie so hervorragend ausgebildet wurden, dann denken Sie daran, dass Ihr eigentlicher Job darin besteht, wenn Sie frei sind, einen anderen Menschen zu befreien. Wenn Sie etwas Macht haben, dann ist es Ihre Aufgabe, jemand anderen zu ermächtigen […]’.“ („I tell my students, ,When you get these jobs that you have been so brilliantly trained for, just remember that your real job is that if you are free, you need to free somebody else. If you have some power, then your job is to empower somebody else [...]’.”)
Toni Morrison starb am 5. August mit 88 Jahren in New York. Sie war Schriftstellerin und bekam 1993 den Literaturnobelpreis, sie war aber auch als Lektorin Förderin der afroamerikanischen Literatur und unterrichtete bis 2006 als Professorin Literatur und Creative Writing an der Princeton University.


2. September 2019

Schrift und Bild 1

Machen

Im April 2016 leitete ich zum ersten Mal mit meiner Kollegin (Kommunikationsdesignerin) Yara Semmler den Workshop Kreatives Schreiben und künstlerisches Gestalten. Und war angestochen. Bin bis heute angestochen. Kritzle, male, klebe, stemple, reiße, knicke – und schreibe. Und füge alles irgendwie zusammen, ohne System und ohne Sinn (also ohne den, der muss, der immer gefordert wird, vor dem Machen). Dann und wann gerate ich in einen Rausch, manchmal kommt sogar etwas heraus, bei dessen Betrachtung ich entzückt bin, Abendgedanken meistens, wenn das Tagewerk getan ist und ich einfach dasitze und MACHE. Es ist so befriedigend, dass ich dieses materialgestützte Machen empfehlen möchte – ganz ohne, dass es Handlettering oder Aquarellieren etc. heißt. Also: Nimm etwas aus der Zeitung oder aus dem Papierkorb, reiß ein Teil heraus, kleb es auf, schreib etwas hinein, den ersten Gedanken, der da ist ... Ein Beispiel:


26. August 2019

Nichts ist schwerer

Nur Mut!

Ein Zitat (das ich neulich am Eingang zur Küche der Kommune Niederkaufungen fand) soll den schreibkreativen Altweiber- oder auch IndianerInnensommer einläuten: „Nichts ist schwerer und erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein!“, schrieb Kurt Tucholsky.
Nein sagen zu Ausbeutung von Mensch und Tier und Erde. Nein sagen zu Diskriminierung und Menschenverachtung. Nein sagen zu Hass, Rassismus und repressiver Toleranz. Nein sagen und Nein schreiben – in Briefen an FreundInnen, in Sozialen Netzwerken, in der Straßenbahn usw. Wer wenn nicht wir. Wann wenn nicht jetzt.
Meine Arbeit als Schreibpädagogin verstehe ich als politisch – anfangend beim Umgang miteinander und mit unseren Texten in der Gruppe über die Idee, dass Schreiben emanzipatorisch wirkt, bis hin zur bewusstseinserweiterndern Befruchtung in literarischer Geselligkeit. In diesem Sinne lade ich ein zum Schreiben – und bitte, den aktuellen Newsletter zu beachten.


19. August 2019

Im Mantel der Wörter

Gisela Wurthmanns Gedichte sind erschienen

Wenn eine meiner (ehemaligen) SchreibschülerInnen ihre Texte veröffentlichen will, bin ich sehr gern bereit, sie zu lektorieren. Das habe ich also in diesem Sommer für Gisela Wurthmann gemacht, die seit 2006 immer wieder Teilnehmerin an diversen Schreibwerkstätten und Literaturkursen war. Nun sind ihre Gedichte erschienen: Im Mantel der Wörter heißt der kleine feine Band.
Kaleidoskop des Lebens: In 104 Gedichten gewährt Gisela Wurtmann Einblicke in ihr Inneres – Persönliches zeigt sich als Universelles, mit dem Lesende in Resonanz gehen können. Die in Bad Wildungen lebende Autorin schreibt von Liebe und Träumen und Träumen mit Liebe, macht Inventur des Damals, des Heute und des Dazwischen, verdichtet Abschiede und die vier Jahreszeiten und wagt sich mit Sense und Kratzbuckelschmorch auch an Nonsense-Lyrik. Gedichte mit Reim und Rhythmus stehen neben freien Versen, Haikus und Elfchen.
Das Buch hat 136 Seiten und ist zu bestellen über: ISBN 978-3-935663-32-8.

Als Kostprobe eins meiner Lieblingsgedichte:
Tage gibt es
Tage gibt es
die leider
abends enden


29. Juli 2019

Gute Reise!

Oder einfach: frohes Sommern

Es ist ja auch in Deutschland Sommer, es gibt sogar zwei Meere und noch das Steinhuder Meer und weitere Seen und viele Flüsse und Plätzchen zum Schreiben und Lesen in Hülle und Fülle. Also, falls die Fridays-for-Future-Bewegung Früchte trägt oder Anderes die Flugreise verhindert (ja!), hier ein Trost- und Lach-Gedicht von Joachim Ringelnatz (gefunden und ausgesucht von einer, die sowieso nur einen Platz im Schatten mit Tisch und Stuhl im Sommer braucht), zum Lesen (und möglicherweise ja auch als Schreibimpuls).

Die Ameisen
In hamburg lebten zwei Ameisen
die wollten nach Australien reisen.
Bei Altona auf der der Chaussee
da taten ihnen die Beine weh
und da verzichteten sie weise
dann auf den letzten Teil der Reise


22. Juli 2019

Zufallsfunde

Impulse von einem Spaziergang

Geht einfach spazieren, etwas springt ins Auge, da liegt eine leere Packung Gitanes, ein frühes rotes Blatt, ein Stein mit einer Ader, wie es sie eigentlich nur am Rhein gibt ... Ein paar Dinge wirst du finden, ein paar Dinge wird deinE SpazierpartnerIn finden. Ihr geht den gleichen Weg und seht doch vollkommen Anderes ... (Man kann auch einen Weg gehen, und Eine schaut nur nach links, Einer nur nach rechts.)
Wenn ihr wieder zuhause seid (oder irgendwo auf halbem Weg auf einer Bank, dann müsst ihr Schreibsachen mitnehmen), gebt der/dem jeweils Anderen einen Fund – das ist die Schreibanregung. (Oder erst wird wild gemalt und erst danach geschrieben. In jedem Fall sollte vorher eine Zeit vereinbart werden.)
(Die Idee stammt von Angelika Loewe, danke.)


15. Juli 2019

FFFFFFFFFFFFF

Tautogramm-Texte schreiben

Nach der Gruppe OuLiPo (siehe auch Blog-Eintrag vom 27. 8. 2018) schlage ich heute vor, einen Tautogramm-Text zu verfassen (oder mehrere). Ein solcher zeichnet sich dadurch aus, dass alle Wörter mit dem gleichen Buchstaben beginnen. Es ist hilfreich, erst einmal eine Sammlung anzulegen, vielleicht sogar nach Wortarten getrennt, also eine Liste mit Verben (die sind am wichtigesten), eine mit Nomen, eine mit Bindewörtern usw.

Als Starthilfe hier meine Liste an Verben mit F vom 13. Juli: fallen, frieren, falten, finden, fischen, forschen, flattern, fasten, fertigen, flicken, fordern, fördern, futtern, füttern, fliegen, flechten, flüchten, färben, fahren, festhalten, fortsetzen, fluchen, fragen, fürchten ...
Man kann auch einen Text schreiben, in dem jeder Satz aus Wörtern mit dem gleichen Anfangsbuchstaben besteht, einmal durch das ganze ABC.
Abends aßen alle Ananas auf Apfelpfannekuchen.
Bevor Britta bitter bereute, brannte beinahe Bodos Bretterbude.
Chrissi chillte chancenlos chamäleonlike.
D...


8. Juli 2019

Felicitas Hoppe

Poetikvorlesung der Grimm-Professorin 2019

Hier folgt keine Zusammenfassung der Poetikvorlesung der diesjährigen Grimm-Poetikprofessorin des Instituts für Germanistik an der Uni Kassel. „Märchenhaft realistisch: Sechse kommen durch die Welt“ – so der Titel der Vorlesung. Ihr Lieblingsmärchen sei dieses Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm, sagte Felicitas Hoppe. Ich muss gestehen, dass ich es nicht hätte erzählen können. Macht nichts. Es ging vielleicht auch gar nicht um Märchen (weder im Film Felicitas Hoppe sagt, noch in der Vorlesung, noch in der Einleitung durch Prof. Dr. Stefanie Kreuzer) – um was es ging, könnte ich nicht auf einen Begriff bringen (muss ich ja auch nicht), also ein paar Gedankensplitter:

  • 1. Gedanke während des Zuhörens im Hörsaal II im Campus Center: Sich, um Kunst zu machen, einzunisten in einsamen Räumen (als „einsiedelnde Aussiedlerin“), ist nicht mit einer Auszeit zu verwechseln. Während der stundenlangen einsamen Tätigkeit werden zwischen Innenwelt und Außenwelt „produktive Schnittmengen“ gebildet. Nicht um den Rückzug oder Eskapismus geht es, sondern darum, sich in einem „anderen Raum der Reflexion zu bewegen“. Kunstmachen ist eine spezifische Daseinsform – und dafür muss man sich nicht rechtfertigen.
  • 2. Gedanke: Felicitas Hoppe will der Welt formgebend begegnen. Dabei sieht sie sich einerseits dem Spielerischen verpflichtet, andererseits geht es ihr nicht um ein Abbild, sondern auch immer wieder um eine erzählende Umerfindung der Welt, mit der es so schwer ist zurecht zu kommen – ohne diese Umerfindung (jeder Mensch tue das) komme man wohl kaum morgens aus dem Bett.
  • 3. Gedanke: Vielleicht am meisten hat mich der folgende Satz beeindruckt: „Ich habe versucht, meinen Verkehr mit der Welt ernst zu nehmen [...], mit diesem Kommunikationsangebot zu arbeiten.“ Gemeint ist, mit dem, was z. B. KritikerInnen oder die Wissenschaft über Hoppe schreibt, wieder zu nutzen, spielerisch für den nächsten Text zu nutzen.
  • 4. Gedanke: Spannend für meine schreibpädagogisch-methodische Arbeit fand ich die Aussage: In der 3. Person Singular (ihre auto(r)biografische Fiktion Hoppe ist in der 3. Person geschrieben) gehe es im Schreibprozess eher ans „Eingemachte“, in der 1. Person sei die Verlockung auszuweichen größer.
  • 5. Gedanke: Auch wenn Kunstmachen, das Schreiben eines Romans oder einer Erzählung etwas sehr Anderes ist als politisches Handeln: „Im höchsten Sinne gibt es keine unpolitische Literatur“, sagte Hoppe fast am Schluss. Und ich sage: Ja! So kann man sich auch nicht darüber streiten, welche Literatur engagierter daher kommt – jedes literarische Werk weist über die reine erzählte Geschichte hinaus, es bezieht Stellung in der Art, dass es das Faktische der Welt in welcher Weise auch immer (utopisch oder dystopisch) überformt. Dennoch: Literatur sei keine Anleitung zum richtigen Leben, sondern eine andere Darstellung – und damit bietet sich beim Lesen die Möglichkeit der Reflexion des eigenen Lebens.
  • 6. Gedanke: Um gute oder schlechte Literatur ging es nicht – wohl aber fielen Begriff wie postmoderne Schreibweisen oder Mehrfachkodierung. Ich kenne nur Hoppes Erzählband Picknick der Friseure – sehen würde ich gern einmal ihre Bücher mit Text-Bild-Konstellationen ...


1. Juli 2019

Epiphora

Auf etwas zu oder: Endverstärkungen

Epiphora ist ein Stilmittel und meint, dass jede Zeile bzw. jeder Satz mit dem gleichen Wort oder der gleichen Wortgruppe endet. Ich möchte einladen zum Schreiben eines Textes, der sich das Stilmittel Epiphora zunutze macht. Das Beispiel von Eugen Gomringer kann als Listentext oder als Gedicht verstanden/gelesen werden. Das Stilmittel so einzusetzen, ist eine Variante; ich empfehle sie heute, auch in Ergänzung zur Schreibanregung vom 24. 6. 2019 (wenn das gleiche Wort oder die gleiche Wortgruppe am Satzanfang steht, heißt das Anapher).

Eugen Gomringer: entropie
(Auszug)

entropie ist schön
das gegenteil ist schön

fortpflanzung ist schön
metabolismus ist schön
determination ist schön
schicksal ist schön

das gegenteil ist schön

struktur ist schön
chaos ist schön
information ist schön
redundanz ist schön

das gegenteil ist schön
...


24. Juni 2019

Was ich bin und was nicht

Identitätssuche mit Peter Handke

Immer schon wandle ich außergewöhnliche Texte bekannter AutorInnen in Schreibaufgaben um, so auch einige von Peter Handke. Es ist so heiß in diesen Tagen – da ist es vielleicht schon zu viel, einen Vierzeiler zu verfassen. Aber einfach ein paar Sätze mit einem oder zwei Wörtern ergänzen – möglicherweise geht das; ich empfehle die Ergänzungen der Sätze von Peter Handke:

Was ich nicht bin, nicht habe, nicht will, nicht möchte – und was ich möchte, was ich habe und was ich bin (Satzbiografie)
Was ich nicht bin:
Was ich erstens, zweitens und drittens nicht bin:
Was ich nicht bin:
Was ich leider nicht bin:
Was ich Gottseidank nicht bin:
Was ich schließlich nicht bin:
Was ich zwar nicht bin, aber auch nicht bin:
Was ich weder noch bin:
Was ich nicht habe:
Was ich nicht will:
Was ich nicht will, aber:
Was ich nicht will, aber auch nicht will:
Was ich nicht möchte:
Was ich möchte:
Was ich will:
Was ich gewollt habe:
Was ich gehabt habe:
Was ich habe:
Was ich bin:
Was ich auch noch bin:
Was ich auch manchmal bin, aber dann wieder:
Was ich
bin
:

Möglich ist auch, die Ergänzungen einmal vorzunehmen und nächste Woche und im September usw. jeweils noch einmal, ohne die vorigen anzuschauen natürlich – um sie dann später zu vergleichen.

Quelle: Handke, Peter (1969): Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt. Frankfurt/Main: edition suhrkamp: S. 23ff.


17. Juni 2019

Und täglich grüßt die Gegenwart

7. Nordhessischer Autorenpreis ausgeschrieben

15 Jahre besteht er schon, der Nordhessische Autorenpreis, zehn Jahre als Verein. Und immer noch bin ich dabei – dreimal schon wollte ich aussteigen, aber meine Kinder kann ich so schlecht los- oder unterversorgt lassen ...
Jedenfalls gibt es also einen 7. Literaturwettbewerb. Ausgeschrieben ist er unter dem Titel Und täglich grüßt die Gegenwart. Kurzprosa und natürlich Lyrik und Experimentelles ist gewünscht. Einsendeschluss ist der 31. August 2019. Eine inhaltliche Auffächerung und die Teilnahmebedingungen sind zu finden auf der Website des Nordhessischen Autorenpreises.
Die Initiativgruppe, zu der außer mir noch Jacqueline Engelke, Jana Ißleib und Klaus Henning gehören, werden die Texte sichten und der Jury (wie in den sechs Durchgängen vorher) eine Auswahl übergeben. Die literarisch fachkundige Jury – Nicole Braun (Helsa, Autorin), Martin Piekar (Bad Soden, Autor und Preisträger beim 6. Autorenpreis), Jörg Robbert (Kassel, Buchhändler), Isa Rühling (Kassel, Autorin), Alexandra Serjogin (Kassel, Literaturwissenschaftlerin) – wählt zehn Texte aus, die am 29. November im Offenen Kanal von den AutorInnen gelesen werden. Am gleichen Abend entscheiden die Jury, die Mitglieder der Initiativgruppe sowie das Publikum über die drei PreisträgerInnen. Damit geht der Verein neue Wege gegenüber den vorherigen Preisverleihungen.
Aber erst mal geht es ums Schreiben! Legt los! Ich freue mich auf eure Einsendungen.

© uli ahrend, satzmanfaktur.net


10. Juni 2019

Wortwechsel-Sommerakademie

Drei Schreibabende und ein Online-Vergnügen

Wer einfach mal schnuppern oder ein Thema vertiefen oder auch auf Reisen nicht auf Schreibimpulse verzichten will: Zum vierten Mal biete ich eine Sommerakademie zum Kreativen Schreiben an mit folgenden einzeln buchbaren vier Modulen.

1. Abend: In (Schreib-)Fluss kommen
24. Juni (Montag), 17–21 Uhr (inkl. Pause)
bei Wortwechsel, Kaufungen, Raiffeisenstraße 15, 25 €

2. Abend: Experimente mit Buchstaben, Wörtern, Sätzen
24. Juni (Montag), 17–21 Uhr (inkl. Pause)
bei Wortwechsel, Kaufungen, Raiffeisenstraße 15, 25 €

3. Abend: Rhythmisch Schreiben: Lyrik und mehr
26. Juni (Mittwoch), 17–21 Uhr (inkl. Pause) bei Wortwechsel, Kaufungen, Raiffeisenstraße 15, 25 €

Online-Schreib-Ferien: gehen, fliegen, tauchen ... schreiben
10 Tage Schreib-Impulse per Mail
24. Juni bis 3. Juli (man kann sie täglich, aber auch alle am 24. Juni bekommen und auf Reisen mitnehmen; ein Textfeedback ist nicht vorgesehen; nur als Paket buchbar, 45 €)

Anmeldungen per Mail (Storno bis 7 Tage vor dem jeweiligen Termin frei, danach fällt die Kursgebühr an) an: kirsten.alers@wortwechsel-kaufungen.de


3. Juni 2019

Außerhalb von Planquadraten

Ausstellung noch bis zum 16. 8. zu sehen

Noch einmal möchte ich auf die Ausstellung im Kaufunger Rathaus hinweisen, die mein Partner Uli Ahrend und ich zusammen konzipiert und umgesetzt haben: Außerhalb von Planquadraten ist noch bis zum 16. August zu sehen (Öffnungszeiten und weitere Infos: siehe Blog-Einträge vom 1. und 15. April 2019). Wenn man vor dem Ausstellungsbesuch die hier dokumentierte Laudatio, die Carmen Weidemann zur Ausstellungseröffnung gehalten hat, liest, geht möglicherweise mit einem tiefergehenden Blick an den Werken vorbei, auf sie zu, in sie hinein ...

Laudatio von Carmen Weidemann
Guten Abend. Mein Name ist Carmen Weidemann – seit vielen Jahren bin ich sowohl zuständig für die Werkstatt-Galerie als auch für AutorInnenförderung im autorencafé der Werkstatt Kassel e.V. Ich habe mit dem Musikprojekt Strom das FreeFlowFestval initiiert und befinde mich überhaupt gerne da, wo im freien Spiel und Experiment Räume entstehen. Mit Kirsten Alers und Uli Ahrend verbindet mich seit 2004 die Zusammenarbeit im Nordhessischen Autorenpreis.
Kirsten und Uli sind seit vielen Jahren ein Paar und ein Arbeitsteam. Beide verbinden in ihrer Arbeit Kunst, Handwerk und Wissenschaft, Kirsten als Schreibende, Schreiblehrerin, Schreibtheoretikerin und Herausgeberin, Uli als Schriftsetzer, Grafiker, Gestalter und Fotograf. Erstmals 1997 haben die beiden ein Projekt zusammen ans Licht gebracht: das Wendlandbuch Unruhiges Hinterland zum 20-jährigen Bestehen der BI gegen die Atomanlagen in Gorleben. Seitdem sind viele Buch- und Zeitungsprojekte entstanden. Kunst als Werkzeug des allgemeinen Arbeitsprozesses, eine Art Bauhausregel, ist den beiden also hinlänglich bekannt.
Unbekanntes Gebiet betreten die beiden allerdings heute mit ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung, an der sie seit Dezember vergangenen Jahres gearbeitet haben: Außerhalb von Planquadraten, eine Werkausstellung. Die Beziehungen herstellt, sichtbar macht und öffnet. Beziehungen zwischen dem Bauhaus, das dieses Jahr 100 Jahre alt wird, und dem Schaffen der beiden. Die Beziehung zwischen Text und Form, zwischen Handwerk und Digitalität, zwischen Kunst und Kaufungen, zwischen Ingenieuren und Träumern.
Kirsten und Uli fügen ihr Werk zu einem Gesamtkunstwerk zusammen. Sehr schön zu sehen an den Haigas, in denen es eben nicht darum geht, den Text zu bebildern oder das Bild zu betexten, sondern darum, dass etwas Drittes entsteht, das untrennbar als Einheit ganz neue Dimensionen offenbart.
Die Ausstellung ist ein Wechselspiel zwischen dem Eintauchen in das Formale, die Automatik, das Serielle und dem Aufbrechen der Struktur, dem Verlassen der gewohnten Ebenen. In den Fotografien, Texttafeln und Grafiken gibt es etwas zu entdecken, das zwischen den Zeilen, hinter den Worten, unter dem Text und eben außerhalb von Planquadraten liegt. Hinter der Einfachheit lauert ein ungeahnt komplexes System – und das ist sehr schön, weil es uns als Zuschauende, wenn wir einmal unvoreingenommen sehen, wie im totalen Theater aus unserer intellektuellen Apathie reißen kann. Weil die Arbeiten nicht schnell mal angeguckt sind – schönes Bild und weiter geht’s. Sondern ein aktiv selbstbestimmtes Sehen herausfordern, die Erweiterung des Fern-Sehens. Der erweiterte Kunstbegriff – die Ausdehnung des Theaters oder des Musealen auf das Publikum – ist doch längst Realität geworden.
Hier noch eine kleine Anmerkung zur Freifläche, zur Rolle des Lichts: Das Licht in der Ausstellung ist die Freifläche, der Raum für eigene Notizen, wo sich die Gedanken der Sehenden manifestieren, wo der Text und die Gestaltung einen neuen Raum öffnen. Licht ist die Kraft, die zeugt. Im Licht legen wir Rechenschaft ab über das, was wir tun – für das Leben uns nicht nur für uns selbst.
So, nun möchte ich noch einmal euch, das Publikum ansprechen. Ihr habt es gut. An einem Ort, einem Rathaus, in dem es tagtäglich um Formalia, das Ausfüllen von Vordrucken, das Bewegen innerhalb von Planquadraten geht, könnt ihr euch einlassen auf das Angebot, das die beiden KünstlerInnen machen. Im Klartext bedeutet das: Schreibt weiter, lasst euch inspirieren, malt Planquadrate in eure Texte, was befindet sich innen, was außen. Denkt euch euren Teil und projiziert eure eigenen Filme in die Freiflächen. Verortet euch in den Fotos, Texten und Grafiken und lasst zwei, drei, vier neue Dimensionen entstehen. Wundert euch, wagt es, quer zu denken. Schaut mit weit offenen Augen, wundert euch, schaut auch mal hin, während ihr euch bewegt, aus den Augenwinkeln,, während ihr auf dem Weg ins Rathaus seid oder wieder hinaus – welches Wort bleibt hängen, welcher Bildeindruck? „Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung“, sagte Johannes Itten, einer der Bauhausmeister, „das Gezwungene, Gedrückte, Gekrümmte kann nicht schön sein.“ In diesem Sinne noch einen schönen Abend.


27. Mai 2019

Solidarität

Arbeit an Begriffen (1)

Nach der Europawahl am gestrigen Sonntag ...
Schreiben ist auch immer (nicht nur im wissenschaftlichen Kontext) Arbeit an Begriffen. Wie verwende ich ein Wort, einen Begriff? Ist das Wort, der Begriff passend im Kontext? Woher kommt es/er, welchen vielleicht unerwünschten Beigeschmack gibt es, welche vielleicht gewünschten Assoziationen werden ausgelöst?
Als ich im Sommer 2018 im Auto im Schatten vor einem Laden saß, in dem Uli einkaufte, hörte ich im Deutschlandfunk, ich glaube am 5. August, ein längeres Interview mit dem Soziologieprofessor Stephan Lessenich (Ludwig-Maximilians-Universität München). Der aktuelle Anlass: das Erscheinen der Taschenbuchausgabe seines Buches Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben im Juli. Das Thema: Solidarität, der Begriff, historisch, politisch und die Beigeschmäcker betreffend. Ich höre nicht oft Radio, vielleicht deshalb zückte ich beim ersten Aufmerken, beim plötzlichen Erfasstsein mein Notizheft.
Bereits der Soziologe und Ethnologe Émile Durkheim (1858–1917), so erfuhr ich, unterschied mechanische und organische Solidarität. Die mechanische Solidarität meint eine solche unter Gleichen, etwa der ArbeiterInnen in einem Betrieb oder einer Branche. Die (historische) ArbeiterInnenbewegung ist zwar einerseits international, andererseits aber auch darauf bedacht (gewesen), dass niemand in den definierten Raum der Solidarität eindringt. Ebenso ist die u. a. von Angela Merkel geforderte Solidarität innerhalb der Europäischen Union in Bezug auf die Aufnahmezahlen von Flüchtlingen eine, die der Abschottung nach außen dient. Hier – und insbesondere auch im Zulauf zu den rechtspopulistischen Bewegungen in Europa – zeige sich ein „neuer Nativismus“, eine „Solidarität nur mit den eigenen Leuten“.
Die organische Solidarität meint eine solche unter Ungleichen und beruht auf der Einsicht, dass Menschen (und auch andere Wesen) wechselseitig voneinander abhängig sind, dass nichts, was in einer globalisierten Welt entschieden wird, ohne Folgen für alle anderen Wesen bleibt. Die zentrale Aussage Lessenichs: Unser gesellschaftlicher Wohlstand beruhe auf mangelnder Solidarität in vergangenen Zeiten.
„Im Grunde wissen wir es alle: Uns im Westen geht es gut, weil es den meisten Menschen anderswo schlecht geht. Doch nur zu gerne verdrängen wir unseren Anteil an dem sozialen Versagen unserer Weltordnung. Der renommierte Soziologe Stephan Lessenich bietet eine sehr konkrete und politisch brisante Analyse der Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse der globalisierten Wirtschaft. Anders, als wir noch immer glauben möchten, profitieren nicht alle irgendwie von freien Märkten. Die Wahrheit ist: Wenn einer gewinnt, verlieren andere. Und jeder von uns ist ein verantwortlicher Akteur in diesem Nullsummenspiel, dessen Verlierer jetzt an unsere Türen klopfen.“ Zu lesen ist dieser Text auf der Verlagsseite (Piper).
Lessenich plädierte an jenem Augusttag dafür, globale Solidarität zu üben. Sie sei allerdings „voraussetzungsvoll“. Denn sie fordern Denkanstrengungen, die zu (politischen) Einsichten führen. Diese Einsichten wiederum führen in die (politische) Verantwortung, weil wir verstanden haben, dass wir „objektiv in die Verhältnisse gestellt“ sind. Und was bedeutet das dann für unser Handeln?
Wir, d. h. insbesondere die gutsituierten BürgerInnen der sog. westlichen Hemisphäre, müssen Privilegien aufgeben. Es geht nicht ohne Verzicht, ohne Verlust, ohne ,Runterfahren’. Lessenich nannte ein Beispiel: Während die Forderung nach einer guten medizinischen Versorgung aller Menschen auf der Erde richtig sei, sei die nach größtmöglicher Mobilität für alle eine die Lebensgrundlagen zerstörende Forderung und damit abzulehnen – was für uns bedeutet: auf Urlaubsflüge, auf den Zweitwagen, auf Luxusgüter aus Übersee etc. zu verzichten. Ja, Solidarität, die perspektivisch allen auf der Erde zugute kommt, geht nicht ohne Verzicht – auch wenn alle PolitikerInnen das immer wieder behaupten.

Lessenich, Stephan (2018): Neben uns die Sintflut. Wie wir auf Kosten anderer leben. 2. Auflage. München: Piper


20. Mai 2019

Spiele mit dem Konjunktiv (3)

... dass es wahr wäre ...

Anschließend an die Blog-Einträge vom 8. April und 13. Mai 2019 und möchte ich noch einmal zum Spielen mit dem Konjunktiv aufrufen und als Beispiel zum lustvollen Nachahmen einen (berühmten) Satz von Heinrich von Kleist (1777–1811) aus dem ersten Kapitel seiner Novelle Die Marquise von O... zitieren: „Der Graf setzte sich, indem er die Hand der Dame fahren ließ, nieder, und sagte, dass er, durch die Umstände gezwungen, sich sehr kurz fassen müsse; dass er, tödlich durch die Brust geschossen, nach P... gebracht worden wäre; dass er mehrere Monate daselbst an seinem Leben verzweifelt hätte; dass während dessen die Frau Marquise sein einziger Gedanke gewesen wäre; dass er die Lust und den Schmerz nicht beschreiben könnte, die sich in dieser Vorstellung umarmt hätten; dass er endlich, nach seiner Wiederherstellung, wieder zur Armee gegangen wäre; dass er daselbst die lebhafteste Unruhe empfunden hätte; dass er mehrere Male die Feder ergriffen, um in einem Briefe, an den Herrn Obristen und die Frau Marquise, seinem Herzen Luft zu machen; dass er plötzlich mit Depeschen nach Neapel geschickt worden wäre; dass er nicht wisse, ob er nicht von dort weiter nach Konstantinopel werde abgeordert werden; dass er vielleicht gar nach St. Petersburg werde gehen müssen; dass ihm inzwischen unmöglich wäre, länger zu leben, ohne über eine notwendige Forderung seiner Seele ins Reine zu sein; dass er dem Drang bei seiner Durchreise durch M..., einige Schritte zu diesem Zweck zu tun, nicht habe widerstehen können; kurz, dass er den Wunsch hege, mit der Hand der Frau Marquise beglückt zu werden, und dass er auf das ehrfurchtsvollste, inständigste und dringendste bitte, sich ihm hierüber gütig zu erklären.“
Der Konjunktiv ist eine wunderbare grammatische Form – mit ihm lassen sich Möglichkeit und/oder Unwahrscheinlichkeit ausdrücken. Aus der mündlichen Kommunikation ist er weitgehend verschwunden bzw. werden meistens die Konjunktivformen der Verben durch das Wörtchen würde (auch ein Konjunktiv, nämlich von werden) ersetzt, oder es wird einfach der Indikativ (vor allem in der indirekten Rede) benutzt. Nun, das ist ja nicht schlimm, es zeugt auch nicht von Ungebildetsein – es zeugt erst einmal nur von der Veränderung von alltagssprachlicher Kommunikation. Im Schriftsprachlichen allerdings hat der Konjunktiv durchaus seine Funktion (zu haben).
Ich vertrete die Ansicht, dass Schreibende die Reichtümer der Sprache und ihre konventionelle Verwendung kennen sollten, um die Chance zu haben, Nuancen auszudrücken. So kann beispielsweise eine Verwendung des Konjunktivs in der wörtlichen Rede einer Figur in einer Erzählung à la von Kleist sehr viel über den Charakter oder die Herkunft etc. dieser Figur zum Ausdruck bringen, ohne dass explizit gesagt werden muss, dass diese Figur z. B. ein Altphilologe ist.

Quelle und Literaturtipp:
Steinfeld, Thomas (2010): Der Sprachverführer. Die deutsche Sprache: was sie ist, was sie kann. München: Carl Hanser Verlag


13. Mai 2019

Spiele mit dem Konjunktiv (2)

Hätte, könnte, wäre, dann ...

Mit dem Konjunktiv, dem Modus der Möglichkeit (oder Unwahrscheinlichkeit), zu spielen, kann sehr befriedigend sein. Ein Beispiel ist meine unten zu lesende Geschichte (oder sollte ich schreiben: Liste?).
Es gibt den Konjunktiv 1 und den Konjunktiv 2. In der Geschichte kommt der Konjunktiv 2 des Verbs können zum Einsatz: (Ich) könnte. Der Konjunktiv 1 des Verbs können hieße könne.

Ungeschriebene Geschichten (1)
Ich könnte eine Geschichte schreiben, die in einem Ballon spielt, der über eine Blumenwiese fliegt und dabei von einem Mädchen, das aus dem Zugfenster schaut, beobachtet wird, ohne dass das Mädchen weiß, welch dramatische Szene sich über der Blumenwiese in diesem Ballon ereignet.
Ich könnte eine Geschichte schreiben über einen Biber, der zur Dammeinweihung ein Dreizehenfaultier, eine Katze mit nur einem Auge und, weil sie nun einmal gerade da sind, 187 Kraniche einlädt.
Ich könnte eine Geschichte schreiben, in der Herr Trump und Herr Putin und Herr Erdogan in einem Flugzeug sitzen, das sich gerade auf das legendäre Bermudadreieck zubewegt.
Ich könnte eine Geschichte schreiben, die von einem Selbstgespräch auf einem Gang um den See und dessen Auswirkungen auf den globalen neoliberalen Kapitalismus erzählt.
Ich könnte eine Geschichte schreiben über eine U-30-Party an einem gelben Strand an einem blauen Meer, an dem zu Zeiten der Kommune 1 schon ganz andere Partys stattgefunden haben, von denen die alten Männer mit Bärten erzählen, während sie jungen Mädchen ihre Hände auf die Oberschenkel legen, wie damals.
Ich könnte eine Geschichte schreiben von Menschen in Schneegegenden, die auf alle mit Armbrüsten schießen, die sich zu ihnen durchgeschlagen haben, um Eishockeyspieler zu rekrutieren.


6. Mai 2019

Das Bauhaus erschreiben

Schreibtage in Dessau

„Wollen, denken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft ...“ (Walter Gropius, Bauhaus-Gründer). „[...] es galt, unsere vorstellungswelt zu präzisieren, unsere erlebnisse zu gestalten durch material, rhythmus, proportion, farbe, form“ (Gunta Stölzl, Webermeisterin). Das Bauhaus feiert in diesem Jahr 100. Geburtstag. 1919 – das Jahr der Gründung der Weimarer Republik (mit der Durchsetzung des Frauenwahlrechts) und des Aufblühens der Moderne. In den bilden¬den Künsten, Architektur und Design, aber auch in Tanz und Literatur konnte endlich – nach autoritärem Kaiserreich und brutalem Krieg – frei, wild, kreativ und ergebnisoffen experimentiert werden. Es entstan¬den neue Formen – in der Kunst und für das Leben. Dafür steht insbesondere das Bauhaus, das als Schule und Gesamtkunstwerk Kunst und Design, aber auch Denken, Beziehungen und Gesellschaft revolutionieren wollte.
Eintauchen vor Ort in Dessau, in diese Zeit des kulturhistorischen Aufbruchs, Annäherungen an die Pro¬tagonisten und Protagonistinnen der Avantgarde über ihre Werke. Das Vibrieren des Aufbruchs spüren. Nach der Bedeutung für das Heute fragen. Das Bauhaus schreiben!

LeitungKirsten Alers, Schreibpädagogin
TerminSonntag, 29. September (10 Uhr), bis Dienstag, 1. Oktober 2019 (17 Uhr)
Ort/ÜbernachtungBauhaus-Gebäude Dessau
Gruppengrößemin. 6, max. 8 Teilnehmende im EZ
Kosten Seminar103 Euro (zu zahlen an die VHS)
Kosten UnterkunftEZ (ohne Verpflegung! Frühstück im hauseigenen Bistro): 120 Euro
(zu zahlen an Kirsten Alers)
Sonstige Kosten   eigene Anreise (ggf. Mietung eines Gruppenbusses), Verpflegung, Eintritte
KursnummerX 2119
Anmeldungvhs Region Kassel, (05 61) 1003-1681, Anmeldeschluss: 17. August 2019
InformationKirsten Alers: (0 56 05) 92 62 71; kirsten.alers@wortwechsel-kaufungen.de


29. April 2019

Kein Tag ohne Zeile

Schreiben – auch ohne Sinn und Verstand

„Nulla dies sine linea“, soll einst Gaius Plinius Secundus d. Ä., ein römischer Universalgelehrter (23–79 n. u. Z.) gesagt (oder geschrieben oder vom Maler Apelles übernommen) haben. Paul Klee, Künstler und Bauhaus-Lehrer, notierte im Jahre 1938 in sein Werk-Verzeichnis unterhalb der Werknummer 365 (eine Bleistiftzeichnung mit dem Titel Süchtig): „kein Tag ohne Linie“. Und so sollte es doch sein, nehme ich das Tun, das künstlerische, ernst. Auch wenn ich nichts zu sagen habe, wenn ich gar nicht weiß warum – ich nehme jeden Tag mehrmals den Stift in die Hand. Und schreibe. Setze Linien, Bögen, Schleifen, Zeile um Zeile. Kein Tag ohne Zeile also. Ist empfehlenswert. Ist irgendwie auch wie Zähneputzen – da frage ich mich ja auch nicht jeden Tag, warum und wieso und ob das nötig ist usw.


22. April 2019

Ostern schreiben

So oder anders

Am Gründonnerstag hatten wir Besuch von Roman. Als wir im Garten Springseilwettbewerbe austrugen, fragte er mich: „Glaubst du an Gott?“ Ich verneinte und er sagte: „Ich auch nicht, aber an Jesus, den gab’s ja echt, ne?! Und der ist ja wieder lebendig geworden. Und deshalb freu ich mich total auf Ostern, da geht’s nämlich um Auferstehung, und dann wird Adrian vielleicht wieder lebendig.“ Adrian war sein Bruder, der mit einer schweren Behindung auf die Welt kam. Nun, Adrian wird sicherlich nicht in dieser Weise wieder lebendig, wie Roman es sich wünscht ... Ich suchte nach Worten, nach tröstlichen und erklärenden. Zum Glück ging es Sekunden später um Radschlagen und ob ich das könne.

Ostern als Schreibanlass.
Variante 1: Was habe ich früher gefühlt, gedacht, von Ostern erwartet, an Ostern erlebt – und was heute?
Variante 2: Oder etwas weniger autobiografisch: Schreibimpuls könnte auch folgendes Foto sein, das mit vor neun Jahren mein Bruder schickte – keine Ahnung, wo er es her hatte ...


15. April 2019

Es gibt so viel Himmel

Listentext wird Ausstellungsobjekt

Im Blog-Eintrag vom 31. 7. 2017 empfahl ich, den Listentext von Eike von Savigny (Katalog) als Vorlage für einen eigenen Text zu verwenden – natürlich (oder jedenfalls, auch ohne die Natur herbeizuzerren: tatsächlich) habe ich diesen auch schon mehrfach selbst als Impuls verwendet, u. a. im April vor zwei Jahren. Das Ergebnis ist – hier von meinem Partner Uli Ahrend gestaltet – ein Teil der Ausstellung Außerhalb von Planquadraten, die bis zum 16. August im Rathausfoyer in Kaufungen zu sehen ist (siehe Blogeintrag vom 1. 4. 2019).


8. April 2019

Spiele mit dem Konjunktiv (1)

Auch schon vor 50 Jahren

Manchmal finde ich etwas und schreibe es auf einen Zettel und stecke den Zettel irgendwo hin und finde ihn mehrmals im Jahr, werfe ihn nicht weg, obwohl ich nie etwas mit ihm direkt anfangen kann, er passt in keinen Text, hat sich bisher noch nicht als Schreibimpuls aufgedrängt, gerät auch nicht an die Pinnwand – aber irgendetwas ist mit dem Gefundenen ... So geht es mir mit folgendem Zitat des Philosophen Ernst Bloch: „Vieles fiele leichter, könnte man Gras essen.“
Vieles fiele leichter, könnte man ... – auch in reduzierter Form als Schreibimpuls geeignet.
Vor 50 Jahren schrieb Bloch diesen Satz. 1969 war ich neun Jahre alt. Vielleicht hätte ich damals den Satz so beendet: Vieles fiele leichter, könnte man Geschwister gegen Bücher eintauschen.
Und was heute so alles leichter fiele, könnten wir Gras essen – oder verzeihen oder zurückweichen oder an eigenen Konstrukten zweifeln oder ... eben Gras essen. (aus Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung, 1969)


1. April 2019

Außerhalb von Planquadraten: Ausstellung

von Uli Ahrend (Fotografie, Grafik) und Kirsten Alers (Texte)

Beobachtungen und Träume, Anklagen und Visionen, Überlagerungen zwischen Realität und Fiktion, Bewegungen im Rahmen und Spiele ohne Regeln: 35 Werke zeigen die Auseinandersetzung des Kaufunger Künstlerpaares Kirsten Alers und Uli Ahrend mit dem Thema „Außerhalb von Planquadraten“, die am Mittwoch, den 10. April, um 19 Uhr von Bürgermeister Arnim Ross im Rathausfoyer in Kaufungen eröffnet wird.
In jeweils 15 Arbeiten stellen sich Kirsten Alers mit Texten sowie Uli Ahrend mit Fotos und Grafiken vor; wahrnehmbare Bezüge sind beabsichtigt und werden in den fünf Werken, in denen sich Text und Bild explizit verschränken, noch deutlicher. Kirsten Alers’ Texte zeugen von einer großen Kenntnis der Möglichkeiten der poetischen Sprache und von Experimentierfreude in Formen und Inhalten. Uli Ahrends visuelle Arbeiten zeigen die Kompetenzen eines auf klassischem Handwerk aufbauenden und die Möglichkeiten moderner Technologie nutzenden Gestalters. Uli Ahrend zeichnet auch für die optische Umsetzung des Gesamtkonzepts verantwortlich.
Die Ausstellenden thematisieren einerseits die tägliche Herausforderung der Postmoderne, sich nicht in angeblich Alternativloses – eben in Planquadrate – pressen zu lassen, sondern Diversität zu leben, andererseits spielen sie insbesondere im Visuellen mit den geometrischen Figuren Quadrat, Rechteck, Dreieck und Kreis: Sunbewegungen außerhalb von Planquadraten. Eine Einführung gibt am Eröffnungsabend die Free Flow-Künstlerin Carmen Weidemann.

Die Ausstellung ist eine Veranstaltung der Gemeinde Kaufungen, der Eintritt ist frei.
Sie ist bis zum 16. August zu den Öffnungszeiten des Rathauses (Leipziger Straße 463) zu besichtigen: Mo 8.30 – 18 Uhr, Di bis Do 8.30 – 15.30 Uhr, Fr 8.30 – 12 Uhr.


25. März 2019

Komplizierte Verhältnisse

und das Ende des Stammbaum-Denkens

Als ich gestern im Zug saß, wieder einmal auf der Rückfahrt von einem Kurs auf Sylt, schenkte mir eine der Teilnehmerinnen einen Zettel mit folgendem Text mit dem Titel Komplizierte Verhältnisse von Heribert Prantl, der hiermit weitere Verbreitung finden soll.
„Jungfrauengeburt meint etwas ganz anderes, nichts Biologisches, sondern etwas Geistliches. Die Wahrheit über diese Jungfräulichkeit findet man nicht bei einer gynäkologischen Untersuchung. Die Evangelisten, die über die Jung­frauen­geburt schreiben, sind Theologen, keine Sexologen. Sie sprechen nicht von der menschlichen Fortpflanzung, sondern vom Fortschritt des Menschlichen. Die Jungfrauengeburt ist eine Chiffre für die emanzipatorische Idee, sie ist ein Freiheitsbegriff. Die Sprache der Bibel und des Credos ist hier eine mythische, keine historische oder naturwissenschaftliche.
,Jungfrauengeburt’ soll besagen, dass etwas ganz Neues zur Welt kommt, das nicht männlicher Macht entspringt. Die Weihnachtsgeschichte beginnt mit dem Abschied vom Patriarchat. Das Neue kommt ohne Zutun männlicher Potenz zur Welt – durch die Macht des Geistes. ,Geist’ ist in der hebräischen Bibel feminin, eine Die, eine schöpferische, weibliche, pfingstliche Kraft: Sie reformiert, revolutioniert, sie macht neu. Daher heißt es Magnifikat, im Lobgesang Marias: ,Gott stürzt die Mächtigen vom Thron’.
Die Legende von der Jungfrauengeburt legt also die Axt ans Stammbaum-Denken und die klassischen Machtstrukturen. Die Geschichte, dass alles vorbestimmt ist durch die Abstammung und dass es nur einen Vater geben kann, ist zu Ende. Die Weihnachtsgeschichte ist also auch eine tröstliche Geschichte für all die Menschen, die in komplizierten Familienstrukturen leben. Schon für das Kind in der Krippe sind die Verhältnisse kompliziert.“

Quelle: Der andere Advent, 2015.
Heribert Prantl ist Jurist, Journalist und Autor, war lange Jahre Leitartikler, Redakteur und Ressortleiter bei der Süddeutschen Zeitung.


18. März 2019

Im Kasseler Stadtmuseum

Tragbare Feldbüchereien für die Front

Gestern besuchte ich mit meiner Donnerstagsschreibwerkstatt die Ausstellung 1918: zwischen niederlage und neubeginn im Stadtmuseum Kassel. In der ,Schützengraben-Abteilung’ war eine Tragbare Feldbücherei ausgestellt – noch nie hatte ich von so etwas gehört.
„Auf Anregung eines Soldaten entwickelte Reclam 1914 die ,Tragbare Feldbücherei. Eine Auswahl für Schützengraben und Standquartier aus Reclams Universal-Bibliothek’. Es erschienen fünf verschiedene Büchereien mit je 100 Nummern (nicht 100 Heften), darunter auch einige Doppelnummern, jeweils zum Preis von 20 Mark. Die Feldbüchereien bestanden aus festem, handlichem Karton und verfügten über eine Trage- und eine Verschlussvorrichtung.“ (Quelle: Literarisches Museum e.V., Leipzig)
Gemütliches Lesen im Schützengraben? Die Klassiker an der Front? Wozu? Zur Ablenkung vom großen Donnern, vom eigenen Zittern? Zur Erbauung oder um die Hoffnung auf ein Danach nicht zu verlieren? Mir entschlüpft ein bitter-sarkastisches Auflachen, weiß ich doch, dass im 1. Weltkrieg Millionen Soldaten vergeblich auf ein Danach gehofft haben – immerhin durften sie vorher Goethe und Schiller, vielleicht sogar Heines Wintermärchen lesen, pah!


11. März 2019

Was so alles passieren kann

Interventionsschreiben 1

Von Donnerstag bis heute weilte ich auf der Jahrestagung des Segeberger Kreises. Drei Tage Schreiben und Austausch mit über 50 KollegInnen – ein jährlich wiederkehrendes Geschenk (das ich mir dieses Jahr zum 18. Mal gönnte). Wir trafen uns im Kloster Berg Schönstatt (Vallendar) in der Nähe von Koblenz. Meine Kleingruppe arbeitete unter dem Titel „Vom Kerben zum Tippen“ an der Frage, ob und inwiefern die Materialität die schreibende Person, den Textproduktionsprozess und das Produkt beeinflusst. Konkret: Was passiert, wenn ich mit der Hand, mit einem Pinsel, auf eine Luftschlange oder eine Serviette schreibe?

Unsere erste Übung möchte ich zur Nachahmung empfehlen. Sie ist vor allem gut mit einer Person oder einer Gruppe durchzuführen – denn der Effekt lebt auch von der Überraschung.

Schreib drei Mal direkt hintereinander eine kurze Zeit, z. B. drei Mal drei Minuten. Es soll (also in z. B. neun Minuten) ein einziger Text zu einem vorher gewählten Thema entstehen, z. B. über ein kleines Ereignis des Tages. Schreib mit der Hand, mit einem Stift, schreib los, schreib drei Minuten! STOPP, erst nach den drei Minuten weiterlesen!
Nach drei Minuten erfolgt die erste Intervention: Schreib deinen Text weiter, nun aber soll jeweils der letzte Buchstabe eines jeden Wortes groß geschrieben werden. Schreib los, schreib drei Minuten! STOPP, erst nach den drei Minuten weiterlesen!
Nun wechselst du die Schreibhand. Behalt die Regel mit den Großbuchstaben bei. Schreib los, schreib drei Minuten!

Nach diesen neun Minuten wirst du eine Schreiberfahrung gemacht haben – du kannst sie reflektierend festhalten, wenn das wichtig für dich erscheint.


25. Februar 2019

Zufällige Begegnung im Zug

mit einem 2. Gedicht mit Amsel

Als ich im Zug saß nach Sylt, setzten sich zwei Männer mir gegenüber – von denen ich sogar einen flüchtig kannte. Der andere bekam während der Zugfahrt (sie wollten zur Biike-Woche, ebenfalls ins Jugendseeheim, so hatten wir viel Zeit, etwas von uns zu erzählen) von einer Berliner Freundin ein Gedicht geschickt. Diese Freundin schickt jeden Monat ein Gedicht an ihren Freundeskreis – was für eine schöne Idee (die Versuchung, die Idee zu klauen, ist groß). An diesem 17. Februar also bekam er – passend zum Februar und zu den sich täglich vermehrenden Vogelstimmen draußen – folgendes Gedicht von Eva Strittmatter (1930–2011):

Ansprache an die Amsel im Februar
Turdus merula merula,
liebe Amsel, wann singst du uns wieder?
Dein Name lateinisch klingt lieblich.
Und lieblich, als wären es Lieder,
füll’n deine Zeichen aus Tönen das Tal.
Ach ja, liebe Amsel, das war einmal!
Doch kommt es nun wohl bald wieder.
Du bliebst ja bei uns und frissest Spreu,
wenn die Sperlinge Korn dir nicht lassen.
Vor ihrem Schwarm bist du Sänger scheu.
Doch bald wird die Zeit dir passen,
und du herrschst wieder mit Stimmgewalt
über Garten, Wiese, Bach und Wald,
und sie können’s wieder nicht fassen,
dass dein plumper schwarzer Balg so klingt,
all über ihre Begriffe!
Und ihr ganzes schwirrendes Volk vollbringt
nichts als Tschilpen und flüchtige Pfiffe!

Amseln scheinen DichterInnen zu inspirieren. In meinem Blogeintrag vom 13. März 2017 habe ich auch schon ein Amselgedicht (von Wallace Stevens) zitiert, jenes ist noch inspirierender für das eigene Schreiben (siehe Blogeintrag vom 24. Juli 2017).


18. Februar 2019

Friesisch für AnfängerInnen

Fantasien Richtung Norden

Wie letzte Woche geschrieben: Ich bin auf Sylt. Dort sprechen die Einheimischen Söl’ring, das ist der Sylter Dialekt des Nordfriesischen. Es gibt zehn Dialekte dieser kleinen Sprache, die nur noch ein paar tausend Menschen wirklich beherrschen und im Alltag verwenden – so geht es ja vielen kleinen Sprachen überall auf der Welt: Sie sterben langsam aus. Nun will und kann ich nicht dazu auffordern, Söl’ring zu lernen, aber ich kann empfehlen, einmal diese Wörter ins sich hineinsinken zu lassen und zu fantasieren, was sie wohl bedeuten mögen, oder sie einfach zu verwenden, in welcher Bedeutung auch immer. Es gibt also zwei Möglichkeiten:

  1. Schreib eine Lexikondefinition zu einem der folgenden Wörter: kiming, rüm, sjüün, heef, swark, tuanbeenk.
  2. Bau ein Wort oder mehrere Wörter in eine Geschichte ein, was auch immer du ihnen dann für eine Bedeutung zusprichst – der Klang wird dich leiten. Nächste Woche gibt es die Auflösung/Übersetzung.


11. Februar 2019

Die große Welle

In Vorfreude auf eine Schreibreise

Die große Welle – so heißt das berühmte Bild von Katsushika Hokusai. Meine Assoziationen will ich an dieser Stelle wohlweislich verschwiegen, denn ich möchte das Bild als Schreibimpuls vorschlagen, in Vorfreude auf meine Schreibreise nach Sylt, die ich am kommenden Sonntag antrete. Das 14. Mal reise ich zum Schreiben auf diese Insel, die so viel mehr ist als Millionenvillen und Sansibarhype. Im Listland schreiben – es bleibt ein Geschenk, das ich auch mir selber mache, jedes Jahr.


4. Februar 2019

AMVK-Vibrationen

Nach einem Ausstellungsbesuch

Noch bis zum 24. Februar zu sehen ist die Ausstellung AMVK (Anne-Mie Van Kerckhoven, belgische Künstlerin, geboren 1951) im Fridericianum Kassel. Ich bin einfach hingegangen, spontan am letzten Donnerstag. Wollte sehen, wollte wissen – warum gerade diese Ausstellung? Ich wusste es nicht, irgendetwas zog mich an, hin ... Jetzt weiß ich es. Es ist zweierlei: Zum Einen ist es der feministische Blick auf die Welt, der sich in so vielen Werken spiegelt. Zum Anderen ist es das Verständnis von Kunst-Machen, das meinem ähnelt: als Akt, zu demonstrieren und zu dekonstruieren, radikal aufzudecken und auf den Dialog zu hoffen, als Versuch, Perspektiven zu verstehen und Menschlichkeit zu gestalten, als Forschung auch. „Die Forschung ist kein exklusives Privileg derer, die wissen, sondern ist die Domäne derer, die nicht wissen“, so Robert Felliou (Dichter und Künstler, zit. nach der Begleitzeitung des Fridericianums).
Besonders fasziniert haben mich (was wahrscheinlich nicht verwunderlich ist) die Werke, in denen auch Wörter, in denen Sprache eine Rolle spielen. Wörter wie BASIC, DEEPER, ENDLESS EMOTIONS, INDEPENDENCE, SUPPORT, VIBRATIONS. Oder die Ausdrücke/Sätze „Variation als Prinzip”, „Die Wahrheit hat keinen Stil”. Zur Nachahmung angeregt haben mich Vam Kerckhovens Verwendungen von alten Teppich-, Stoff- und Tapetenkatalogseiten, die sie mit Akrylfarbe und Lackstiften (oder Lebensmittelfarbe?) bearbeitet hat.
Auch ansprechend fand ich die mathematisch inspirierten Experimente, ein Beispiel: Kunst verhält sich zur Politik wie die Zeit zur Philosophie.
Und dann ist da noch der Rausch der Variation, hunderte Zeichnungen, einige wenige Themen mit Variationen. Nicht das EINE große Werk, sondern das Kaleidoskop, das dann irgendwann das Werk ist, eigentlich aber Blicke zeigt, Augenblicke in Augenblicken des Gewahrwerdens, der Auffindungen, der Erkenntnis, aber auch des wieder und wieder das gleiche sagen, zeigen müssen, vertiefter, komplexer, immer wieder. Analog und digital, körperlich und abstrakt, mit Zeichnungen, Collagen, Installationen, Filmen, mit und ohne Wörter. Versuche, Wiederholungen, Umkreisungen, Grabungen. Lebenslang. Hier bin ich in innigster Verbindung mit AMVK.


28. Januar 2019

Klänge und Zeichen: Grenzüberschreitungen

Pfingsten 2019 im Rhythmus von Sprache und Musik

Ein neues Jahr hat begonnen, und ich gehe ein paar neue Schritte – wunderbar, dass mir das möglich ist! Dieses Jahr will ich zum ersten Mal mit meiner Schwester gemeinsam einen Workshop anbieten. Unsere Kindheits-Konkurrenz ist nur noch ein fernes Bild, das ein fast ungläubiges Kopfschütteln hervorruft – die Freude über die Lust am gemeinsamen Konzipieren und die Vorfreude auf das gemeinsame Unterrich­ten ist groß!

Rhythmus, unser Rhythmus, der Rhythmus des Lebens zeigt sich sowohl in der Sprache als auch in der Musik. Kreativ schreibend und musikalisch improvisierend kommt er zum Ausdruck, füllt er den Raum. Tempo und Takt, Versmaß und (Sprach)Melodie – auf der Suche nach individuellen musikalisch-sprachlichen Schwingungen werden rhythmische Sprachgebilde (z. B. Gedichte) und musikalische Erfahrungen (z. B. Body-Percussion) initiiert. Schließlich können Texte vertont und Melodien betextet werden. Dem Gemeinsamen in Sprache und Musik spüren wir nach und gehen in Resonanz mit dem Rhythmus in uns.
Erfahrungen im Kreativen Schreiben und Notenkenntnisse sind nicht erforderlich. Eigene Instrumente können mitgebracht werden.

LeitungKirsten Alers (Schreibpädagogin), Imke Alers (Oboistin, Musikpädagogin)
TerminFreitag, 7. Juni, bis Montag, 10. Juni 2019 (Pfingsten)
OrtTagungsstätte Soest; www.tagungsstaette-soest.de
KostenSeminar: 154 Euro (zu zahlen an die VHS), eigene Anreise!
Tagungsstätte: 256 Euro (zu zahlen an Kirsten Alers)
KursW 2117
Anmeldungwww.vhs-region-kassel.de, 0561/1003-1681, Anmeldeschluss: 3. März 2019
Vorbesprechung22. März 2019, 19 Uhr, Haus Wortwechsel, Kaufungen
InformationKirsten Alers: Schreiben und Tagungsstätte (05605/926271)
Imke Alers: Musik (0163/5021177)


21. Januar 2019

Anfänge – und am Ende ...

ist es vielleicht ein Gedicht

Folgende Zeilenanfänge mögen zum Ergänzen einladen. Vielleicht auch mehrmals hintereinander.

Ohne ...
Genug ...
Und ich bekam ...
Ich sah ...
Ich genoss ...
Ich las ...
Ich machte ...

Sie stammen aus einem tatsächlich existierenden Gedicht von Bertolt Brecht, es heißt „1954, erste Hälfte“. Erst selber schreiben, dann erst im Netz danach suchen ☺


14. Januar 2019

Schreiben wir! Schreibtag in Hümme

Vier Formate zum Anschnuppern

Kreatives Schreiben? Sie wollten immer schon mal wissen, was sich hinter dem schillernden Begriff verbirgt. Und sie wollten immer schon mal ausprobieren, ob Sie Ihre Gedanken und Gefühle, all die Geschichten und Gedichte, die in Ihnen schlummern, zu Papier bringen können. Und ob sie eher Erzähler/in oder doch Dichter/in sind. Das Netzwerk Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen stellt eine Vielzahl unterschiedlicher Schreibangebote zum Ausprobieren vor. In ca. zweistündigen Workshops laden die jeweiligen Dozentinnen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen zum Schreiben ein.
Sie können an einem Tag an verschiedenen Stationen (Tischen) eigene Texte verfassen, sich schreibend ausprobieren, über die Kraft der Sprache und der Worte staunen. Ihre Schreiblust soll geweckt werden, Sie dürfen einen experimentellen Weg zum Text erforschen, eine Kürzestgeschichte verfassen, die heilsame Kraft des Schreiben spüren oder auf Wortwegen wandeln. Alle vier Workshops finden zweimal statt, sodass Sie nach eigener Einwahl zwei Angebote an diesem Tag wahrnehmen können.

Workshops von: Kirsten Alers, Jacqueline Engelke, Patricia Sheldon und Ellen Volkhardt
Zeit: Samstag, 26. Januar 2019, 10 bis 16 Uhr
Ort: Generationenhaus Bahnhof Hümme, Tiefenweg 12 (Regiotram)
Kosten: 30 Euro
Beratung: Ellen Volkhardt, Tel. (05 61) 400 99 06
Anmeldung: www.vhs-region-kassel.de (Kursnummer V2118)


7. Januar 2019

Verbindungswege zwischen Wörtern

Ein Schreibspiel aus dem Biedermeier

Wie es Allzeitlieblingsbücher gibt, gibt es auch Allzeitlieblingsschreibübungen. Eine davon ist die von Walter Benjamin soganannte Schnitzeljagd: „Brezel, Feder, Pause, Klage, Firlefanz: Dergleichen Wörter, ohne Bindung und Zusammenhang, sind Ausgangspunkte eines Spielsm das im Biedermeier hoch im Ansehen stand. Aufgabe eines jeden war, sie derart in einen bündigen zusammenhang zu bringen, daß ihre Reihenfolge nicht verändert wurde. Je kürzer dieser war, je weniger vermittelnde Elemente er enthielt, desto beachtenswerter war die Lösung. Zumal bei Kindern fördert dieses Spiele die schönsten Funde. Ihnen nämlich sind Wörter noch wie Höhlen, zwischen denen sie seltsame Verbindungswege kennen. [...]“ (zit. nach Andreas Thalmayr: Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen, S. 72).
Nun schreib einen Text. Nimm die fünf Wörter – Brezel, Feder, Pause, Klage, Firlefanz – und verwende sie in genau dieser Reihenfolge (oder in einer anderen, ich will ja nicht kleinlich sein, und um die strenge Einhaltung irgendeiner Regel geht es ja auch nicht). Es ist wirklich erstaunlich, welche unterirdischen Gänge zwischen den Wörterhöhlen oder Höhlenwörtern sich zeigen.
Was für ein schönes Bild Benjamin da gefunden hat. Und dieses Buch von Thalmayr, aus dem ich zitiert habe – ohne Zweifel gehört es zu meinen Allzeitlieblingsbüchern! Leider ist es nur noch antiquarisch zu bekommen.
Und wenn es Spaß gemacht hat und Erstaunliches zutage getreten ist, dann lass dir fünf Wörter von jemandem in deiner Nähe schenken oder fisch nach dem Zufallsprinzip (mit dem Finger hineinstechend) fünf Wörter aus dem Duden.
Und: Frohes, inspirierendes neues Schreibjahr wünsche ich allen Schreibenden (und allen Anderen auch, aber die lesen das hier ja wahrscheinlich gar nicht)!


31. Dezember 2018

Wünschen, Wagen, Spielen

Gutes Neues und Glückauf!

„Es ist doch nicht des Habens wegen, dass man lebt, sondern des Wünschens, des Wagens, des Spielens wegen, dass man lebt.“ Das schrieb B. Traven (1882–1969) in seinem Roman Das Totenschiff, der 1954 bei Rowohlt erschien. Das erscheint mir ein gutes Motto, um leichtfüßig und gleichzeitig demütig ins neue Jahr zu gehen oder zu hüpfen oder zu rutschen, um 2019 zu wünschen, zu wagen, zu spielen! Glückauf (trotz Schließung der letzten Steinkohlezeche im Ruhrgebiet letzte Woche muss ich diesen Ruf versenden) für 2019!
Wer mehr über B. Traven alias Ret Marut alias Otto Feige (?) wissen will, schaue hier.


24. Dezember 2018

H-Abend-Akrostichon

Feiert schön!*

Heute
E erschienen
Illuminationen
Längs
Iinnerer
Grenzlinien
Aals
Besondere
Energien
Niederkaufungen
Durchkreuzten

* Und/Oder macht auch zwei, drei Akrostichons.


17. Dezember 2018

Geschrieben und dann?

Vielleicht selbst gestalten!

Alle, die schreiben, schreiben für sich – aber manchmal will man auch etwas des Geschriebenen verschenken oder (privat) veröffentlichen. Und dann braucht es Gestaltungsideen und -handwerkszeug, um das Märchen für die Schwester oder die Gedichte für einen Kalender ,schön’ zu schreiben und/oder zu illustrieren.
Meine Kollegin Yara Semmler (Kommunikationsdesignerin), mit der ich den wunderbaren Kurs Eine Woche kreatives Schreiben und Gestalten im Lossetal im kommenden Jahr zum 3. Mal durchführen werde (7. bis 14. Juli 2019), bietet in ihrem Studio piece of pie in Leipzig zahlreiche Gestaltungskurse an, vom Handletteringschnupperkurs über Linoldruckkurse für Kinder und Illustrationskurse für Erwachsene bis zum Intensivkurs Mappengestaltung für junge Menschen, die ein Kunst- oder Design-Studium anstreben. Lust bekommt man sofort, wenn man sich die Workshop-Ausschreibungen von piece of pie anschaut.


10. Dezember 2018

Weihnachtsstressvermeidung

Ein Vierzeiler zu Weihnachten

Um mich herum stöhnen Menschen wegen Weihnachtsstress, machen lange Listen und stöhnen noch mehr, wissen nicht, was sie schenken sollen, schimpfen auf die Post, sagen Schreibwerkstätten ab ... Geld kann man spenden, die Post kann man entlasten – und sich selbst auch. Mein Tipp:
An Herzensmenschen zu denken und ihnen etwas, weil es eben so Tradition ist und fast niemand so tun kann, als wären die Tage vom 24. bis 26. Dezember ganz normale wie z. B. die vom 24. bis 26. Februar, auch wenn Gott und Jesus und der Weihnachtsmann sowieso keine Rolle (mehr) spielen, also an Herzensmenschen zu denken und sie zu beschenken, ist vielen ein Bedürfnis. Hierzu ein Tipp: Warum nicht zuhause bleiben, Weihnachtsmärkte und Kaufhäuser (und Online-Läden sowieso) meiden und dichten? F., ein Schreibfreund, wünschte sich kürzlich zu seinem 80. Geburtstag von jedem Gast einen Vierzeiler. Warum also nicht jedem Herzensmenschen einen Vierzeiler dichten, mit aller vorhandener Gestaltungsfähigkeit auf ein schönes Papier bringen – fertig ist das Geschenk, gemacht mit Hirn und Herz und Hand.


3. Dezember 2018

Selbstmotivation

Brief an ein gelungenes Schreibprodukt

Weil sie wieder einmal so gut war, weil sie zu so erstaunlichen Erkenntnissen führt, weil sie so eine einfache Methode ist: Vorletzten Samstag schloss mein Workshop an der Uni Kassel (Schreiben lernt man durch Schreiben, am Institut für Romanistik) mit einer Übung, die eine der teilnehmenden Studentinnen anleitete und die alle Teilnehmerinnen und mich beflügelte, obwohl wir schon sechs Stunden Workshop hinter uns hatten. Hier nun möchte ich zu dieser Übung einladen:
Schreib einen Dankesbrief an ein abgeschlossenes (und vielleicht auch gelungenes) Schreibprodukt, an deine Diplomarbeit, dein Essay von vor vier Jahren, deine letzte Kurzgeschichte. Lass den Prozess hin zum Produkt Revue passierten, erinnere dich an Höhen und Tiefen beim Schreiben. Bedanke dich für Erkenntnisse und andere Geschenke. Beginne mit: „Liebe Diplomarbeit ...“

So ähnlich zu finden ist die Übung in:
Wolfsberger, Judith (2009): Frei geschrieben. Mut, Freiheit & Strategie für wissenschaftliche Abschlussarbeiten. 2. Auflage. Wien/Köln/Weimar: Böhlau/UTB
Ursprünglich stammt die Idee aber von der Schreibforscherin und -didaktikerin Gabriela Ruhmann, Gründerin des Schreibzentrums an der Ruhr-Universität Bochum.


26. November 2018

Wortwechsel in der Wolfsschlucht

Meine Bücher in der Galerie auf Zeit

Seit Langem erhalte ich als Inhaberin des Verlags Wortwechsel jedes Jahr Anfang November die Einladung, meine Bücher in der Galerie auf Zeit zu präsentieren. Das ist wunderbar, denn dort befinden sie sich in exkluisver und illustrer Gesellschaft von Kunst, Kunsthandwerk und Produkten weniger anderer Verlage (wie Rotopol, Hessischer Verlagspreis 2018).

Dieses Jahr konnte das Team der Galerie auf Zeit Räume in der Wolfsschlucht 19 anmieten, also in sehr guter Lage in der Kasseler Innenstadt. Zu sehen und zu erwerben sind bis zum 24. 12. täglich zwischen 11 und 19 Uhr neben meinen beiden Büchern FischWolfVogelEidechse (Yara Semmler, Leipzig: pieceofpie) und Himmel.Hölle.Heimatkunde (Nordhessischer Autorenpreis) hochwertige Produkte aus den Bereichen Produktdesign, Grafik, Illustration, Möbeldesign, Fotografie, Malerei, Textildesign, Schmuck, Glas, Keramik und Leder.


19. November 2018

Nicht unglücklich verharren:

Anleitung zum Perspektivenwechsel

Der österreichische Psychologe Paul Watzlawick hat einiges mehr verfasst als sein vielleicht berühmtetes Buch Anleitung zum Unglücklichsein (1983). Ich habe schon vor langer Zeit einen Satz gefunden (im Kontext seiner Kommunikationstheorie mit fünf Axiomen der menschlichen Kommunikation), der mich immer wieder, wenn ich ihn lese, erschüttert. „Ich weiß nicht, was ich gesagt habe, bevor ich die Antwort meines Gegenübers gehört habe.“


12. November 2018

Ein nie gemachtes Foto

Erinnerungen im Totenmonat

Der November ist mit Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag und Volkstrauertag der Totenmonat schlechthin. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie die Menschen auf der Südhalbkugel, die ja auch diese christlichen Gedanktage begehen, das Erinnern, das Totengedenken mit dem Frühling in Einklang bringen, der dieser Tage bei ihnen einzieht – der Herbst, grau, regnerisch, usselig (wie wir früher zu sagen pflegten), passt doch besser ... Aber vielleicht ist es auch genau andersherum: Im Sonnenschein die Frühlingsblüher auf das Grab zu pflanzen, das neue Leben sprießen zu sehen, vielleicht entsteht so im Innern ein guter Gegenpol zur Trauer oder die Erinnerungen werden hell eingefärbt ...
Jedenfalls ist der November gut als Erinnerungs- und Schreibmonat geeignet. Also eine Erinnerungsschreibanregung für heute:
Nimm ein Fotoalbum aus dem Regal. Blätter darin herum. Und lass dich einfangen von einer Zeit in deinem Leben (vielleicht mit einem deiner Toten, der damals noch lebendig war). Stell dir eine Situation mit den Menschen aus dieser Zeit vor – und lass vor deinem inneren Auge ein Foto entstehen, das nie gemacht wurde. Beschreib dieses Bild. Du kannst es aus der Perspektive der Person hinter der Kamera oder aus der einer der Personen auf dem Foto beschreiben.


5. November 2018

An der Grenze

6. Autorenpreis-Anthologie erschienen

Gestern ist sie präsentiert worden. Jetzt ist sie online: die 6. Anthologie des Nordhessischen Autorenpreises: AN DER GRENZE. Nicht papiernen, sondern virtuell. Ob das eine Anbiederung an einen wie auch immer zu nennenden Zeitgeist ist, will ich hier nicht diskutieren. Auf jeden Fall stellt sich über die Möglichkeit, kostenlos auf die 30 Texte zuzugreifen, eine Öffentlichkeit für diese und ihre VerfasserInnen her, die ansonsten nicht zu gewährleisten ist. Manche der angefragten AutorInnen haben sich ja gescheut, der Text werde im world wide web verbrannt. Nun, der Verein aber, der für das Öffentlichmachen (nordhessischer) Gegenwartsliteratur steht, kann sich über diese Veröffentlichung freuen. Ich tue es, als Gründungs- und Vorstandsmitglied.

Zur Anthologie geht es hier .


29. Oktober 2018

Ein Kellerfund

Manchmal überraschen wir uns selbst

„Ich habe das Gefühl, Sie glauben, daß Sie verstanden hätten, was Sie meinen, was ich gesagt habe – aber ich bin nicht sicher, daß Sie begriffen haben, daß das, was Sie gehört haben, nicht das ist, was ich gemeint habe.“ (Notiz aus einer vergangenen Zeit von Emmi Poguntke, den sie im Oktober 2018 in ihrem Keller fand und mir zum Vergnügen schickte)


22. Oktober 2018

75 + 35

Kassel + Bonn

Die HNA ist voll davon, seit Wochen Erinnerungen an die Zerstörung Kassels mit tausenden Toten am 22. 10. 1943. Das ist 75 Jahre her, einige Menschen leben noch, die sich erinnern, die geprägt worden sind für ihr Leben. Was mich daran stört? Sich (frühe) Lebens-Prägungen bewusst zu machen, ist überaus sinnvoll, sind sie es doch, auf denen wir unsere Weltanschauung aufbauen, die uns in unseren Handlungen leiten. Wenn wir uns diese nicht bewusst machen, steuern sie uns auch – nur sind wir ihnen dann ausgeliefert. Das gilt für Individuen, das gilt für Institutionen, das gilt für Gesellschaften bzw. Nationen. Soweit so sinnvoll. Aber in diesen Erinnerungen ging es meist eben nicht um diesen erweiterten Blick, sondern meist wurde nur das Grauen noch einmal geschildert, die Verluste noch einmal beweint. Das ist für eine Zeitung aber nicht ausreichend. Sie hat die Aufgabe, tiefer zu gehen, zu befragen, zu kommentieren, Konsequenzen aufzuzeigen, individuelle, institutionelle, gesellschaftliche bzw. nationale. Auch muss sie zeigen, warum so etwas wie 1943 passiert ist und wie man so etwas heute verhindern kann.
Und dann war am 22. 10. noch ein weiterer Jahrestag, der der HNA keine Zeile wert war: Vor 35 Jahren, am 22. 10. 1983, gab es in Bonn eine Großdemonstration für Abrüstung, eine Antikriegsdemonstration mit zehntausenden Menschen. Hätte man diese beiden Jahrestage (75 + 35) nicht wunderbar journalistisch aufbereitet verbinden können?


15. Oktober 2018

Leseüberforderung

Was tun mit all den Stapeln und Ausrissen?

Das ist wahrscheinlich nicht nur mein Problem: Auf der Eckbank stapeln sich ungelesene oder undurchgesehene Zeitschriften, in der Ecke des Schreibtischs stapeln sich ungelesene Ausrisse aus den irgendwann zwischen den Jahren durchgesehenen Zeitschriften. Die ich lesen, studieren gar, aufheben und auch in Kursen oder Veröffentlichungen verarbeiten will. Etwa 30 Ausrisse, ganzseitige wohlgemerkt, hatte ich mit im Wangerland und brachte sie alle (ungelesen) wieder mit nach Hause (es hat einfach nicht geregnet in den drei Wochen an der Nordsee). Jetzt wird also die Altpapiertonne abgeholt (montags alle vier Wochen, immer ein Grund, um aufzuräumen, wir haben übrigens zwei Altpapiertonnen!), und ich nehme den Urlaubsstapel in die Hand, schaue ihn durch, werfe fünf Blatt weg – toll! Die restlichen 25 (zu denen ja noch die wahrscheinlich weiteren 15 der noch undurchgesehenen Zeitschriften auf der Eckbank kommen) lege ich auf den Stuhl, auf den ich immer alles lege, was mit ins Büro wandern soll. Und ich weiß, das Problem ist nicht gelöst. Wobei – ein Problem? Doch, ja. Offensichtlich überfordern mich meine vielfältigen Interessen, meine Lese- und Verarbeitungsansprüche. Aber ich kann doch nicht die Artikel zur Frage nach gegenderter Sprache wegwerfen! Ich kann ja noch nicht mal den Text wegwerfen, in dem es um Konzepte des Schreibenlernens geht (weil er vielleicht für Martina von Interesse sein könnte, die sich gerade fragt, ob ihr Kind denn Schreiben lernt, wenn er sich erst mal nur auf sein Gehör verlassen soll). Und den Artikel, in dem es um Kreatives Schreiben mit Flüchtlingen geht, kann ich auf gar keinen Fall wegwerfen (den bekommt Nadja, aber vielleicht will ich das ja auch noch tun, wenn ich in Rente bin, Alphabetisierung oder so ...). Ja, und die Analyse der aktuellen öffentlichen Sprachgebärden dieser Marie Schmidt (oder war es Antonia Baum?), die mir in der Gendersprachdebatte so aus dem Herzen geschrieben hat (DIE ZEIT, 30. 5. 2018: „Unser Deutsch ist ungerecht und ungenau. Deshalb müssen wir anders sprechen und schreiben als bisher“) – vielleicht kann ich den Text ja als Gastbeitrag hier demnächst posten (nachdem ich ihn gelesen habe, natürlich).
Wenn das alles nicht nur mein Problem ist: Wie lösen Andere das Dilemma, das sich zunächst wie ein zeitliches anfühlt, aber wahrscheinlich auch eins ist, das aus einer Nicht-Fokussierung entsteht – oder aus was? Meine Buchhändlerin erzählte mir neulich, dass sie sonntags abends alle Feuilletons der Woche, die sie bis dahin nicht gelesen habe, wegwerfe – uih uih, wie mutig, nein, das könnte ich nicht!
Jetzt mal vorerst nehme ich ein bisschen Druck von meinen Schultern, auf denen Stapel von Ausrissen liegen (und Papier ist echt schwer), indem ich mit einem kreativen Schreibverfahren an die Artikel herangehe, mal sehen, ob ich danach wieder etwas in der Altpapiertonne entsorgen kann ... Bleibt jetzt ja also nur die Frage zu beantworten: Welchen Artikel beantworte ich zuerst?
Und dann lese ich, dass jeden Tag in Deutschland 200 neue Bücher erscheinen, OH NEIN.


8. Oktober 2018

Wütend, traurig oder was?

Gefühle zum Ausdruck bringen

(Eine Art Reportage mit persönlichem Fokus)

Gefühle in Texten zum Ausdruck zu bringen, ohne sie explizit zu nennen, ist gar nicht so einfach. In der Schreibszene wird immer mal der Ratschlag „Show, don’t tell“ gegeben, der meint: Zeige etwas so, dass in der Leserin, im Leser ein Gefühl entsteht. Du schreibst also eher nicht: „Klara ist nervös“, sondern „Klara kaute wie früher vor den Klassenarbeiten an ihren Nägeln“.
Dieser Ratschlag ist eigentlich nicht schlecht – wobei es natürlich immer auf den Stil und den Ton des Gesamttextes ankommt, ob man so verfährt oder nicht. Gefühle explizit zu nennen, macht also einen Text nicht automatisch schlecht; gut ist es allerdings immer, so genau wie möglich zu sein, also z. B. nicht einfach „nervös“ zu schreiben, sondern die Art des Nervösseins genau zu fassen.

Text 1: Schließ die Augen, lass Bilder der vergangenen Tage aufsteigen. Und dann mach die Augen wieder auf und schreib einen Text, in dem du vor allem auch die Gefühle zu den Bildern (oder zu einem Bild) versuchst sprachlich zu fassen. Manchmal ist das eben (wie gesagt) gar nicht so einfach ...

Text 2: Nimm eins der eher belastenden Bilder aus dem ersten Text. Nun schreibst du einen Text mit mehreren Abschnitten (oder Strophen), die folgendermaßen überschrieben sind:
Ich bin wütend
Ich bin traurig
Ich bin sauer
Ich bin frustriert
Ich bin enttäuscht
Ich bin verärgert
Ich bin hilflos
Ich wünsche mir

Hier werden dann die Gefühle als Abschnitts- oder Strophenanfang natürlich explizit genannt – vielleicht findest du durch diese Methode aber auch zu einem sprachlichem Ausdruck, der diese Gefühle dann z. B. bildhaft illustriert.

P. S. Die Abschnittsüberschriften stammen aus: Sibel Kekilli: Was der Fall Özil mit mir macht. Das Schubladendenken muss aufhören. Über meine Erfahrungen mit Rassismus, bei Deutschen und Türken. In: DIE ZEIT, 2. 8. 2018, S. 35


1. Oktober 2018

Wir sind mehr!

Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda

(Eine Art Reportage mit persönlichem Fokus)

17. September. 16.20 Uhr, der Opernplatz ist mit roten Metallständern abgesperrt, die Kioske, Kaufhof und C&A haben geschlossen. 16.30 Uhr, die Straßenbahnen fahren nicht mehr durch die Obere Königsstraße. Bewaffnete Polizei steht auf dem Dach des Café Alex, die Café-Terrasse draußen ist geschlossen. Eine Bühne wird auf dem Opernplatz aufgebaut.
Warum bin ich hier? Ich habe mich nach etwa 15 Jahren zum ersten Mal wieder aufgemacht, um auf der Straße zu zeigen, gegen und für was ich stehe. Ich kann nicht sagen, dass ich Angst habe, dass uns ein zweites Drittes Reich droht. Aber ich kann sagen, dass die AfD- und Pegida-Propaganda und vor allem die vielen, die nicht verstehen, was sie da unterstützen, oder die ihr Gehirn und ihr Herz ausgeschaltet haben, weil sie selbst nicht wissen, wofür sie eigentlich leben (wollen), mir Angst machen. Und ich kann auch sagen, dass mich die Medien unheimlich aufregen. Warum wird über den Tod eines Deutschen, der mutmaßlich von zwei Migranten erstochen wurde, so berichtet, dass daraus solch eine Eskalation wie in Chemnitz entstehen kann? Seiten um Seiten, u. a. auch in der HNA. Warum wird aber über den Tod eines 19-jährigen Deutsch-Marokkaners durch einen 17-jährigen Deutschen nur eine kurze Notiz an einem einzigen Tag veröffentlicht (HNA, 17. 9. 2018)? Es liegt nahe zu glauben, dass die Nordhessische Monopol-Tageszeitung die Einteilung von Menschen in erster und zweiter und dritter Klasse unterstützt.
Ich bin hingefahren an diesem Spätsommermontag, weil ich so wütend bin über die Dreistigkeit, die Lügen, den Hass, die ,Volks’-Verdummung. Weil ich mich so ohnmächtig fühle, weil das vielleicht anders wird, wenn ich sehe, dass auf der einen (meiner) Seite mehr sind als auf der anderen. Weil ich wissen will, wer im Ernstfall ...
„Wir sind mehr!“ Das Motto der aktuellen Bewegung gegen Hass, Hetze und völkischen Rassismus ist gut. Aufgerufen zum Protest gegen die Landtagswahlkampfveranstaltung der AfD hat ein breites Bündnis gegen Rechts aus DGB, Antifa, AStA, Bündnis 90/Die Grünen usw. Uli Schneider von der VVN (1) spricht, es ist laut, ich verstehe nicht alles. Aber was ich verstehe, ist gut: „Faschismus ist keine Meinung!“, sagt er. Später werden wir rufen: „Es gibt kein Recht auf Nazi-Propaganda!“ Und ich denke an das, was ich vor Jahrzehnten begriffen habe: Toleranz hat zwei Seiten, die zweite ist gefährlich: Die repressive Toleranz (2) erlaubt unter dem Mantel der vermeintlichen Großherzigkeit und Weltbürgerlichkeit Menschen eine Meinung, eine Position, die Verbreitung von Lügen und Ideologien, die, denkt man sie zuende oder handelt gar danach, Menschen massiv schaden. Es kann keine Toleranz gegenüber völkisch-nationalistischer Propaganda geben!
17.30 Uhr, ein paar Deutschlandfahnen werden geschwenkt, 90 AfD-AnhängerInnen haben sich eingefunden. Wir auf der anderen Seite der Absperrung sind 2.500 – wir sind mehr, zum Glück! Warum haben sich die breitbeinig positionierten und martialisch sich gebenden Polizisten mit bewegungslosen Gesichten und zähnefletschenden Hunden uns zugedreht? Von wem geht die Gefahr aus.
„AfD zu wählen, weil man mit der aktuellen Politik nicht einverstanden ist, ist wie Wasser aus dem Klo zu trinken, wenn einem das Bier in der Kneipe nicht schmeckt.“ Ich muss lachen, als ich dieses Transparent lese. Und dann höre ich: „Hoch – die – antinationale Solidarität!“ Das ist das Highlight des Nachmittags! Ich rufe mit. Solch ein zutreffender Spruch, der den altbekannten kreativ weiterentwickelt hat. Es war immer schwer, früher auch, die Demo-Sprüche aus vollem Herzen mitzurufen – heute geht das, ich freue mich! Und am Ende singen alle diesseits der Absperrungen mit den Ärzten „Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe“ (3). Ob Dechant Harald Fischer bei seinen Gesprächen jenseits der Absperrungen etwas hat ausrichten können, wenigstens in Sachen Liebe oder Herzensgüte?

  1. Repressive Toleranz ist der Titel eines Essays des deutschen Soziologen und Philosophen Herbert Marcuse. Diese Abhandlung ist Teil der 1965 erschienenen Kritik der reinen Toleranz.
  2. VVN-BdA e.V. ist die Abkürzung für: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten.
  3. Schrei nach Liebe ist ein Lied der Berliner Punkrock-Band Die Ärzte, das sich gegen Neonazis richtet und erstmals 1993 als erste Single der Band nach der Wiedervereinigung veröffentlicht wurde.


24. September 2018

11. Kasseler Schreibcafé

Rhythmisch schreiben

Mit dem Thema beschäftigt sich das 11. Schreibcafé im Café am Bebelplatz am 27. September ab 19 Uhr. Die Schreiblehrerin Jacqueline Engelke und die Musikerin Andrea Belser geben einen ersten Einblick, wie Rhythmus in Texten entstehen kann und wie er laut gelesen klingt. Dazu werden Gedichte und kleine Texte geschrieben.
Veranstalter des Kasseler Schreibcafés ist das Netzwerk Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen (das ich 2014 gründete) in Kooperation mit dem Café am Bebelplatz. Das Schreibcafé, das dreimal im Jahr stattfindet, jeweils unter Leitung einer anderen Schreiblehrerin, ermöglicht das Hineinschnuppern, das Antesten des Kreativen Schreibens. Vorkenntnisse und eine Anmeldung für den Workshop sind nicht erforderlich.
Im Zentrum des Abends steht das praktische Tun. Papier und Stifte müssen mitgebracht werden. Das Vorlesen der geschriebenen Texte ist freiwillig.

Veranstalter: Netzwerk Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen, in Kooperation mit dem Café am Bebelplatz
Leitung: Schreiblehrerin Jacqueline Engelke und Musikerin Andrea Belser
Termin: Donnerstag, 27. September 2018
Zeit: 19 bis ca. 21.30 Uhr
Ort: Café am Bebelplatz, Friedrich-Ebert-Straße, Kassel, Tram 4 + 8
Eintritt: 5 Euro + 1 Getränk im Café


17. September 2018

Prüfkriterium für Sexismus

Gastbeitrag von Susanne Hüfken

In der Schreibwerkstatt am 13. 9. ließen wir uns von Anfangssätzen utopischer (und dystopischer) Romane inspirieren. Susanne Hüfken wählte den ersten Satz aus einem über 40 Jahre alten Buch, das immer noch die Augen öffnen kann und Spaß macht beim (Wieder)Lesen: Die Töchter Egalias. Leider ist es wohl nur noch antiquarisch zu finden. Aber sicher haben viele Wibschen es noch in ihren Regalen zu stehen. Ich freue mich, dass Sanne mir ihren Text für meinen Blog zur Verfügung stellt. Er schlägt einen Bogen über diese 40 Jahre, er schafft es aber auch aufzuzeigen, dass es erhellend, öffnend und hilfreich sein kann, dieses Buch noch einmal zu lesen, will per sich jedweder Ungerechtigkeit zumindest verbal in den Weg stellen.

Die Töchter Egalias
„Schließlich sind es noch immer die Männer, die die Kinder bekommen“, sagte Direktorin Bram und blickte über den Rand der Egalsunder Zeitung zurechtweisend auf ihren Sohn. Petronius heulte und schrie. „Ich will Seefrau werden! Warum dürfen Männer nicht Seefrau werden? Nur wegen diesem verdammten PH, der angeblich auch am Tauchanzug sein muss – und nicht bissfest genug ist?!“
So ähnlich beginnt der Roman Die Töchter Egalias. Mit einem Kniff macht die Autorin Gerd Brantenberg die Un-Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern deutlich: Sie tauscht einfach die Geschlechterrollen. Das heißt, eigentlich beschreibt sie eine ganz normale Familie in einer ganz normalen Gesellschaft in sowas wie Norwegen in den 1970er Jahren. Der kleine Unterschied hat es in sich: Frauen und Männer tauschen die Rollen.
Durch diesen Trick werden viele Ungerechtigkeiten, Ungleichheiten deutlich und sehr viele Absurditäten in unseren gesellschaftlichen Konventionen.
„Schließlich sind es immer noch die Männer, die die Kinder bekommen.“ Denn mit der Schwangerschaft und der als großes, schönes, lustvolles Ereignis ganz öffentlich zelebrierten Geburt haben die Frauen genug zur Reproduktion beigetragen. Jetzt sind die Männer dran, das schwache Geschlecht. Schwach nicht im körperlichen Sinn, sondern im geistigen.
Als logische Folge können Männer nicht Seefrauen werden. Das sagt doch schon das Wort: Männliche Seefrau – wie bescheuert klingt das denn? Und, Petronius, du weißt: Ein Seefrauentauchanzug hat keinen PH – keinen Pimmelhalter – und ohne einen PH geht kein anständiges Herrlein aus dem Haus.
Ich habe diesen Roman gelesen, als ich 15 Jahre alt war. Und mir gingen Seifensieder auf – nicht dass ich einen BH gehabt hätte oder auch nur gewollt (den hatten meine Mütter ein paar Jahre vorher verbrannt). Aber der Rest …
Seither hatte ich ein Prüfkriterium für Sexismus. Wenn mir etwas komisch vorkommt – im Hinblick auf Gerechtigkeit zwischen Frauen und Männern –, drehe ich die Rollen um. Ist es immer noch Ordnung, wenn eine Frau sich sooo verhalten würde? Wie wird ein Mann angesehen, wenn er das sooo machen würde?
Das fing bei den verdammten Pfiffen an, wenn ich über die Straße ging, und hörte bei der Sprache längst nicht auf. Ich bat um die Flaschenöffnerin und heftete Wichtiges in meine Ordnerin.
Jetzt – nach 30 Jahren – werden Frauenrechte wieder infrage gestellt. Der Streit tobt beim Thema Abtreibung und ums Stillen im Landtag.
Wahrscheinlich ist es wieder Zeit, den Roman zu lesen, sich Fantasie machen zu lassen im Umkehren von Rollen – nicht nur bei Frauen und Männern und Sprache. Auch die Verhältnisse zwischen Menschen mit verschiedenen Hautfarben, Religionen, zwischen Kindern und Eltern könnten so auf Gerechtigkeit überprüft werden.
Gerd Brantenberg: Die Töchter Egalias. Roman. Verlag Frauenoffensive 1987 (Original 1977, Pax Forlag (Norwegen))

Susanne Hüfken wurde 1967 geboren und ist Pfarrerin in der Nähe von Kassel. Feministische Themen oder Sichtweisen auf die Welt begleiten sie seit ihrer Schulzeit. Seit 20 Jahren lebt Susanne Hüfken in einer Gemeinschaft mit 60 anderen Erwachsenen und 20 Kindern, in der sie nach dem Bedürfnisprinzip leben: Alle geben, was sie können, und nehmen, was sie brauchen. Die Gemeinschaft versucht, ökologisch und geschlechtergerecht zu leben und alle wesentlichen Entscheidungen gemeinsam zu treffen.


10. September 2018

Frauen schreiben

Noch Plätze frei in Schreibwerkstätten

Schreiben in einer Gruppe Gleichgesinnter: Kreatives Schreiben, Geschichten und Gedichte, autobiografische Texte, Methoden gegen Schreibblockaden, Textkritik – die Frauenschreibwerkstatt vermittelt Handwerkszeug und fördert die Lust am eigenen Schreiben.
In zwei Kursen mit insgesamt neun Gruppensitzungen sind noch einige Plätze frei: montags von 9 bis 11 Uhr sowie mittwochs von 19 bis 21 Uhr. Die Kurse starten am 10. bzw. 12. September.
Infos und Anmeldung: Kirsten Alers, Tel. (0 56 05) 92 62 71


3. September 2018

Ein neues Gedicht

für die ASH-Südfassade

Die Debatte um das Gomringer-Gedicht scheint immer noch nicht ohne Häme, Sticheleien oder zumindest Untertöne auszukommen. So lese ich jedenfalls das, was Perlentaucher zur nun kurz bevorstehenden Neugestaltung veröffentlicht.
Auf der Website der Alice Salomon Hochschule selbst klingt es anders und auch visionärer.
Auf jeden Fall wird bald folgendes Gedicht der Alice Salomon Poetikpreisträgerin 2018 – Barbara Köhler – dort zu lesen sein, das sich inhaltlich und sprachgestalterisch mit dem Gomringer-Gedicht auseinandersetzt.

SIE BEWUNDERN SIE
BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:
SIE WIRD ODER WERDEN GROSS
ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO
STEHEN SIE VOR IHNEN
IN IHRER SPRACHE
WÜNSCHEN SIE IHNEN
BON DIA GOOD LUCK


27. August 2018

Zwischen Ton und Not

Palindrom-Geschichte

Palindrome sind Wörter, Sätze oder Verse, die von vorne und von hinten zu lesen sind. Eine andere Bezeichnung ist auch Krebsgedicht. Es gibt echte Palindrome wie z. B. RENTNER oder ANNA oder OTTO – auch von rechts nach links gelesen, liest man bei diesen RENTNER oder ANNA oder OTTO. Berühmt sind auch LAGERREGAL, RELIEFPFEILER oder DIENSTMANNAMTSEID. Und es gibt unechte Palindrome wie z. B. SARG/GRAS.
Der französische Experimentalschriftsteller (und Mitglied der Gruppe OuLiPo) George Perec hat einen ganzen Roman (mit 9691 Wörtern) als Palindrom-Text geschrieben. Das kann man machen, wenn man gerade Lust auf ,Basteln’ hat und sich selbst überraschen will – weil dieses Basteln ganz neue Inhalte zutage fördert, palindromatisch erzwungene sozusagen.
Allerdings kann man auch eine Geschichte schreiben zwischen zwei Palindromwörter, also z. B. zwischen SARG und GRAS, wobei dann SARG das allererste Wort des Textes und GRAS das allerletzte wäre (oder umgekehrt). Die Geschichte dazwischen würde sich dann (ganz ohne weiterhin an das Palindrom-Verfahren zu denken oder es zu verfolgen) von dem einen Inhalt/Begriff zum anderen entwickeln, vielleicht gar genau in der Mitte inhaltlich kippen.
Weitere Möglichkeiten: NOT/TON, RETTEN/NETTER, LEBEN/NEBEL.
Und auch ein Gedicht zu verfassen zwischen Palindrom-Wörter ist natürlich eine Möglichkeit.

Buchtipp: Kuhne, Bernd / Boehncke, Heiner (1993): Anstiftung zur Poesie. Theorie und Praxis von Oulipo. Bremen: manholt verlag


20. August 2018

2. korrigierte Auflage Schreiben wir!

(M)Eine Schreibgruppenpädagogik ist wieder erhältlich

Die erste Auflage ist fast ausverkauft. Und der Schneider-Verlag hat sich entscheiden, mir die Gelegenheit zu geben, die Fehlerchen zu korrigieren, um dann eine 2. Auflage von Schreiben wir! Eine Schreibgruppenpädagogik auf den Weg zu bringen. Ich freue mich!
Der Preis hat sich nicht verändert (18 Euro), wohl aber die ISBN, die neue ist 978-3-8340-1874-8; 184 Seiten; 20 Abbildungen. Die 2. korrigierte Auflage ist über den Buchhandel ab sofort zu beziehen.

Der Klappentext:
Schreiben wir! Eine Schreibgruppenpädagogik
Menschen schreiben in Gruppen. Seit Jahrhunderten. Schaffen literarische Kulturen, tragen bei zur Demokratisierung des Schreibens. Und seit rund 50 Jahren verstärkt – mit unterschiedlichen Zwecken und Rahmungen und meist unter den Ideen des Kreativen Schreibens und der Literarischen Geselligkeit.
Diese Schreibgruppenpädagogik geht der Hauptfrage nach, was das Schreiben in Gruppen ist und welche ,Gewinne’ sich zeigen, wenn Menschen in Gruppen schreiben. Sie nimmt dabei speziell eine Domäne in den Blick: die des Kreativen Schreibens in Gruppen in der Jugend- und Erwachsenenbildung außerhalb der klassischen Bildungsinstitutionen Schule und Hochschule.
Sie leistet einen Beitrag zur Weiterentwicklung und Theorie einer kritischen Fachpädagogik, sie liefert an der Schnittstelle Theorie/Handwerkszeug wissenschaftliches Hintergrundwissen ebenso wie Ideen für die Lehrpraxis und ist damit eine Handreichung für Menschen, die Schreibgruppen leiten und/oder Schreibprozesse begleiten (wollen) und sich dabei als Ermöglichende und Forschende verstehen.
Die Schreibgruppenpädagogik wird in sieben Kapiteln dargestellt:

  • Geschichte des Schreibens in Gruppen
  • das System Gruppe: Gruppenpädagogik und Gruppendynamik
  • das System Schreiben: Schreibprozess, -strategien und -kompetenzen
  • das System Didaktik für (kreative) Schreibgruppen
  • Anleitung zur Entwicklung von Schreibgruppenkonzepten
  • zehn durchdachte und erprobte Schreibgruppenkonzepte
  • Übungen- und Notfallkoffer: für Anfang und Ende, Feedback, Schreibprobleme und Gruppen­krisen


23. Juli 2018

Eine Frage

Eine Antwort

Das vorletzte Wochenende verbrachte ich mit dem 12. Jahrgang Biografisches und Kreatives Schreiben zur Präsenzlehre an der Alice Salomon Hochschule. Dort konnte ich an der Präsentation einer Vielzahl spannender Schreib(gruppen)konzepte partizipieren, die alle in die Welt wollen und sollten. Was für ein Potenzial!
Eine der Studierenden (Helen P.) stellte ihr Projekt vor, und am Ende bat sie uns, ihre kollegialen BeraterInnen, vor dem Einstieg in die Debatte eine Frage zu beantworten, eine von Pablo Neruda aus seinem Buch der Fragen (siehe auch meine Blog-Einträge vom 14. und 18. Juli 2014 und vom 7. Dezember 2015).
Die Frage: „Wie schmeckt das Gerücht des Himmels, wenn das Blau des Wasser singt?“
Deine Antwort: ....................................

Mit diesem kurzen, dem leicht träge machenden Dauersommer angemessenen Impuls verabschiede ich mich bis zum 20. August und wünsche noch einen wunderbaren zweiten Sommerteil mit Regen und Abkühlung bei Nacht!


16. Juli 2018

Nach dem Fußball

Von der Entdeckung einer französischen Autorin

Gestern ist die Männer-Fußballmannschaft aus Frankreich Fußball-Weltmeister geworden. Viele freuen sich, mir ist das ziemlich egal (wäre es auch, wäre es eine deutsche Mannschaft), aber natürlich gönne ich den vielen Begeisterten ihre Begeisterung. Mich begeistern andere Dinge – deshalb gibt es ja auch nicht nur Fußball-Stadien und Fußball-Zeitschriften, sondern auch Verlage, ÜbersetzerInnen und Bücher, vor allem die. Und auch welche aus Frankreich bzw. von französischen AutorInnen.
Eigentlich lese ich selten übersetzte Werke, aber dieses Mal machte ich eine Ausnahme und wurde belohnt. Ich las Die Jahre von einer der wohl aktuell hochgelobtesten französischen SchriftstellerInnen: Annie Ernaux. Ich kannte sie nicht, bevor die Teilnehmerinnen eines Workshops im Juni mir eben jenes Buch Die Jahre schenkten. „Alle Bilder werden verschwinden.“ Das ist der erste Satz. Und dann eine Aufzählung, seitenlang, der Bilder, die verschwinden werden, ihre Bilder, die präsent, die bedeutsam sind, persönliche, aber auch universelle. Mit ihr, der Autorin und Erzählerin und Protagonistin, werden sie alle verschwinden in ihrer ganz speziellen Färbung. Wenn sie nicht schreibt. „Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.“ Das ist der letzte Satz. Schreibend etwas retten von der Zeit. Die ihre war, die meine, unsere war.
Annie Ernaux ist 1940 geboren und nimmt die LeserInnen mit durch nahezu 70 Jahre Geschichte. Geschichte der Suche, des Widerstands, der Begegnungen, der Transformationen, des Scheiterns und Hoffens. Obwohl ich immer mal wieder zwischendurch dachte, ich hätte jetzt gern als Referenz den deutschen Ort, das deutsche Buch, die deutschen PolitikerInnen anstatt der französischen, die ich oft nicht kannte, hat mich diese Art, Autobiografisches mit Zeitgeschehen zu verknüpfen nicht zuletzt deshalb fasziniert, weil die Autorin mich mit ihren Stil, der manches Mal an freies Assoziieren, an ein Schreiben des Bewusstseinsstroms erinnert, zu meinen scheint. Als säßen wir uns gegenüber und ich hörte zu, streute mein Leben dazwischen, verstünde. Verstünde, wie Anderen das Leben gelingt, wie sie es jenseits des Mainstreams gestalten oder darin herumstolpern, als sei es nicht ihr eigenes und einziges ...

Ernaux, Annie (2018): Die Jahre. Roman, 5. Auflage. Berlin: Bibliothek Suhrkamp (Original 2008)


9. Juli 2018

Stilkopie 2

Einen Schreib-Stil nachahmen

Und immer noch ist eine meiner Lieblingsschreibaufgaben die, einen ,fremden’ Stil nachzuahmen. Es macht einfach erst mal Spaß und ist außerdem sehr erhellend: Ich erfahre im Mich-,Unterwerfen’, wie ein Stil meinen Inhalt, meine Aussageintention beeinflusst. Und ich erfahre über das Abgebremstwerden – ich kann eben nicht einfach so schreiben, wie ich schreibe, wenn ich einfach einen Impuls bekomme –, was ich sonst tue, was es mit meiner Schreibstimme auf sich hat.
Am 5. 3. 2018 hatte ich empfohlen, Sudabeh Mohafez zu kopieren, am 19. 3. 2018, Fingerübungen à la Friederike Mayröcker zu unternehmen. Heute möchte ich empfehlen, Ror Wolf zu imitieren bzw. den folgenden Text ohne Titel:

Eines Tages fiel ein Mann vom Stuhl. Er saß, wie berichtet wurde, auf die gewöhnlichste Weise auf einem Stuhl und fiel plötzlich herunter. Als er am Boden lag, sah er plötzlich auch einen anderen Mann, den er zuvor gar nicht beachtet hatte, vom Stuhl fallen und kurz darauf einen bisher noch nicht in Erscheinung getretenen dritten Mann. Als alle am Boden lagen, begann die Sache erst richtig: plötzlich fiel auch ein vierter Mann vom Stuhl. Aber das war noch nichts im Vergleich zu dem, was später passierte.

Quelle: Ror Wolf (2010): (Eines Tages fiel ein Mann vom Stuhl). In: Reclam Kürzestgeschichten.


2. Juli 2018

25 Jahre Schreiblehrerin

… und kein bisschen müde!

Am 23. Juni haben wir gefeiert. Also, ich ließ mich feiern: Mit den SchreibschülerInnen aus meinen aktuell fünf fortlaufenden Kursen durfte ich einen halben Samstag lang im Mitbringbüffet und in literarischen Beiträgen schwelgen.
1993 leitete ich den ersten Schreib-Workshop in Wuppertal, damals einen mit journalistischer Ausrichtung: Rund ums Zeitungmachen. Viele Menschen sind seither zu mir gekommen, um zu schreiben, etwas zu lernen, sich die Zeit zum Schreiben zu nehmen, literarische Geselligkeit in der Gruppe zu erleben, sich und der Welt schreibend Ausdruck zu verleihen. Menschen von 8 bis 88. Es hat sich in meiner Art zu unterrichten einiges verändert, aber die Grundsäulen (Vermittlung kreativer Schreiblust, von Handwerkszeug und Zutrauen zum eigenen Blick auf die Welt) stehen nach wie vor. Und dass ich mich als Texthebamme verstehe, als Schreibprozessbegleiterin.
Seit 1999 bin ich freiberuflich unterwegs – und seit 2006 lebe ich nahezu ausschließlich vom Unterrichten, u. a. an der VHS, an der Alice Salomon Hochschule (Berlin), an der Uni Kassel – dem Ruf gefolgt zu sein, der mich in einer Schreibwerkstatt, an der ich ebenfalls 1993 in Wuppertal teilnahm, macht mich heute noch staunen und überaus zufrieden, gehöre ich doch zu den Privilegierten, die ihre Berufung zum Beruf machen konnten. Auch das galt es zu feiern.
Hier nun, als Dank und Wertschätzung, ein Text von den vielen, die mir am vorletzten Samstag geschenkt wurden:

Ein Limerick von C. K.
Literarisches Schreiben lehrt Kirsten
vom Grundstein bis hoch zun den Firsten
da stöhnt manche voll Glut
der Gedanke war gut
aber willste ihn fassen, verliersten


25. Juni 2018

Solidarität statt Heimaty

Oder: Farbe bekennen, wenigstens mit einer Unterschrift

Manchmal muss ich etwas Anderes posten bzw. sagen – mit Sprache und Text hat es immer zu tun, aber nicht immer mit Kreativem Schreiben. Was ich heute sagen will: Solidarität statt Heimat. Es ist unerträglich, die Hetzereien allerorten, von türkischen und bayrischen Nationalisten über Fußballtrainer und -fans bis zu LeserbriefschreiberInnen und NachbarInnen! Was ist eigentlich euer Problem? Seid ihr nicht so satt und reich und sicher und multiprivilegiert, wie man in dieser Welt nur satt und reich und sicher und multiprivilegiert sein kann?!
Ich unterzeichne nicht oft Verlautbarungen im Netz oder auf der Straße, aber gestern musste es sein. Ich habe den Text Solidarität statt Heimat (powered by kritnet, medico international & ISM) unterzeichnet, als 8838.! Falls das Bedürfnis besteht, das auch zu tun, ein winziges Zeichen zu setzen, hier ist der Link.


18. Juni 2018

Irgendwas ist immer

Wörterspenden – jede Woche drei neue

Ein anregender Blog einer Kollegin (also auch einer Bloggerin in Sachen Kreatives Schreiben). Ich kenne sie nicht persönlich, aber ihre Idee finde ich klasse.
Jede Woche postet Christiane S. aus Hamburg auf ihrem Blog Irgendwas ist immer unter dem Titel abc.etüden drei Wörter, die ihr von anderen Menschen zur Verfügung gestellt werden. Mit diesen Wörtern kann man machen, was man will. Sätze halt. Oder einen am Tag. Oder mehrere. Oder einen ganzen Text. Oder nur drei Wörter in einem Bild ... Die verlinkt werden können/sollen. Natürlich mit Irgendwas ist immer, hier zu finden:

Die Wörter, die Frau Myriade für die Woche 25/18 gespendet hat, lauten:
Ödipuskomplex
giftgrün
voltigieren
Also, schreiben. Was auch sonst?!


11. Juni 2018

Haikus

oder so etwas Ähnliches

Eigentlich sind Haikus mir heilig, ich lehne es ab, sie für jede Art von Inhalt einzusetzen, versuche, das Meditative des Herstellens mit zu vermitteln usw. Dennoch – als ich (in alten Unterlagen) auf die folgenden Haikus stieß, hatte ich doch Spaß daran:

Polizeiku von meiner Kasseler Jana Ißleib (2012)
Stillgestanden Halt!
Bevor die Knarre schallt
Ausweiskontrolle

Keks-Haiku vom Poetry Slammer Jan Philipp Zymny (2014)
Tuc Tuc Tuc Tuc Tuc,
Tuc Tuc; Tuc Tuc Tuc; Tuc Tuc.
Tuc Tuc Tuc Tuc Tuc!


4. Juni 2018

Stilkopie 2

Einen Stil nachahmen

Bereits am 5. 3. habe ich empfohlen, sich einmal auf einen ,fremden’ Stil einzulassen, schreibend darin zu spüren, zu erforschen, wie die eigenen Inhalte sich formen, wenn der üblicherweise ,automatisch’ gewählte Stil oder Ausdruck einmal bewusst vermieden wird.
Heute also Lydia Davis. Es handelt sich um eine Übersetzung aus dem Englischen, der Stil ist allerdings so eindeutig, dass ich dieses Stückchen Literatur gewählt habe.

Lydia Davis: Der Ausflug (aus: Reise über die stille Seite. Storys, 2016)
Ein Zornesausbruch neben der Straße, eine Weigerung, auf dem Fußpfad zu sprechen, ein Schweigen im Kiefernwald, ein Schweigen beim Überqueren der alten Eisenbahnbrücke, ein Versuch, im Wasser freundlich zu sein, eine Weigerung, den Streit auf den flachen Steinen zu beenden, ein wütender Aufschrei auf dem steilen lehmigen Ufer, ein Weinen unter den Büschen.


28. Mai 2018

Schreiben im Mai

mit Else Lasker-Schüler

Ach, Else, ein Seufzen, immer ein Seufzen in mir, wenn ich Gedichte von Else Lasker-Schüler lese. Genährt, das Seufzen, von ihrem Ton, diesen Wort-Bildern, den großartigen, ihrer Melancholie, die meine Erinnerungen wach rufen, Erinnerungen an Wuppertal, an die Suche nach der Liebe, nach dem, was lange geträumt. Und jetzt, in diesem Hochsommer-Mai ... Vielleicht darf ich noch im Maienregen gnädig werden gegenüber meinem Sehnen, den unerfüllten Träumen – oder ich schreibe einfach. Als Schreibimpuls also heute ein Maienregen in Wörtern von ihr: Else Lasker-Schüler (1869–1945).

Maienregen

Du hast deine warme Seele
Um mein verwittertes Herz geschlungen,
Und all seine dunklen Töne
Sind wie ferner Donner verklungen.

Aber es kann nicht mehr jauchzen
Mit seiner wilden Wunde,
Und wunschlos in deinem Arme
Liegt mein Mund auf deinem Munde.

Und ich höre dich leise weinen,
Und es ist – die Nacht bewegt sich kaum –
Als fiele ein Maienregen
Auf meinen greisen Traum.


21. Mai 2018

Von wo aus ich spreche

Ein Essay zu einer falsch geführten Debatte

In letzter Zeit bin ich stark beschäftigt mit dem Thema Feminismus und Genderphilosophie, versuche mich zu positionieren, meinen Standort, von dem aus ich denke, spreche, schreibe, zu klären. Dabei stoße ich auf Positionierungen Anderer, die mich berühren, Ja sagen lassen. So wie der von Miriam N. Reinhard, die mir freundlicherweise erlaubt hat, ihr Essay, das ich vor einigen Wochen in der Krampfader las, hier zu posten.
(Eine Erstfassung dieses Essays erschien in: Krampfader, der Kasseler Frauen- und Lesbenzeitschrift IV 2017: http://www.feminismus-zeitung.de)

FEMINISMUS CONTRA GENDERPHILOSOPHIE?
Position zu einer aktuellen Debatte

von Miriam N. Reinhard

1. Scheingefechte
Die Ausgaben der EMMA im Juli/August und September/Oktober 2017 bieten Artikel, die Paukenschläge sind und damit auch über ein feuilletonistisches Interesse an feministischen Themen hinaus Kreise ziehen. So lobt etwa die ehemalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) in einem Interview mit Focus-Online vom 27. 8. 20171 ganz ausdrücklich, dass Schwarzer „Fehlentwicklungen an Genderlehrstühlen“ kritisieren würde, ohne dazu auch nur einen einzigen inhaltlichen Punkt zu nennen, den sie an Schwarzers Kritik nun konkret für unterstützenswert hält. Vielleicht liegt es daran, dass Schwarzer selbst ihre Kritik auch kaum inhaltlich in Bezug auf Genderphilosophie konkretisiert. In einem in der Juli/August-Ausgabe der EMMA publizierten Dossier werden die Gender-Studies, wie sie maßgeblich von der Philosophieprofessorin Judith Butler vertreten werden, u.a. als „Sargnägel des Feminismus“2 bezeichnet. So legen etwa Sabine Wettig und Vojin Saša Vukadinović in ihren Beiträgen dar, dass die Genderphilosophie und Theorien, die in ihren Augen mit ihr korrespondieren, einen „reaktionären Kern“3 enthalten; sie würde sich unkritisch und verklärend zum Dschihadismus verhalten und „Studierende oftmals nicht schlauer, sondern in vielen Fragen dümmer machen“4. In derselben Weise haben bereits die Aufsätze des im Februar 2017 im Queer-Verlag erschienen Sammelbandes „Beißreflexe“ Kritik an der Genderphilosophie und den Critical Whiteness Studies geübt; die Essays des EMMA-Dossiers sind zum Teil von denselben Autor_innen verfasst.
Gegen die im EMMA-Dossier erhobenen Vorwürfe argumentieren Judith Butler und die Berliner Professorin Sabine Hark in einem Artikel in DIE ZEIT vom 2. August 20175 und beklagen das „Erstarken autoritär grundierter Ressentiments“ in öffentlichen Debatten. Sie werfen EMMA vor, dass diese „kein Problem mit Rassismus habe und nicht bereit ist, rassistische Formen und Praktiken der Macht zu verurteilen.“ Darauf wiederum reagierte Alice Schwarzer mit einem ZEIT-Artikel vom 9. August 20176, in dem die bereits im EMMA-Dossier erhobenen Vorwürfe an Butler wiederholt werden. Neu ist hier allerdings der explizite Bezug auf Butlers Schriften, der in den vorangegangenen Auseinandersetzungen weitestgehend fehlt. Schwarzer geht auf Butlers 1990 erschienenes Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ ein und stellt heraus, dass mit Butler die „Geschlechterrolle nicht mehr zwingend an ein biologisches Geschlecht“ gebunden sei. Damit komme man, so Schwarzer, bei dem Gedanken des „Queeren“ an. Dieser habe jedoch nichts mit der Realität zu tun, denn: „In der Realität […] sind die weiblichen Menschen in unserer Kultur weiterhin die Anderen, es gilt für sie ein anderes Maß als für Männer. Entsprechend sind sie zum Beispiel in erster Linie zuständig für Einfühlsamkeit und Fürsorge, Kinder und Haushalt, sie verdienen weniger und können selbst in Liebesbeziehungen Opfer von (sexueller) Gewalt werden. In anderen Kulturen – wie in islamischen, in denen die Scharia Gesetz ist – geht es noch viel ärger zu. Da sind Frauen vollends relative Wesen, sind rechtlose Mündel […]. Diese Verhältnisse werden von Butler im Namen einer „Andersheit der Anderen“ gerechtfertigt.“7
Diese Kritik wiederholt Schwarzer in der September/Oktober-Ausgabe der EMMA und nimmt zugleich dort eine anti-rassistisch motivierte Kritik an ihren Positionen vorweg, indem sie formuliert, dass genau eine solche Kritik „Methode“ habe: „Denn Kritikerinnen, denen man unterstellt, sie seien Rassistinnen niederer Machart, die den eigenen Gedanken kaum folgen können, solche Kritikerinnen brauchen den Mund gar nicht erst aufzumachen.“8
Es ist nicht ganz einfach, die wirkliche Frontlinie hier im Blick zu behalten; beide Seiten werfen sich Unsachlichkeit vor und Blindheit gegenüber der Argumentation der Anderen und der Realität. Dennoch läuft meines Erachtens die Kritik, die Schwarzer übt, zu einem großen Teil ins Leere, weil sie das, worum es der Genderphilosophie geht, nur oberflächlich zur Kenntnis genommen hat und an manchen Punkten daraus nicht die richtigen Schlüsse zieht.
Mit der von ihr konstruierten Opposition ‚Genderphilosophie/Feminismus‛ führt sie schon deswegen ein Scheingefecht, weil ihre Fragen als Journalistin, die auf tagespolitische Ereignisse reagiert und diese in einen Zusammenhang konkret politischer Debatten verortet, zunächst einmal völlig andere sind als die einer Philosophin, die die Bedingungen der Konstitution von Identität reflektiert und mit dieser Fragestellung an philosophische Traditionen des Denkens anknüpft. Wenn Schwarzer kritisiert, dass Butler das biologische Geschlecht relativiere und damit das Unrecht nicht mehr sagbar mache, das Frauen als Frauen widerfahre, so trifft sie damit das Anliegen der Genderphilosophie nicht.

2. Der Zeitpunkt des Sprechens
Die Genderphilosophie setzt früher ein, als die Reflexionen des Journalismus beginnen. Das, was der Journalismus uns in seinen Auseinandersetzungen präsentiert, ist bereits durch verschiedene diskursive Ebenen geprägt. Dies soll nicht bedeuten, dass es deswegen keinen kritischen Journalismus geben könnte, sondern, dass die Voraussetzungen des eigenen Sprechens diesem nicht immer zugänglich sind. Wenn Schwarzer darauf insistiert, es würde ein biologisches Geschlecht existieren und dies sei bedeutend dafür, dass man überhaupt von Frauen sprechen und dann auch für Frauen Partei ergreifen könne, so reproduziert sie damit eine Denkfigur, die eine Geschichte besitzt.
Genderphilosophie setzt bei dieser Geschichte ein. Sie geht davon aus, dass sich in Wissen und Sprache nicht einfach abbildet, was tatsächlich empirisch vorhanden ist, sondern, dass durch sie mitproduziert, reproduziert, inszeniert und in verschiedenen Formen spezifiziert wird, was dann als Reales in Erscheinung treten kann. Der Philosoph Michel Foucault hat mit dem Begriff des ‚Diskurses‛ und seinen Analysen zu verschiedenen diskursiven Ebenen versucht, beschreibbar zu machen, in welcher Weise in bestimmten historischen Konstellationen sich Wissen formiert, in welcher Weise es die Wahrnehmung und Lebenswelt der Menschen zu organisieren beginnt. Der Diskurs ist eine Art Archiv des Wissens, das sich selbst verschließt und ständig erneuert, das seine eigenen Zutrittsbedingungen reguliert, und damit über Möglichkeiten des Sprechens entscheidet. Der Diskurs sammelt das Wissen, etwa der Medizin, der Biologie, der Psychiatrie. Er ermöglicht damit das Sprechen von Ärzt_innen, von Therapeut_innen. Er prägt bestimmte Vorstellungen von Verhalten, von Normalität, von Gesundheit und Krankheit. Er hat auch die ‚Geschlechtsidentität‛ hervorgebracht, wie wir sie heute verstehen. Anhand der Analyse eines Falls aus dem 19. Jahrhundert, wo ein hermaphroditischer Mensch plötzlich von Medizin und Justiz gezwungen wird eine Geschlechtsidentität anzunehmen, in der er zuvor nicht gelebt hat (und der sich dann schließlich unter dem Zwang dieser verordneten Identität das Leben nimmt), zeigt Foucault, dass erst ab dem 17. Jahrhundert das Wissen sich so spezifiziert, dass es einem Hermaphroditen ein ‚eindeutiges Geschlecht‛ zuordnen will.9 In der Zeit vor dem 17. Jahrhundert geht man – so beschreibt es Foucault – nicht davon aus, dass der Hermaphrodit ein eindeutiges Geschlecht besitzt; erst mit der Spezifizierung des Wissens entwickelt sich die Vorstellung, dass es sich bei Hermaphrodismus nur um ‚Scheinhermaphrodismus‛ handelt, einem raffinierten Versteckspiel der Natur, das das wahre Geschlecht eines Menschen nur verschleiert, das die Medizin fortan zu enthüllen beauftragt ist. Was sich hier ab dem 17. Jahrhundert am Beispiel des Hermaphrodismus herauskristallisiert, ist nichts weniger als die Norm, die fortan die Eindeutigkeit der Geschlechtsidentität mit einer Wahrheit versieht, die ihr zuvor nicht zugesprochen worden ist. Betrachtet Foucault besonders den Zeitpunkt des Erscheinens einer solchen eindeutigen Geschlechtsidentität innerhalb einer Chronologie des Wissens, so geht es Butler darum, zu zeigen, wie durch bestimmte Inszenierungen ein solches Wissen und der aus ihm folgende Effekt einer Geschlechtsidentität immer wieder eine Aktualisierung erfahren.
Damit geht es ihr nicht darum zu behaupten, dass ein biologischer Körper oder ein biologisches Geschlecht nicht existent seien, sondern darum zu zeigen, in welcher Weise der biologische Körper eine Figuration des Wissens ist.

3. Gesellschaftliche Funktionsweisen, gesellschaftlicher Konflikt
Ausgehend von der Sprechakttheorie, die beschreibt, dass Sprechen nicht eine objektiv vorhandene Wirklichkeit abbildet, sondern an ihrer Konstitution beteiligt ist– im Sprechen also handelt – analysiert Butler jene Sprechakte, die das biologische Geschlecht beglaubigen und damit seine Identität performativ generieren. Der erste Sprechakt, mit dem ein Mensch in diesem Zusammenhang konfrontiert wird, der die Rolle innerhalb seines Mensch-Seins fortan determiniert, ist die Benennung seines biologischen Geschlechts nach der Geburt: „Es ist ein Mädchen“, sagt eben auch: Dieser Mensch wird (so die Norm) eine Frau werden, er wird (so die Norm) sich in einen Mann verlieben; Butler: „Das Benennen setzt zugleich eine Grenze und wiederholt eine Norm“.10 An das benannte biologische Geschlecht knüpfen sich also Vorstellungen von Identität, die genau jene Normen manifestieren, die diesen Körper mitkonstituieren, zu dem das Geschlecht gehört; Butler fragt: „In welchem Ausmaß ist das ,Geschlecht’ [sex] eine erzwungene Produktion, ein Zwangseffekt, der die Grenzen dafür setzt, was sich als ein Körper qualifizieren kann, indem er die Bedingungen reguliert, von denen Körper getragen und nicht getragen werden?“11
Diese Frage, die Butler aufwirft, ist politisch, denn sie problematisiert die Konstellationen, in denen ein Körper zu einem diskursiv legitimierten Körper eines Menschen wird. Wo wird die Praxis einer solchen diskursiven Legitimierung sichtbar? Noch am 22. 6. 2016 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass eine intersexuelle Person, nicht als ‚inter‛ in das Personenstandsregister eingetragen werden kann, sondern dass eine eindeutige Geschlechtszugehörigkeit für die Eintragung benötigt wird.12 Als intersexueller Mensch ist man bis jetzt also keine Rechtsperson, man existiert in der Ordnung dieses Staates nicht. Jemand, dessen Geschlechtsidentität nicht in Eindeutigkeit überführt werden kann, oder diese Eindeutigkeit verweigert, kann als Rechtssubjekt damit nicht sichtbar werden. Das bedeutet ja mehr, als nur nicht in einem Register aufgeführt zu sein. Es bedeutet, nicht handlungsfähig zu sein, es bedeutet die Aberkennung des Person-Seins, die Aberkennung des Status des Sozialen. In diesen Praktiken der Identifizierung entscheidet sich in letzter Konsequenz, wie und ob Dasein möglich ist. Zu Recht hat deswegen das Bundesverfassungsgericht am 8. 11. 2017 eine Korrektur dieser Praxis verlangt und die Bundesregierung aufgefordert, das Personenstandsrecht bis Ende 2018 dahingehend zu verändern, dass auch ein drittes Geschlecht abgebildet werden kann. Denn hier, an den Fragen der Geschlechtsidentität, scheint eine Grenze des Menschlichen zu verlaufen.
Ein Feminismus, der dies nicht in seine Überlegungen mit einbezieht, der nicht danach fragt, wie gesellschaftliches Dasein – und damit auch die Norm der Geschlechtsidentität – produziert wird, bleibt blind auch für die Bedingungen seiner eigenen Produktion, für die Vorrausetzungen, auf denen sein Sprechen sich gründet. Einem feministischen Journalismus, wie etwa Alice Schwarzer ihn vertritt, müssen diese Bedingungen des Sprechens nicht in jedem Satz präsent sein; der Ort des Wirkens ist ein anderer als der der Genderphilosophie, wie sie etwa von Judith Butler vertreten wird. Der Zeitpunkt des Sprechens bleibt verschieden.
Wenn Ort und Zeit des Sprechens nicht miteinander geteilt werden, bedeutet dies jedoch nicht, dass man in seinem Anliegen unversöhnbar voneinander abgespalten bleibt. Man findet an dem Punkt wieder zusammen, an dem jene Bedingungen zutage treten, die das Sprechen reglementieren, die die Norm als Norm verteidigen wollen, die als ‚abweichend‛, ‚unnormal‛, ‚krank‛ und ‚gestört‛ all jene Stimmen und Zeugnisse zu diskreditieren und aus der Ordnung zu verbannen versuchen, die nicht männlich, nicht weiß, nicht heterosexuell, nicht eindeutig männlich oder weiblich sind. Vom Standpunkt der Norm aus betrachtet, sind diese Stimmen ‚queer‘ – lange bevor ‚Queerness‛ dieses Stigma in eine Kraft des Sprechens zu wenden versucht.
Genau an diesem Punkt sollte der Feminismus sich fragen, wo er die Front eröffnen will – bevor er genau jene Stimmen zum Verstummen zu bringen versucht, die im Augenblick der Gefahr mit ihm durch das, was sie bezeugen, solidarisch sind.

(Endnotes)

  1. Interview mit Kristina Schröder, Focus-Online am 27. 8. 2017, http://www.n-tv.de/politik/Den-Kohl-Starschnitt-gab-es-nie-article19993643.html, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017.
  2. Vojin Saša Vukadinović: Gender Studies. Die Sargnägel des Feminismus, in: EMMA, Juli/August 2017, S. 66–69.
  3. Ebd., Hannah Wettig: Beissreflexe. Gewalt als Antwort auf Kritik, ebd., S. 64.
  4. Ebd., Vojin Saša Vukadinović: Gender Studies, ebd., S. 69.
  5. Judith Butler/Sabine Hark: Die Verleumdung, in: DIE ZEIT, vom 2. 8. 2017, http://www.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminismus-emma-beissreflex, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017.
  6. Alice Schwarzer: Der Rufmord, in: DIE ZEIT, vom 9. August 2017, http://www.zeit.de/2017/33/gender-studies-judith-butler-emma-rassismus, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017.
  7. Ebd.
  8. Alice Schwarzer: Eine Antwort auf Butler, in: EMMA. September/Oktober 2017, S. 6–7.
  9. Michel Foucault: Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Joseph Vogl und Wolfgang Schäfer(Hrsg.). Übersetzt von Annette Wunschel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1998.
  10. Vgl. Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann, Frankfurt: Suhrkamp 1991, S. 29.
  11. Judith Butler: ebd:, S. 49.
  12. http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Gericht=bgh&Art=pm&Datum=2016&Sort=3&nr=75539&linked=bes&Blank=1&file=dokument.pdf, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017. Eine Stellungnahme vom LSVD dazu findet sich hier: http://www.lsvd.de/newsletters/newsletter-2016/lsvd-kritisiert-entscheidung-des-bundesgerichtshofs-zum-personenstandsrecht.html, zuletzt aufgerufen am 18. 9. 2017.

14. Mai 2018

Die Fassaden-Geschichte

und mein persönlicher Schmerz

Selten habe ich in meinem Leben eine so schmerzhafte Woche erlebt wie die vom 28. 1. bis 5. 2. 2018 (gemeint ist die Woche, in der die Hetze gegen die Alice Salomon Hochschule aufgrund der Gedichtentfernungsentscheidung losging und in der ich um eine Positionierung rang, die hier unter dem 5. 2. (Einmischungen) zu lesen ist). Ja, es gab in meinem Leben natürlich Schmerz aufgrund von Beziehungsdramen, Ängsten um die Kinder, des Todes naher Menschen, einer Krebsdiagnose ... Auf dieser Ebene aber lag (bzw. liegt) der Schmerz nicht, der mich so hart traf.
Es ist ein Schmerz, der durch ein Erkennen entsteht, ein plötzliches Erkennen: dass etwas ganz anders ist als angenommen. Mit einer Wucht, die ich selten erlebte habe, traf mich die Erkenntnis, dass all das feministische Engagement (meines und das vieler Anderer) möglicherweise nichts bewirkt hat, dass mein Vertrauen in die Veränderung eine Illusion war, vor allem aber, dass meine Position, meine feministische Identität nichts gilt.
In meiner Kindheit trug ich Lederhosen, kurze im Sommer, die Kniebundvariante im Winter, kein Kampf darum mit Mama und Papa. Zu Karneval (und auch in manchem Sommer) war ich der Indianerhäuptling der Krusestraße, unangefochten auch von den Nachbarsjungen. Und ganz klar in meinem Innern das Konzept (damals selbstredend nicht so definiert): Ich will nicht kein Mädchen sein, ich will auch ein Junge sein. Später dann die (Mehrfach-)Beziehungsversuche mit Männern und Frauen – da entstand parallel zur Praxis auch ein theoretisches Gebäude, maßgeblich beeinflusst von Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht: Das Konzept der Zweigeschlechtlichkeit mit der diesem innewohnenden Hierarchie ist abzulehnen. Konsequenzen daraus sind die Kämpfe um Gleichberechtigung, um Gleichwertigkeit, schließlich auch immer um die Auflösung der Geschlechterdualität/-polarität; Niederschlag fanden sie in jeder privat geführten Debatte, in der Mitherausgabe der Wuppertaler Frauenzeitung, in Positionierungen im Kommune-Kontext, in der Gründung von Frauen-Schreibwerkstätten ...
Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt unterrichte ich nun an der Alice Salomon Hochschule, positioniere mich eindeutig in Inhalten und Sprache; so akzeptiere ich z. B. nicht die Verwendung des generischen Maskulinums, weil Texte dann angeblich leichter zu lesen sind (sind sie übrigens u. a. deshalb nicht, weil vor allem frau beim Lesen mit Aggressionen zu kämpfen hat).
Und nun soll all das, wofür ich brenne, was ich als richtig und wichtig für mich und die Welt meine erkannt zu haben, wofür ich im privaten und im öffentlichen Raum streite, seit ich denken kann, einfach etwas Überzogenes karriereverhinderter Emanzen sein (oder was es an unsäglichen Titulierungen noch so gab/gibt)?
Es hat mich an die Wand geschleudert, es schleudert mich mit fast jeder neuen Verlautbarung in den Medien wieder an die Wand: Ich gelte nicht. Meine Erkenntnis gilt nicht, ist nichts wert, ist überflüssig, hochgezogen, ewig gestrig, in den 68ern stecken geblieben; ich werde psychologisiert, abgewertet, ins Abseits gestellt; ich habe als die, die ich bin, geworden bin, als die ich auf die Welt schaue, als die ich lebe, liebe, unterrichte ... keine Existenzberechtigung – jedenfalls versuchen die Verlautbarungen in den Medien mir diese abzusprechen. Das ist schlimm. Das ist schlimmer, als es die Krebsdiagnose war!
Ich bin 57 Jahre alt, meine erste Erinnerung an eine geschlechtsspezifische Positionierung ist eine im Kindergarten, als ich drei Jahre alt war. 54 Jahre Ringen um Positionen, innere und äußere, 54 Jahre Denken, Fühlen, Wollen, Debatte, Diskurs, Erkenntnisse, Weiterdenken ... und dann: „Was soll der Quatsch?“, „Habt ihr nichts Wichtigeres zu tun?“, „Unersättlich, diese Frauen!“
Wohin mit diesem Schmerz? Und wie komme ich aus dem Entsetzen und der ihm folgenden Resignation wieder heraus? Ich kann es einfach nicht glauben, dass das, was diese (meist) männlichen Schreiberlinge sich erlauben, erlaubt sein soll, dass das (sprachlich und inhaltlich) gelten soll, dass das das Morgen bestimmen soll!


7. Mai 2018

Einen Sprengsatz legen

Ingrid Strobl 1989

VAls ich gestern in meinem Regal nach einem Buch suchte, ich weiß nicht mehr, ob von George Sand oder von Marlene Streeruwitz, das war dann auch nicht mehr so wichtig, stieß ich auf auf Ingrid Strobl: Frausein allein ist kein Programm heißt das kleine Bändchen (1989 erschienen bei Kore in Freiburg/Br.), voll mit Bleistiftmarkierungen von vor fast 30 Jahren, ich las es Anfang der 1990er Jahre, damals war ich Redakteurin der Wuppertaler Frauenzeitung Meta M. und in die damals in der Wuppertaler FrauenLesbenSzene heftig geführte Auseinandersetzung zwischen feministischen und genderphilosophen Positionen involviert (dazu nächste Woche mehr). Damals las ich Ingrid Strobl.
Gefunden habe ich gestern das, was ich vergessen hatte, dass ich es jemals gelesen hatte, und also wiederfinden konnte, in dem Essay „Gibt es eine weibliche Literatur?“, den sie 1985 verfasste: „Wir müssen eine Tradition weiblicher, was heißt: von Frauen geschriebener, Literatur nicht erst mühsam nach dem Lehrbuch schaffen. Wir haben sie bereits! Und wir müssen nicht von den heutigen und zukünftigen Schriftstellerinnen eine feministische Literatur einfordern, denn auch die gibt es bereits. Allerdings nicht als Tendenzliteratur, sondern als eine Literatur, die Utopie in sich birgt. Die die nicht eingelösten Sehnsüchte thematisiert, und deren Spannung sich aus den nie gelösten Widersprüchen entlädt. Eine Literatur, die die Grenzen, die Frauen gesteckt sind, kennt, die sie aber nicht erträgt und so einen Sprengsatz legt, der auch bei uns, den Leserinnen und Kritikerinnen, die Sehnsucht weckt, unsere Grenzen zu sprengen“ (S. 119).
Ingrid Strobl (geboren 1952) ist österreichische Journalistin und Autorin, arbeitete u. a. 1979 bis 1986 bei der EMMA. Sie arbeitete zu Rhetorik im Dritten Reich, jüdischen Frauen und feministischen Fragen. Seit 2009 ist sie auch Kollegin in Sachen Kreatives Schreiben (https://de.wikipedia.org/wiki/Ingrid_Strobl).


30. April 2018

Walpurgis

Dichten nach Luisa Francia

Vielleicht gefällt es ihr, wenn ich sie eine Hexe nenne, eine Zaunreiterin. Gern würde ich ihr einmal begegnen: Luisa Francia. Wenn Walpurgis ist (so wie heute), denke ich an Frauen, die Geburtstag haben: Jutta, Alina, Malika. An die kleine Hexe (des Otfried Preußler), die nicht eingeladen wurde zum Walpurgisfest auf dem Blocksberg. An den Kölner Frauenbuchladen Hagazussa, einer meiner liebsten Orte in meiner frühen Erwachsenenzeit (wie scheu ich ihn betrat, wie viel Geld ich dort ließ für Bücher von Simone de Beauvoir, Marilyn French, Cora Stephan, Marge Piercy, Luise Pusch ...). Komischerweise denke ich nur selten an diesem Tag an die Hexenverfolgungen der frühen Neuzeit (und der Postmoderne, dazu aber an anderer Stelle), sehr wohl aber manchmal an den Goetheschen Zauberlehrling und immer an Luisa Francia. Deshalb also heute eine kleine Schreibanregung zu ihren Ehren.
Lass dich inspirieren von ihrem magischen Gedichtchen – zu eigenen, die Energien beschwörenden Reimen oder zu einem Text über einen Keim in dir, einen hexischen womöglich.

Ein Reim
(von Luisa Francia)
Ein Reim
ist ein Keim,
holt hervor,
wird zum Tor,
öffnet Wege,
geschickt und rege,
ruft herbei,
wie es sei,
schafft Raum
für den Traum.


23. April 2018

Unbedingt lesen!

Bücher dieses Frühjahrs

Weil heute Welttag des Buches ist, empfehle ich ein Bücher, die ich in diesem Frühjahr mit Genuss gelesen habe (und auch wenn ich auch manchmal Bücher von männlichen Autoren lese – die von Frauen möchte ich würdigend zeigen, weil sie immer noch skeptischer betrachtet, als Fräuleinwunder diffamiert oder schlicht ignoriert werden):

Alina Bronsky: Baba Dunjas letzte Liebe. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017.
Dunja, eine alte Frau, und ein paar andere Alte gehen zurück in ihr Dorf in der Todeszone am Reaktor von Tschernobyl, um dort bis zu ihrem Tod zu leben: skurril und sprachlich überzeugend, vor allem aber von der ersten bis zur letzten Seite berührend.

Lily King: Euphoria. Roman. München: C. H. Beck 2015.
Inspiriert vom Leben der Ethnologin Margaret Mead wird die Geschichte dreier EthnologInnen in den 1930er Jahren in Neuguinea erzählt; neben der (erwartbaren) Dreiecksgeschichte geht es aber vor allem um Blicke, Macht, Herrschaft – die Konstruktion von Wirklichkeit wird zart und schonungslos zugleich überzeugend erzählt.

Mariana Leky: Was man von hier aus sehen kann. Roman. Köln: DuMont 2017.
Luise ist Selmas Enkelin und darf leben in der Liebe der Großmutter und in einem Dorf, das Platz für viele und vieles hat – aber trotzdem bleiben die schrecklichsten Erschütterungen nicht außen vor, und die Liebe ist auch hier nicht einfach da und manchmal ist sie unerreichbar.

Jeanette Winterson: Warum glücklich statt einfach nur normal? München: Hanser 2013.
Eine Frau, die als Kind adoptiert wurde und eine Kindheit erleben musste, in der sie als die, die sie war, nicht vorkam, befreit sich mühsam, um leben zu können: nicht normal, sondern glücklich (oder wenigstens als sie selbst).

Juli Zeh: Leere Herzen. Roman. München: Luchterhand 2017.
Ein Science Fiction, in dem man die aktuelle Gesellschaft – bis auf einige Skurrilitäten – eigentlich schon erkennen kann. Die Protagonistin Britta lässt sich (gezwungenermaßen) in ihren Grundfesten erschüttern, als eine ihrer KandidatInnen nicht mitspielt, aber auch nicht wieder verschwindet.


16. April 2018

Schreib was mit A

Oulipotische Aufforderung von Ulrike Arabella

Alle Studierenden in ,meinem’ Masterstudiengang an der Alice Salomon Hochschule müssen in einem Modul in ihrem 1. Semester einen Blog kreieren und regelmäßig etwas posten. Da zeigt sich ein Potenzial, das mich juchzen lässt! Nun hat eine der Studierenden aus dem 11. Jahrgang einen Aufruf gestartet, den ich gern unterstütze:

„Willkommen zur Blogparade mit dem Thema: April, April, der weiß nicht, was er will! Alle Schreiblustigen aus unserem Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Scheiben an der ASH Berlin [...] sind herzlich eingeladen, ebenso wie alle anderen schreibfreudigen Bloggerinnen und Blogger.
Ihr dürft das Thema frei interpretieren – als Gedicht, Kurzgeschichte, Collage u.a. Aber es gibt eine kreative Herausforderung (contrainte): Es sollen nur Wörter verwendet werden, die ein „a“ enthalten („ä“ gilt auch).
Die „contrainte“ ist eine kreative Methode aus der „Werkstatt für Potentielle Literatur“ OuLiPo (L‘Ouvroir de Littérature Potentielle). Durch die selbstauferlegten formalen oder inhaltlichen Textbildungsregelungen sollen die verborgenen Potentiale der Sprache entdeckt werden.
Die Blogparade startet ab sofort und endet am 30. April 2018. Schreibt einfach den Link zu eurem April-Blogbeitrag unten in den Kommentar. Los geht’s und viel Spaß!“ Hier geht es zum Blog.


9. April 2018

50 Jahre danach

Ulrike Meinhof zum Anschlag auf Rudi Dutschke Ostern 1968

In der Zeitschrift konkret (Hg. Damals Klaus Rainer Röhl) erschien in der Nr. 5/1968 der im Folgenden dokumentierte Text von Ulrike Meinhof, in dem es um die Macht der Medien geht. Ich möchte ihn zum Lesen und Reflektieren empfehlen, zum Einen, weil das Attentat in diesen Tagen genau 50 Jahre her ist, zum Anderen, weil die aktuellen Medienberichte dazu fast alle dasselbe tun, wie es Ulrike Meinhof analysiert hat: verschleiern, Heuchlern nach dem Mund reden, Aktion und Reaktion verwechseln.
Auch kann dieser Text Anlass sein, sich (autobiografisch schreibend) zu erinnern – an das eigene Leben 1968, an die Auswirkungen der Protestbewegungen auf die Gesellschaft, in der man selbst lebte und sich entwickelte.

Vom Protest zum Widerstand
»Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle andern auch nicht mehr mitmachen.« So ähnlich – nicht wörtlich – konnte man es von einem Schwarzen der Black-Power-Bewegung auf der Vietnamkonferenz im Februar in Berlin hören.
Die Studenten proben keinen Aufstand, sie üben Widerstand. Steine sind geflogen, die Fensterscheiben vom Springerhochhaus in Berlin sind zu Bruch gegangen, Autos haben gebrannt, Wasserwerfer sind besetzt worden, eine BILD-Redaktion ist demoliert worden, Reifen sind zerstochen worden, der Verkehr ist stillgelegt worden, Bauwagen wurden umgeworfen, Polizeiketten durchbrochen - Gewalt, physische Gewalt wurde angewendet. Die Auslieferung der Springerpresse konnte trotzdem nicht verhindert werden, die Ordnung im Straßenverkehr war immer nur für Stunden unterbrochen. Die Fensterscheiben wird die Versicherung bezahlen. An Stelle der ausgebrannten Lastautos werden neue ausfahren, der Wasserwerferbestand der Polizei wurde nicht verkleinert, an Gummiknüppeln wird es auch in Zukunft nicht fehlen. Also wird das, was passiert ist, sich wiederholen können: Die Springerpresse wird weiter hetzen können, und Klaus Schütz wird auch in Zukunft dazu auffordern können, »diesen Typen ins Gesicht zu sehen« und die Schlußfolgerung nahelegen, ihnen reinzuschlagen – was am 21. Februar bereits geschehen ist –‚ schließlich zu schießen.
Die Grenze zwischen verbalem Protest und physischem Widerstand ist bei den Protesten gegen den Anschlag auf Rudi Dutschke in den Osterfeiertagen erstmalig massenhaft, von vielen, nicht nur einzelnen, über Tage hin, nicht nur einmalig, vielerorts, nicht nur in Berlin, tatsächlich, nicht nur symbolisch - überschritten worden. Nach dem 2. Juni wurden Springerzeitungen nur verbrannt, jetzt wurde die Blockierung ihrer Auslieferung versucht. Am 2. Juni flogen nur Tomaten und Eier, jetzt flogen Steine. Im Februar wurde nur ein mehr amüsanter und lustiger Film über die Verfertigung von Molotowcocktails gezeigt, jetzt hat es tatsächlich gebrannt. Die Grenze zwischen Protest und Widerstand wurde überschritten, dennoch nicht effektiv, dennoch wird sich das, was passiert ist, wiederholen können; Machtverhältnisse sind nicht verändert worden. Widerstand wurde geübt. Machtpositionen wurden nicht besetzt. War das alles deshalb sinnlose, ausufernde, terroristische, unpolitische, ohnmächtige Gewalt?
Stellen wir fest: Diejenigen, die von politischen Machtpositionen aus Steinwürfe und Brandstiftung hier verurteilen, nicht aber die Hetze des Hauses Springer, nicht die Bomben auf Vietnam, nicht Terror in Persien, nicht Folter in Südafrika, diejenigen, die die Enteignung Springers tatsächlich betreiben könnten, stattdessen Große Koalition machen, die in den Massenmedien die Wahrheit über BILD und BZ verbreiten könnten, stattdessen Halbwahrheiten über die Studenten verbreiten, deren Engagement für Gewaltlosigkeit ist heuchlerisch, sie messen mit zweierlei Maß, sie wollen genau das, was wir, die wir in diesen Tagen - mit und ohne Steinen in unseren Taschen - auf die Straße gingen, nicht wollen: Politik als Schicksal, entmündigte Massen, eine ohnmächtige, nichts und niemanden störende Opposition, demokratische Sandkastenspiele, wenn es ernst wird den Notstand. - Johnson, der Martin Luther King zum Nationalhelden erklärt, Kiesinger, der den Mordversuch an Dutschke telegrafisch bedauert - sie sind die Repräsentanten der Gewalt, gegen die King wie Dutschke angetreten sind, der Gewalt des Systems, das Springer hervorgebracht hat und den Vietnam-Krieg, ihnen fehlt beides: Die politische und die moralische Legitimation, gegen den Widerstandswillen der Studenten Einspruch zu erheben.
Stellen wir fest: Es ist dokumentiert worden, daß hier nicht einfach einer über den Haufen geschossen werden kann, daß der Protest der Intellektuellen gegen die Massenverblödung durch das Haus Springer ernst gemeint ist, daß er nicht für den lieben Gott bestimmt ist und nicht für später, um einmal sagen zu können, man sei schon immer dagegen gewesen, es ist dokumentiert worden, daß Sitte & Anstand Fesseln sind, die durchbrochen werden können, wenn auf den so Gefesselten eingedroschen und geschossen wird. Es ist dokumentiert worden, daß es in diesem Land noch Leute gibt, die Terror und Gewalt nicht nur verurteilen und heimlich dagegen sind und auch mal was riskieren und den Mund nicht halten können und sich nicht bange machen lassen, sondern daß es Leute gibt, die bereit und fähig sind, Widerstand zu leisten, so daß begriffen werden kann, daß es so nicht weiter geht. Es ist gezeigt worden, daß Mordhetze und Mord die öffentliche Ruhe und Ordnung stören, daß es eine Offentlichkeit gibt, die sich das nicht bieten läßt. Daß ein Menschenleben eine andere Qualität ist als Fensterscheiben, Springer-LKWs und Demonstranten-Autös, die bei der Auslieferungsblockade vor dem Springerhochhaus in Berlin von der Polizei in Akten blanker Willkür umgeworfen und beschädigt wurden. Daß es eine Offentlichkeit gibt, die entschlossen ist, das Unerträgliche nicht nur unerträglich zu nennen, sondern dagegen einzuschreiten, Springer und seine Helfershelfer zu entwaffnen.
Nun, nachdem gezeigt worden ist, daß andere Mittel als nur Demonstrationen, Springer-Hearing, Protestveranstaltungen zur Verfügung stehen, andere als die, die versagt haben, weil sie den Anschlag auf Rudi Dutschke nicht verhindern konnten, nun, da die Fesseln von Sitte & Anstand gesprengt worden sind, kann und muß neu und von vorne über Gewalt und Gegengewalt diskutiert werden. Gegengewalt, wie sie in diesen Ostertagen praktiziert worden ist, ist nicht geeignet, Sympathien zu wecken, nicht, erschrockene Liberale auf die Seite der Außerparlamentarischen Opposition zu ziehen. Gegengewalt läuft Gefahr, zu Gewalt zu werden, wo die Brutalität der Polizei das Gesetz des Handelns bestimmt, wo ohnmächtige Wut überlegene Rationalität ablöst, wo der paramilitärische Einsatz der Polizei mit paramilitärischen Mitteln beantwortet wird. Das Establishment aber, die »Herren an der Spitze« - um mit Rudi zu reden -‚ in den Parteien, Regierungen und Verbänden haben zu begreifen, daß es nur ein Mittel gibt, »Ruhe & Ordnung« dauerhaft herzustellen: Die Enteignung Springers. Der Spaß hat aufgehört. »Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht.«


2. April 2018

Rausgehen ...

... auf die Ohrenweide

Nimm Stift und Block und geh. Raus aus dem Haus. In den Garten, in den Wald, an den See. Am Sonntagmorgen saß eine Schar winziger Vögel in unserer Birke – sie waren so hoch über mir, ich konnte nicht erkennen, ob es Meisen oder Spatzen waren oder ... Ich konnte auch nicht beschreiben, fand keine Worte für das Gepiepse, das vielstimmige Gepiepse, was aus der Birke zu mir herunterquoll und mich einhüllte. Es hörte sich irgendwie nach, ja, nun, was denn ... Frühling (?) an. Wir sind stark auf den Augensinn fokussiert, Farben und Formen zu benennen, genau zu beschreiben, fällt uns wenn nicht leicht, so doch deutlich weniger schwer, als Töne und Geräusche zu beschreiben. Zurzeit lässt sich das üben, da nach der Winterstille alle Töne und Geräusche so neu, so unerhört (!) wirken. Geh auf die Ohrenweide mit Stift und Block.
Und dann schreib vielleicht ein Gedicht. Ich sage jetzt mal: ein Konstellionsgedicht. Das geht so: Du suchst dir drei Wörter aus deinen Ohrenweidennotizen, ordnest sie nach dem nun folgenden Schema in sieben Zeilen an und findest eine die Konstellation bindende achte Zeile (das „und“ ist als reales Wort jeweils an den markierten Stellen einzufügen):

Schema für ein
Konstellationsgedicht (nach Eugen Gomringer)

Wort A
Wort A „und“ Wort B
Wort B
Wort B „und“ Wort C
Wort A
Wort A „und“ Wort C
Wort A „und“ Wort B „und“ Wort C „und“
frei zu gestaltende Zeile


26. März 2018

Mehr als Fassade

Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben

Die Alice Salomon Hochschule kennen jetzt alle, na ja, also ... viele, z. B. die, die FR, FAZ, DIE ZEIT, Blogs etc. lesen. Alle haben sich geäußert zum Beschluss, ein Gedicht von der Südfassade zu entfernen. Ich auch, nachzulesen in meinem Blog-Eintrag vom 5. Februar 2018.
Diese Hochschule ist mehr als Fassade, sie bietet qualitativ hochwertige Studiengänge, znetral ist die Soziale Arbeit. Ergänzt werden grundständige Studiengänge durch konsekutive und Weiterbildungsmasterstudiengänge – einer davon ist meiner ... also, nein, nicht im Besitzen-Sinne, sondern meiner im Sinne von: Ich bin eine der rund 20 Lehrenden am Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben, den es seit knapp zwölf Jahren gibt. Ich bin von Beginn an als Dozentin für die explizit pädagogischen Fächer Schreibgruppenpädagogik und -dynamik sowie für die Begleitung der Versuche in der Praxis zuständig.
Im Oktober soll der 13. Jahrgang starten. Die Bewerbungsfrist läuft am 30. Juni aus. Nähere Infos gibt es hier.
Der Studiengang ist der einzige seiner Art im deutschsprachigen Raum. Er hat nicht den Anspruch, AutorInnen auszubilden, sondern den, Menschen zu befähigen, Schreibgruppen zu leiten und (individuelle) Schreibprozesse (biografische, literarische, wissenschaftliche und jourmalistische) zu begleiten. Wenn er nicht (u. a. von Lutz von Werder) erfunden worden wäre, müsste das unbedingt nachgeholt werden!


19. März 2018

études

Fingerübungen à la Friederike Mayröcker

In meinen Schreibwerkstätten gehört zum festen Repertoire die Kopie eines Schreibstils, der Textmuster eines Textes einer bekannten Autorin, eines bekannten Autos. Beim Nachahmen, als bei der Kopie des Stils, der Muster, muss ich weggehen von dem, was ich sonst immer tue, muss meinen Inhalt eine andere Form geben – und über dabei bestimmte Stilelemente und Textmuster. Hier möchte ich ein Beispiel aus meiner eigenen Feder dokumentieren, bei dem ich mich der Nachahmung eines sehr speziellen Textes von Friederike Mayröcker gestellt habe.

27. 3. 11
dieses Vöglein Vögelchen mit der Trompete nämlich im Regenschauer des Morgens wehe mein Herz wie Tränen am Fenster Perlen April usw., trippele durch die Träume, Sufistimme Satie, kretische Steine auf meinem Herzen wie ich erkenne Weide Flüsse und Wälder damals im Brausen und Hand in Hand, die weiszen Füsze des Kranichs das Blättchen Entzündung der Rose, die errötende Blume und wie sie ins Herz gelodert, bin eingesponnen in Forste Fittiche Fingerchen, hatte geküszt 1 grüne Blättchen hinter Parkgitter Heidelerche Wildtaube Zeisig in meiner Einfalt. Auf blauen Stoffgürtel tretend mein Gotteshirn – hatte zu Hase geflüstert LAPIN oder zerknalltes Kaninchen, solche Vöglein Vögelchen glucksend (aus der Erde guckend) oder wenn diese Romi entlangschläft entlangschleift mich meine deren Schatten mir auftaucht, wie’s windet ........ die Thaya nämlich war vorübergewischt hatte genäselt im Flur usw., ausgeblasenes Föhnchen wie’s mundet. (aus: Friederike Mayröcker: études, 2013, S. 20)

8. 3. 18, Sylt
tote Fliege im Kirschsaft, nämlich identitätsstiftendes Anhängsel wie gestern, und immer so viel Himmel, die Freiheit zur Kür usw., im Lazarett gestanden, Luisas Stimme ein Reim ist ein Keim, lass sie doch mit ihrem Tee und ob hier das Und oder das Aber gilt, Kobra Hund Adler am Spülsaum Mörderwellenzungen, das wollige Gelb am Tunnelausgang, Rosen und ihre Klischees zerkratzen Beine, im Land der Lächelnden der Süden eine 5, die 6 eine perfekte Vibrationszahl, zur Stille geworden, bin gefangen hinter meiner Stirn mit Möwen, Mobiles, Mimosen, im besten Fall im Labyrinth, hätte parliert mit Fried, Krishnamurti, Simone, Hannah, Rosa, Xanthippe. Herzenspochen Herz gesprochen, wie heißt der Sog, Beklemmung ob der Weite, bin chinesische oder 12-Ton-Melodie plötzlich am Mittag, Wutwind, Wahrheitswirbel, zerstäubtes Blütchen, Blütlein gelb vom Ginster, finster (Silberfäden aus der Erde ziehend), eingepfercht in Kategorien, bestimmt entstimmt, über all dem Falb, unter all dem Blau über dem Nebel, wie es, er, treibt nagt zerrt beißt zermürbt. Der Tunnelmolch, die Amöbe, entwischt heute früh, nichts kommt mir entgegen, acht Wörter auf der Zunge, ohne Mütze, und Hinkekästchen mit Glückskeks.


12. März 2018

Schreiben muss sein –

das ist die Übung

„Aber Schreiben muss sein, das ist die Übung. [...] Schreiben bis zum Schmerz und hindurch.“
Ich war auf Sylt, eine Woche Meer schreiben, mit zwölf Teilnehmenden, einer davon war Friedrich Wiest. Wenn in einer Vorleserunde mich Sätze berühren, notiere ich sie. Friedrichs Satz hat mich berührt, erfasst, ich habe genickt und mir gewünscht, es wäre so, immer, bei mir, bei meinen SchreibschülerInnen. Noch einmal: „Aber Schreiben muss sein, das ist die Übung. [...] Schreiben bis zum Schmerz und hindurch.“ Wie wahr, wie schön, wie – ach ...


5. März 2018

Stilkopie

Einen Schreib-Stil nachahmen

Mehrmals schon habe ich in diesem Blog angeregt, sich von der Form eines Gedichts, vom Stil eines Textes inspirieren zu lassen, indem er mit eigenem Inhalt nachgeahmt wird. Darum soll es auch hier wieder gehen. Und darum, das Buch zu empfehlen.
Zuerst zur Schreibaufgabe: Versuch, beim Lesen zu erfassen, wie der Text (der übrigens u. a. auf den Satz von Gertrude Stein „eine Rose ist eine Rose ist eine Rose is ...“ anspielt) funktioniert, mit welchen Stilmitteln er arbeitet. Dann nutz die Anaylseergebnisse für einen eigenen Text im gleichen Stil.

unmöglich (hommage an gertrude stein)
es ist vollkommen unmöglich über den mond zu schreiben. der mond gehört den vampiren den fledermäusen den dieben der angst. außerdem gehört er den entflammten den getrennten den reisenden den schwülstigen schließlich einigen sehr schönen volksliedern. und wegen all dieses gehörens des mondes ist es natürlich vollkommen unmöglich über den mond zu schreiben. denn wegen all dieses gehörens des mondes gibt es natürlich überhaupt nichts mehr über den mond zu sagen das nicht ein diebstahl wäre was aber vollkommen unmöglich ist denn der mond ist vollkommen unstehlbar weswegen auch alles was über ihn zu sagen ist vollkommen unstehlbar ist. und ganz und gar genauso verhält sich all das auch mit der liebe.

In Wirklichkeit ist der Text genau zehn Zeilen lang wie auch alle anderen Texte in diesem inhaltlich berührenden und immer wieder sprachlich überraschenden sowie so überaus ansprechend gestalteten Büchlein:
Quelle: Mohafez, Sudabeh (2015): das zehnzeilenbuch. Dresden: edition AZUR: S. 17


26. Februar 2018

Freewriting mit Essenz 2

Schreib-Seriensprint

Anknüpfend an das Verfahren der Schreibstaffel, die ich im Blog-Eintrag vom 15. 1. 2018 beschrieben und zum Ausprobieren empfohlen habe, stelle ich heute das Verfahren Seriensprint vor, das ich ebenfalls bei Ulrike Scheuermann gefunden habe. Es dient ebenso dem Zweck, sich selbst oder einem zu bearbeitenden Thema auf die Spur zu kommen, und basiert auf der Methode Freewriting.
Das Verfahren: Nimm dir eine Stunde Zeit. Mach ein zehnminütiges Freewriting zu deinem Thema, deiner Frage. Lies dir das Geschriebene durch und finde eine Essenz. Eine Essenz kann a) der wichtigste Satz des Geschriebenen, b) eine Zusammenfassung, c) die Kurzfassung eines Aspekts oder d) etwas noch Anderes sein. Einfach das Wichtigste für dich in einem Satz aufschreiben, unter das im Freewriting Geschriebene, vielleicht in einer anderen Farbe. Dann nimm diesen Satz als Impuls für ein neues Freewriting von zehn Minuten. Dann nimm abermals dieselbe Essenz für das nächste Freewriting von zehn Minuten. Mach das dann noch (mindestens) zweimal.
Vorletzte Woche habe ich das Verfahren Schreibstaffel zum ersten Mal in einer meiner Schreibgruppen ausprobiert. Das Gruppengespräch im Nachgang war überaus interessant. Folgende Erfahrungen und Wirkungen wurden beschrieben. Das erste Drittel der Gruppe beschrieb: Das Verfahren führe in eine Verlangsamung und nach und nach mit jedem neuerlichen Ansetzen weg vom Flow (des Freewritings) hin zu mehr Denken und Überprüfen des vorher Geschriebenen. Das zweite Drittel beschrieb: Das Verfahren führe zum Überwinden des Zensors, es wirke wie ein Werkzeug, um sich anders zu begegnen, und erlaube, immer mehr in die Tiefe zu gehen, sodass es sich irgendwann anfühle, als ob etwas und nicht mehr man selbst schreibe. Das dritte Drittel beschrieb: Das Verfahren erzeuge Varianten und entlaste dadurch PerfektionistInnen-Hirne und -Herzen. Die Quintessenz: mehr davon!

Quelle: Scheuermann, Ulrike (2016): Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkszeug nutzen und vermitteln, 3. Auflage. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich


19. Februar 2018

#MeToo

Eine notwendige Debatte

#MeToo ist in aller Munde – iih, ein bisschen eklig, diese Vorstellung. Okay, noch mal: Zu #MeToo äußern sich alle. Und wie bei der Gomringer-Gedicht-Sache verwechseln viele das Eigene, das Private, das selbst Erfahrene und auch Visionen mit dem, was gesellschaftlich notwendig an dieser Debatte ist. Es ist schön, dass viele Frauen noch nie genötigt wurden, es ist schön, dass viele Frauen noch nie sexuell missbraucht wurden – aber diese Tatsache erübrigt nicht eine Debatte über gesellschaftliche Machtverhältnisse, die es ermöglichen, dass so etwas geschieht und nicht geahndet wird! Oder wie Heike Makatsch es in einem Interview zur Debatte sagte: „[...] es geht um Machtmissbrauch. Und darum, die Augen darauf zu richten, dass Frauen gleichberechtigt sein müssen, gleich wichtig, gleich bezahlt, gleich angesehen. Dass ökonomische Strukturen verändert werden müssen, in denen mit abhängigen Menschen unmenschlich umgegangen werden kann. [...]“ (Süddeutsche Zeitung 15. 2. 2018, S. 8).
Zur #MeToo-Debatte empfehle ich den Blog-Beitrag meiner Kollegin Hanne Landeck zu lesen, in dem es um Machtverhältnisse im öffentlich-rechtlichen Rundfunk geht und wie patriarchalisch sie sind: #MeToo – Aus dem Nähkästchen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks/ (abrufbar hier).
Nicht empfehle ich, die Kolumnen des Harald Martenstein im ZEIT-MAGAZIN zu lesen (einfach zu oft sind sie undifferenziert und verschleiern das hinter der Satire stehende Interesse). Er versäumt wie die meisten vom Stammtisch bis in die Vorstandsetagen, zwischen individuellen Verhältnissen sowie institutionellen und gesellschaftlichen (Macht-)Strukturen zu unterschieden. Wenn er dem Schauspieler Matt Damon Mut attestiert, etwas Unbequemes zu sagen, das in der #MeToo-Debatte nicht PC erscheint, ihn bedauert und verteidigt – und was wird da mutig genannt? Damon soll gesagt haben, dass es ein Unterschied sei, ob man „jemandem einen Klaps auf den Hintern gibt oder eine Vergewaltigung begeht“ (ZEIT-MAGAZIN Nr. 7, 8. 2. 2018, S. 16). Äh, ja klar, aber ... Erstens kann ich an dieser Äußerung nichts mutig finden. Zweitens ist das Klima, in dem jemand (welches Geschlecht dieser Jemand wohl hat und in welcher Machtposition dieser Jemand wohl zu dem anderen Jemand steht?!) einem anderen Jemand (dito) einen Klaps auf den Hintern geben kann, ohne dass die Berechtigung infrage gestellt wird, genau das Klima, in dem die Grenzen hin zu massiveren Übergriffen (denn das ist ein Klaps auf den Hintern auch, außer er wurde vorher unter gleichwertigen PartnerInnen vereinbart) sich legitimiert verschieben. Herr Martenstein hat an dieser Stelle nicht weit oder tief genug gedacht und fördert so leider das eben beschriebene Klima – auch wenn er wahrscheinlich etwas Anderes bezweckt hat.
Was ich sagen will: Es geht nicht um ein Denk- oder Sprechverbot, nicht um Zweifel an Auswüchsen von Debatten, sondern darum, dass es gut ist, wenn ein Matt Damon für diese seine Äußerung nicht nur gestreichelt wird – denn sie IST UNSÄGLICH!


12. Februar 2018

Meine Herren

(K)eine Satire (eine wahre Geschichte)

Die Szenerie:
Januar 2018, eine westdeutsche Metropole, ein Opernhaus, eine Orchesterprobe, ein Orchester mit 70 MusikerInnen, etwa 30 Frauen und 40 Männer, ein 35-jähriger südeuropäischer Gastdirigent.
Die Geschichte:
Giulio Antinori (so nenne ich ihn einmal), der Dirigent, kommt herein, klopft mit dem Taktstock aufs Pult: „Meine Herren, guten Morgen, bitte den Tristan, zweiter Akt.“
Das Orchester beginnt zu spielen. Gesa (so nenne ich sie einmal), Oboistin, zögert ... – ,meine Herren’, wieso soll sie bei der Aufforderung spielen? Kommt der damit woanders durch? –, dann spielt sie doch.
„Nein, meine Herren, so geht das nicht, bitte die Dynamik im Blech, die Striche in den Bratschen, noch einmal ab Takt 17.“
Gesa kann es nicht glauben. Sie weiß, dass sie als die Emanze des Orchesters gilt, sie hat den Ruf doch eh weg, also kann sie auch ... Doch sie spielt. Sie ist müde, sie ist es so leid, immer wieder dieses Kämpfen ... Sie verweigert nicht das Spielen, sie steht nicht auf, sie sagt nichts. Nicht in der Probe.
Nach der Probe fragt sie ihre Kollegin Gudrun, ob sie das nicht stört mit der Anrede. „Ach, der ist doch Italiener“, sagt diese und grinst. Sie fragt eine Geigerin. „Was du dich auch immer gleich so aufregen musst. Das ist doch nun wirklich nicht schlimm“, sagt diese und wendet sich ab.
Am nächsten Tag bittet Gesa Giulio Antinori um ein kurzes Gespräch vor der Probe. Sie bittet ihn, auch die Frauen anzusprechen. Er entschuldigt sich sofort, erzählt, dass er auch in Turin bereits darauf angesprochen worden ist, Signore e Signori zu sagen.
„Meine Damen, meine Herren, heute noch einmal Tristan und Isolde.“ Giulio Antinori hebt seinen Taktstock.
Gemurmel, Getuschel, wer hat denn da wohl was gesagt? Alle wissen es sofort und drehen sich zu Gesa. Sie steht lächelnd auf, verbeugt sich mit großer Geste. Ist der Ruf erst ruiniert ..., denkt sie, aber es hat sich doch gelohnt.


5. Februar 2018

Das Gomringer-Gedicht und mein Unbehagen

Oder: Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar (Ingeborg Bachmann)

Warum fiel es mir so schwer mich zu positionieren, wo sich in Windeseile alle Welt privat und in den Medien positionierte? Wovor hatte ich Angst? Ich habe doch sofort den AStA-Brief befürwortet, ich habe einen Offenen Brief ans PEN-Zentrum mit unterzeichnet, also habe ich doch eine Meinung, oder? Was lässt mich erschreckt zusammenfahren, wenn Menschen, mit denen ich mich verbunden fühle, die Gedicht-Entfernungs-Sache mit Bücherverbrennungen in Verbindung bringen, was, wenn sie die Erotik im öffentlichen, ach so aufgeklärten, frauenfreundlichen westeuropäischen Raum auf der Strecke bleiben sehen, was, wenn sie die Freiheit der Kunst (was auch immer das nun sein soll oder warum Altlinke nun plötzlich solch einen liberalistischen Begriff benutzen) an Gebäuden und überhaupt gefährdet sehen? Was hält mich davon ab, sofort zu sagen, natürlich ist das Gedicht sexistisch, aber ja, es fixiert überkommene Frauenbilder? Frauen schenkt man Blumen, Männer schenkt man Whiskey – und wenn ich Whiskey will ... Alleen/Blumen/Männer/eine Bewunderin – ähhh ...

Worum es hier geht:
Das Gedicht (deutsche Übersetzung)
Alleen
Alleen und Blumen
Blumen
Blumen und Frauen
Alleen
Alleen und Frauen
Alleen und Blumen und Frauen und
ein Bewunderer

Der Akademische Senat der Alice Salomon Hochschule, an der ich seit 2007 Schreibgruppenpädagogik und Schreibgruppendynamik am Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben unterrichte, hat Ende Januar beschlossen, das Gedicht von Eugen Gomringer, das seit einigen Jahren die Südfassade der Hochschule dominiert, zu übermalen. Zum langen demokratischen Prozess in der Hochschule empfehle ich, den Blog-Eintrag meiner (in den Prozess involvierten) Kollegin Nadja Damm (avenidas ahoi!) zu lesen (abrufbar hier).

Worum es nicht geht:
Es geht hier nicht und mir sowieso nicht um Eugen Gomringer, den ich als einen der Väter/Mütter der Konkreten Poesie überaus wertschätze, der den Poetikpreis der Alice Salomon Hochschule unbedingt verdient hat und dessen Gedichte (insbesondere das von ihm als Form erfundene Konstellationsgedicht) ich seit Jahren in meinen Schreibwerkstätten als wunderbare Formen vorschlage zu nutzen. Allerdings: Noch nie habe ich dieses Konstellationsgedicht benutzt, um das es hier geht – schon vor ca. einem Jahrzehnt, als ich es als Schreibpädagogin kennen und für meine Arbeit wertschätzen lernte, benutzte ich dieses mit der Alleen-Blumen-Frauen-Bewunderer-Konstellation nicht als Beispiel, sondern eigene. (Und dass Eugen Gomringer jetzt allerorten als armer alter Mann bedauert und ehrengerettet wird, weil er es nicht verdient habe, als Sexist dargestellt zu werden, ist albern – denn darum geht es wirklich überhaupt nicht in der Debatte! Und es ist doppelmoralisch, denn viele der selbst ernannten RetterInnen der Kultur oder des Poeten halten von der Konkreten Poesie genauso viel wie Rosamunde Pilcher-Fans von Arno Schmidt.)

Worum es geht, aber hier nicht:
Es geht um Demokratie-Prozesse. Dazu empfehle ich, die Kolumne von Stefanie Lohaus (Die Blumen von gestern) in der ZEIT-online zu lesen (abrufbar hier).
Tagelang habe ich mit mir gerungen, versucht mich zu drücken, mich vor mir selbst mit meinem (tatsächlich gerade) anstrengenden Leben zu entschuldigen, mich zu beruhigen mit dem Argument, ich müsse ja nicht zu allem, was irgendwie nach feministischer Positionierung ,schreit’, Stellung beziehen. Das Ringen, die Versuche zu entkommen – Fehlschläge. Und dann fand ich auch noch ein Zitat: „Flüstern Frauen nur bei verschlossenen Türen von Freiheit?“, schrieb die 1818 geborene Frauenrechtlerin Louise Otto-Peters irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts, also vor 150 Jahren. Alos ...

Hier bin ich:
Und sei es nur – wie ich immer voller Inbrunst verkünde, wenn mir FreundInnen von Scham ob des eigenen ohnmächtigen Schweigens in unsäglichen Situationen in der Straßenbahn, im Fitness-Studio, in der Schule oder in anderen (halb-)öffentlichen Räumen –, um eine ANDERE Position DANEBEN zu stellen, um nicht nichts zu sagen, um den Raum für das ganze bereits in der Welt Stehende kleiner zu machen, einfach weil das, was ich dazu zu sagen habe, auch Raum beansprucht.
Hier bin ich und ich beziehe Position. Ich beziehe eine Position aus zwei Perspektiven. Aus den beiden Perspektiven, die ich autobiografisch immer eingenommen habe und professionell auch einnehmen kann und will. Was auch bedeutet: Es wird kein Rundumschlag. (So bleibt z. B. die Frage nach dem Unterschied zwischen grammatischem und semantischem Geschlecht vorerst ausgespart.) Auch versuche ich, ohne diese gewaltige (gewalttätige) Sprache voller Machtanspruch auszukommen.
Die erste Perspektive ist die des Gender Mainstreaming und der feministischen Wissenschaftskritik; die zweite ist die der Sprache als mit der gesellschaftlichen Entwicklung dialektisch verbundenes Phänomen, als von Menschen, Weltbildern und Machtverhältnissen geformte und als Kraft, die wiederum diese mitzuformen vermag. Meine Position verbindet beide Perspektiven.

Gender Mainstreaming:
Wenn Frauen in einem Atemzug mit Alleen, Blumen und einem Bewunderer genannt werden, dann wird unterschieden zwischen Mann bzw. Frau als Subjekt bzw. Objekt, dann wird ein traditionelles Geschlechterbild manifestiert, dann werden Assoziationen wie Hinterherpfeifen, Anzüglichkeiten, Anmache, Übergriffe von Männern im öffentlichen und halböffentlichen (Arbeitsplatz) Raum angetriggert. Das ist eine Perspektive als davon betroffene Frau, die ich einnehme. Aus dieser Position heraus kritisiere ich das Gedicht als sprachliche Setzung, das Denken und Handeln beeinflusst. Natürlich kann man nicht sagen, dass, weil das Gedicht an der Wand steht, es am U-Bahnhof Hellersdorf besonders viele sexistische Übergriffe gibt – aber weil es sie dort immer wieder gibt, kann man die Interpretation des Gedichts als Manifestation eines bestimmten (sexistischen) Blicks auch nicht einfach als Emanzen-Spinnerei abtun.
Das Gedicht bedient auf der inhaltlichen Ebene objektiv eben tatsächlich ein Muster: das der sich als dual, aber asymmetrisch und als alles andere als gleichberechtigt oder gleichwertig gegenüberstehende und mit mannigfaltigen stereotypen Zuschreibungen bedachten Geschlechter Mann und Frau. Die Zwangs-Heterosexualität gehört ebenfalls zu diesem mächtigen Konstrukt. Ich kritisiere das Gedicht aus einer feministischen Perspektive heraus, die nicht jammert, sondern die fordert, dass in jedem Diskurs die Differenz zwischen den Lebenswelten von Frauen und Männern, die sich aus der machtvollen patriarchalen Strukturiertheit aller Gesellschaften weltweit seit jeher gebildet haben und eine grundsätzlich unterschiedliche Weltwahrnehmung zur Folge haben, mit gedacht wird. Geschlecht als die Wahrnehmungen, das Denken und Handeln wesentlich bestimmende Kategorie kann nicht, soll ernst zu nehmende Kritik betrieben werden, ignoriert werden. Genauso wenig wie die Tatsache, dass es einen Unterschied macht, ob ich als weiße Akademikerin auf die Welt (ob in Form eines Gedichts oder in Form eines deutschen Panzers) schaue oder als männlicher Kurde in Nordsyrien.
Angenommen, es ist müßig, über das biologische Geschlecht zu streiten (wobei die Forderungen nach Toiletten für Menschen, die sich nicht zuordnen können, weil sie inter- oder transsexuell oder queer sind, das infrage stellen), müßig ist es nicht, über Gender zu sprechen: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es“, schrieb vor über 70 Jahren Simone de Beauvoir in ihrem Buch Das andere Geschlecht und meinte damit das, was heute als Gender bezeichnet wird: die Geschlechtrollen als sozial konstruierte und kulturell überformte. Ein Buchtitel aus dem Jahr 1977 zeigt, wie die Beauvoir’sche Erkenntnis sich im Zuge der erstarkenden Frauenbewegung u. a. in der Sozialpädagogik durchsetzt: Ursula Scheu veröffentlichte Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht. Zur frühkindlichen Erziehung in unserer Gesellschaft.
Gender Mainstreaming in Wissenschaft und Forschung sowie in gesellschaftlichen Debatten meint, die Tatsache immer mit einbeziehen zu müssen, dass das, was wir als weiblich oder männlich bezeichnen, dass wie wir als Frauen und Männer (oder als was auch immer) leben, nicht geschlechtsneutral sein kann. Den Blick dafür zu schärfen, die Differenz in den Blick hineinzunehmen, sich der eigenen Blickprägungen vorurteilsbewusst zu nähern und immer aus dem Wissen um diesen nicht neutralen Blick die Verhältnisse zu kritisieren, die Kategorie Gender also immer mitzudenken und damit „alles Vertraute auf seine unausgesprochenen Ausschlüsse hin zu prüfen“ (Gesine Kleinschmit und Elisabeth Lockhart in Lockhart et al. 2000: 54) – das ist unumgänglich! Und wenn wir uns dieser geschlechts- oder gendersensiblen Betrachtungs- und Herangehensweise aussetzen, dann ist darin eben auch die Möglichkeit enthalten, die Konstruktionen, die Frauen wie Männer und alle anderen auch festschreiben und einengen, zu dekonstruieren.

Sprache als Konstrukteurin:
„Wer die öffentlichen Zustände ändern will, muss zuerst bei der Sprache anfangen“, sagte der chinesische Philosoph Konfuzius vor 2.500 Jahren (zit. nach Frauen- und Gleichstellungsbüro 2012: o. S.). Sprache verändert sich, Gesellschaft verändert sich, in jeder Gesellschaft hat die sprachliche Selbstbezeichnung auch mit Identität zu tun. Mit Sprache, mit Begriffen sagen wir etwas darüber, wie wir die Welt begreifen und verstehen, und wir sagen mit den Begrifflichkeiten etwas über uns als Begreifende und Einordnende. Deshalb kann Sprache nicht geschlechtsneutral sein. Sprache in Gedichten kann nicht geschlechtsneutral sein. Und wenn Neutralität gar nicht das Ziel ist, also umgekehrt gedacht wird: Sprache ist immer auch davon geprägt, wie die Kategorie Gender sich in ihr niedergeschlagen hat oder wie sie sich im Akt des die Sprache Benutzenden niederschlägt.
Sprache ist also auch immer etwas, das historische Gegebenheiten abbildet. Das Gedicht ist Anfang der 1950er Jahre entstanden, da durften Frauen noch kein eigenes Konto eröffnen und nicht ohne die Erlaubnis ihres Ehemannes arbeiten – vor diesem Hintergrund kann man es auch interpretieren, aber wenn eine Hochschule im 21. Jahrhundert mit einem Gedicht öffentlich auftritt, dann sind andere Interpretationsebenen zusätzlich zu berücksichtigen.
Eine Hochschule als akadenische und wesentlich durch Sprache sich zeigende und konstituierende Institution kann vor der Tatsache, dass Sprache Spiegel und Visitenkarte ist, nicht die Augen verschließen. Spannend in diesem Zusammenhang sind die Entscheidungen der Universitäten Leipzig und Potsdam (seit 2013) sowie der Humboldt-Universität Berlin (seit 2014), in ihren amtlichen Verlautbarungen das generische Femininum zu benutzen (vgl. Pusch 2015). Erwähnenswert ist auch die Liste bei facebook, die rund 60 Bezeichnungen zur Selbstdarstellung im Kontext Gender anbietet (abrufbar hier).
Und wenn eine Hochschule als öffentliche Institution, in der junge Menschen (vor allem zu SozialpädagogInnen) ausgebildet werden, sich nicht scheut, eine Position einzunehmen, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Sprache ein geprägtes System ist, das wiederum Gesellschaft prägt, und sich selbstkritisch zu einer eigenen öffentlichen Verlautbarung an exponierter Stelle der eigenen Institution verhält, dann zolle zumindest ich ihr Respekt. Das Auf-sie-Einprügeln hat sie an diesem Punkt ganz und gar nicht verdient.
(Ganz am Rande bemerkt: Genderkompetenz gilt als Schlüsselqualifikation, die Hochschullehrende sich aneignen und weitervermitteln sollen, seit der Bologna-Reform des Hochschulwesens seit Anfang des 21. Jahrhunderts.)

Das Schlimmste ist für mich:
Selbst wenn Menschen eine andere als eine explizit feministische Position haben, ist es überaus schmerzhaft (und zeigt die Notwendigkeit der feministischen Perspektive und die Notwendigkeit des Daneben-Stellens allerorten), dass die Positionen, die auch nur andeutungsweise die weltweite Situation von Frauen als Gender, als „das andere Geschlecht“, über das sich der Mann, immer noch in jeder Hinsicht erhebt, mit Begriffen wie „hochgezogen“, „übertrieben“, „aus der Luft gegriffen“, „political correctness“, „dogmatische Gesinnungen“ oder gar „Terror“ einfach weggebügelt werden. Man(n) und frau muss sie nicht teilen – aber ihnen auf diese Weise(n) die Existenzberechtigung abzusprechen, ist perfide und unzumutbar und traurig und frustrierend und immer wieder konsequent anzuprangern! Der Wunsch nach Räumen, in denen anders – und das bedeutet keineswegs ausschließlich kuschelnd und konfliktscheu – miteinander kommuniziert wird (Frauenräumen?), ist stärker denn je!

Das Wichtigste für mich:
Vielleicht habe ich gezögert, mich zu positionieren, weil ich länger brauche. Länger als die, die immer schon wissen, wie alles läuft und was alles zu bedeuten hat. Vielleicht aber habe ich auch so lange gezögert, weil ich erst einmal verstehen, wiedererkennen musste, was das Wichtigste ist: nicht, dass wir alle dieselbe Position haben, nicht, dass alle immer (m)einer Meinung sind, nicht, dass es nicht wichtig ist, dass Kunst provoziert oder aufrüttelt oder die Welt infrage stellt – nein, das Wichtigste ist, dass ich Positionen nur gelten lassen kann, wenn die dahinter stehenden Interessen und der eigene (Erfahrungs-, Denk- und Wissenschafts-) Standort transparent gemacht werden. Meinen Standort habe ich transparent gemacht. Mein Interesse: Ich werde nicht aufhören, für eine Welt mich einzusetzen, in der Frauen nicht mehr diskriminiert und unterdrückt werden, weil sie zum ,anderen’ Geschlecht gehören, und in der Menschen nicht mehr auf eine seit Jahrtausenden festgeschriebene Zwangszweigeschlechtlichkeit reduziert werden und in der für alle eine möglichst umfassende Freiheit von und Freiheit für gegeben ist. Und dafür hat es sich ganz und gar nicht ausgegendert –weder auf der individuellen Ebene in meinem privaten Umfeld, noch auf der institutionellen Ebene in ,meiner’ Hochschule, noch auf der gesamtgesellschaftlich-kulturellen Ebene (vgl. hierzu Horst 2017)!

Zum Schluss noch eine Idee:
Eine Idee, erwachsen in meinen Träumen in den letzten Tagen, in denen das ganze Getöse mit in mein Bett kam (ich konnte mich nicht erwehren): Wie wäre es mit einer offenen Schreibwerkstatt, in der Konstellationsgedichte gedichtet werden, Antworten auf das Gomringer-Gedicht, die dann alle auf die Pflastersteine vor der Alice Salomon Hochschule gesprüht werden. Der Studiengang, zu dem ich als Dozentin gehöre (Biografisches und Kreatives Schreiben), könnte dafür die Schirmherrschaft und Verantwortung übernehmen.

Quellen und Weiterlesen:
Beauvoir, Simone de (1980, Original: 1949): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek: Rowohlt
Frauen- und Gleichstellungsbüro der Leuphana Universität Lüneburg (2012): Leitfaden: Gendergerechte Sprache an der Leuphana. Abrufbar hier.
Horst, Claire (2017): Alle Geschichten (er)zählen – Aktivierendes und kreatives Schreiben gegen Diskriminierung. Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich
Lockhart, Elisabeth / Nazarkiewicz, Kirsten / Sieger, Elke (Hg.) (2000): Feministische Wissenschaftskritik. Die Methode ist die Gretchenfrage. Frankfurt/Main: Mitteilungen des Zentrums für Frauenstudien und die Erforschung der Geschlechterverhältnisse Johann Wolfgang Goethe-Universität
Meininger, André / Baumann, Antje (2017): Die Teufelin steckt im Detail. Zur Debatte um Sprache und Gender. Berlin: Kulturverlag Kadmos
Pusch, Luise (2015): Liebe PCs! Wie denn nun? Generisches Femininum, Binnen-I, Unterstrich oder Genderstern? In: EMMA Nr. 1 (318) Januar/Februar 2015: 74–75
Scheu, Ursula (1977): Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht. Zur frühkindlichen Erziehung in unserer Gesellschaft. Frankfurt/Main: Fischer


29. Januar 2018

Quo vadis?

Nordhessischer Autorenpreis

Es ist vorbei – für mich ist es vorbei. Ich will aus der allerallervordersten Reihe des Nordhessischen Autorenpreises zurücktreten. Platz machen. Mit einem lachenden Auge mache ich Platz, weil dieses lachende Auge auf drei (wissenschaftliche) Buchprojekte schaut, die da gären und realisiert werden wollen. Mit einem weinenden Auge mache ich Platz, weil dieses weinende Auge auf etwas schauen wird, was dann nicht mehr meins ist, was Andere ganz anders machen werden. Das kann ich schwer aushalten. Da muss ich wirklich ganz wegschauen. Und erst ganz am Ende, wenn es um den Verlag geht, vorsichtig auf das Neue, das von Anderen in die Wege geleitete Neue schauen.
Jedenfalls: Damit der Nordhessische Autorenpreis, zuvorderst erst einmal die Anthologie aus dem Wettbewerb AN DER GRENZE, weiterleben kann, gibt es ein Interesssiertentreffen. Meine Vorstandskollegin Jana Ißleib und ich laden ein zur

Gründung einer Anthologie-Arbeitsgemeinschaft
am Dienstag, 6. Februar 2018
um 18 Uhr
in die Werkstatt Kassel (Friedrich-Ebert-Straße 175)


22. Januar 2018

Anfänge schreiben

9. Kasseler Schreibcafé am 25. Januar

„Anfänge“ sind das Thema des 9. Kasseler Schreibcafés am 25. Januar im Café am Bebelplatz. „Es ist Januar, das Jahr ist jung“, sagt Maria Knissel, die den Workshop leiten wird, „wir legen also einfach los und bringen Worte, Zeilen, Sätze auf die Welt, die vielleicht der Anfang von mehr sein können.“
Die seit zwei Jahren in Kassel lebende Schriftstellerin ist mit ihren Romanen bundesweit auf Lesebühnen unterwegs und erhielt für ihre Projekte mehrfach Stipendien des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst. Seit Herbst 2017 leitet sie die „Schreibgruppe Kassel“, ein Kooperationsangebot der Autorenschule Textmanufaktur und dem Literaturhaus Nordhessen e.V.
Veranstalter des Kasseler Schreibcafés ist das Netzwerk Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen in Kooperation mit dem Café am Bebelplatz. Das Schreibcafé, das dreimal im Jahr, jeweils unter Leitung einer anderen Schreiblehrerin, stattfindet, ermöglicht das Hineinschnuppern, das Antesten des Kreativen Schreibens. Vorkenntnisse und eine Anmeldung für den Workshop „Anfänge“ sind nicht erforderlich. Das Vorlesen der geschriebenen Texte ist freiwillig.

Leitung: Maria Knissel (Schriftstellerin)
Termin: Donnerstag, 25. Januar 2018
Zeit: 19 bis ca. 21.30 Uhr
Ort: Café am Bebelplatz, Friedrich-Ebert-Straße, Kassel, Tram 4 + 8
Eintritt: 5 Euro + 1 Getränk im Café


15. Januar 2018

Freewriting mit Essenz

Schreib-Staffellauf

Erst neulich habe ich gelesen, dass ein Verfahren, was ich schon kannte bzw. vor zwei Jahren während eines Aufenthaltes im Kloster Germerode erfunden habe, bereits in der Literatur bekannt ist unter der Bezeichnung Schreibstaffel. Es dient dem Zweck, sich selbst oder einem zu bearbeitenden Thema auf die Spur zu kommen, und basiert auf der Methode Freewriting.
Das Verfahren: Nimm dir eine Stunde Zeit. Mach ein zehnminütiges Freewriting zu deinem Thema, deiner Frage. Lies dir das Geschriebene durch und finde eine Essenz. Eine Essenz kann a) der wichtigste Satz des Geschriebenen, b) eine Zusammenfassung, c) die Kurzfassung eines Aspekts oder d) etwas noch Anderes sein. Einfach das Wichtigste für dich in einem Satz aufschreiben, unter das im Freewriting Geschriebene, vielleicht in einer anderen Farbe. Dann nimm diesen Satz als Impuls für ein neues Freewriting von zehn Minuten, finde wieder eine Essenz, die für das nächste Freewriting als Impuls dient. Mach das dann noch (mindestens) zweimal.

Quelle: Scheuermann, Ulrike (2016): Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkszeug nutzen und vermitteln, 3. Auflage. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich


8. Januar 2018

Das Eismeer

Ostsee, Nordsee, Florida?

Nein, es geht nicht um den Klimawandel (oder doch?). Ja, es geht um das Klima. Es ist Winter. Und dort, wo mein Bruder wohnt (auf Long Island, New York), ist der Atlantik voller Eis. Als ich die Bilder von vor seiner Haustür sah, dachte ich an das Bild von Caspar David Friedrich (1774–1840): Das Eismeer. Das nun hier als Schreibimpuls dienen soll. Jede Art zu schreiben, jede Textsorte ist erlaubt, das Bild möge einfach als Impuls dienen ...


1. Januar 2018

17 Wörter für den Neubeginn

und die Reise durch das Jahr 2018

Es gibt eine Geschichte von Max Huwyler (Meine siebzehn Wörter), in der ein Prinz von seinem Vater in ein unbekanntes Land hinter den Bergen geschickt wird, in dem eine fremde Sprache gesprochen wird. Sein Lehrer gibt ihm den Auftrag, 17 Wörter auszuwählen, die der Prinz meint, zum Überleben gebrauchen zu können, die der Lehrer ihm dann übersetzt. Ist nicht ein neues Jahr wie ein unbekanntes Land hinter hohen Bergen mit einer fremden Sprache, die es noch zu lernen gilt?
Wähle 17 Wörter, die du meinst, für die Reise in und durch das Jahr 2018 zu brauchen.
Schreib einen Text, in dem diese 17 Wörter vorkommen. Insgesamt darf der Text nicht mehr als 52 Wörter haben.


25. Dezember 2017

Zum Jahresausklang

Etwas, das stimmt

Es ist Weihnachten, die Probleme oder Konflikte verflüchtigen sich erfahrungsgemäß nicht gerade, wenn viele Menschen mit dem Vorsatz, endlich friedlich und freundlich und fröhlich drei Tage besisammen zu sein, aufeinander treffen. Da hilft vielleicht der Benjamin Franklin zugeschriebene Satz: „Jedes Problem ist eine verkleidete Gelegenheit.“
Und für mich passt er zudem zum bald zuende gehenden Jahr ganz hervorragend!


18. Dezember 2017

Ich werde die Zunge wetzen

Ein automatischer Text zur Lage

Am letzten Abend meines Jahreskurses Kreatives Schreiben letzten Dienstag floss (nach dem Impuls „Zufällt, was reif ist“ von Christa Schyboll) ein automatischer Text aus mir heraus. Er eignet sich als Facette (m)eines Jahresrückblicks.
„[...] Es herrscht Bitternis. Und in der Ödnis wachsen neue Rosen, die niemand besingt, weil niemand vorbeikommt. Nur die Kamele, die aber nicht singen, sie haben das Singen verlernt wie die Menschen, die als politische Gefangene in Erdogans und anderen Knästen ... Und anderntags gibt es Grünkohl, als wäre nichts geschehen. Durch den Briefschlitz ins Herz des Schreckens blicken und allenfalls ein Stück Käse dabei zerkauen. Maoam für vorbeiflitzende Kinder. Das Leben der Anderen findet in der Unterwelt statt. Statthaft ist das nicht. Unbedingt singen wir das Lied von der Erde, um nicht zu verzweifeln vom Plastikmüll in den Biotonnen. Es ist doch ein Bild des Jammers und der Ignoranz. Ein Akt der Dummheit, das Volk zeigt sich, die Masken wurden heruntergerissen. Dabei geht es nur um irrationale Ängste, dass es bald keine Würstchen mit Kartoffelsalat mehr am Heiligabend gibt, sondern Souvlaki oder Döner oder Pekingente, am schlimmsten sind die Veganisten für den Mitläufer, da schwillst nämlich nicht nur den Lobbyisten der Kamm. Am Skattisch, da tobt der gerechte Zorn. Und all die Zacken, die schon aus den Kronen gebrochen sind, reißen sich die Ausländer unter den Nagel, dass aber die die Schwulen, na ja, auch unter Hitler war nicht alles nur ... Die Anderen, die Fluten, die Sintfluten, die gerechten Strafen, die Mauern und Abgründe. Und ich stehe am Rand und taumele. All diese selbstgerechte Dummheit und Gartenzaunmentalität. Ich werde die Zunge wetzen und das Menschen vernichtende Toleranzgebot zerfetzen. In Sachen ,Deutschland zuerst’ ist nicht mit mir zu rechnen.“


11. Dezember 2017

Formkopie 2

Noch ein Gedicht nachahmen

Wie letzte Woche möchte ich empfehlen, eine Form für Eigenes zu nutzen. Das Gedicht von Ingeborg Bachmann ist nach einem spannenden Schema gebaut, das erlaubt, mit eigenen Inhalten in Resonanz zu gehen und diese also tiefer auszulosten. Zum Vorgehen: Finde drei Zeilen (eventuell auch aus einem eigenen wichtigen Text) und setze sie (gereimt oder nicht) als die ersten drei Zeilen des Gedichtes ein. Und dann verfahre wie das Schema es zeigt, d. h. du wiederholst die Zeile 1 als 4. in der ersten Strophe. In der zweiten Strophe bildet die Zeile 2 die Klammer (1. und 4. Zeile), dazwischen hast du zwei Zeilen Raum, um in Resonanz, in einen Dialog vielleicht, mit dieser Zeile zu gehen; bei der dritten Strophe verfährst du mit der Zeile 3 genauso.

Ingeborg Bachmann

Die große Fracht

Zeile 1
Zeile 2
Zeile 3
Zeile 1

Resonanzzeile
Resonanzzeile
Zeile 2

Zeile 3
Resonanzzeile    
Resonanzzeile
Zeile 3

Die große Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit
Die große Fracht des Sommers ist verladen.

Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
und auf die Lippen der Galionsfiguren
tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.

Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.


4. Dezember 2017

Formkopie

Ein Gedicht nachahmen

Einem Thema eine Form geben – das tut man immer beim Schreiben, ob bewusst oder unbewusst. Einem Thema eine bestimmte Form geben, es also z. B. in einer Kurzgeschichte, einer Einakter oder einem Gedicht zu verarbeiten, das tut man als bewusste Handlung. Hinzuspüren, was mit dem eigenen Inhalt passiert, wenn man ihm eine bestimmte Sprache und eine bestimmte Form gibt, die jemand anders seinem Inhalt gegeben hat – das ist spannend.
Ich schlage vor, das Gedicht von Günter Kunert nachzuahmen, also die Sprachmuster und das Formmuster zu kopieren bzw. auf einen eigenen Inhalt, ein eigenes Thema zu übertragen.

Günter Kunert
Auf der Schwelle des Hauses
In den Dünen sitzen. Nichts sehen
Als Sonne. Nichts fühlen als
Wärme. Nichts hören
Als Brandung. Zwischen zwei
Herzschlägen glauben: Nun
Ist Frieden.

Quelle: Waldmann, Günter (2003): Neue Einführung in die Literaturwissenschaft. Baltmannsweiler: Schneider


27. November 2017

Kollegialer Austausch

Nachlese einer kleinen Tagung

Acht Kolleginnen, acht Facetten des Schreibdidaktischen. Zwei arbeiten im therapeutischen Bereich, drei in der Erwachsenenbildung (und zusätzlich als Journalistin oder als Hochschullehrerin), eine in einer Gesamtschule, eine in der AutorInnenförderung und eine an einem hochschulischen Schreibzentrum. Eingeladen zu dieser vierten Tagung des Netzwerks Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen hatte ich KollegInnen aus allen Domänen des Kreativen Schreibens. Und dieses Mal ist insbesondere das Konzept „aus allen Domänen“ wunderbar aufgegangen – sodass meine Enttäuschung über die recht geringe Beteiligung sich schnell verflüchtigte. Ein reicher Tag wurde mir geschenkt.
In der Vorstellungsrunde verrieten wir uns alle neben unseren aktuellen Themen und Fragen unsere derzeitige Lieblings-Übung. Hier sind einige Lieblings-Übungen, die sich tatsächlich für viele Schreibgruppenphasen in allen Domänen eignen oder für die eigene Arbeit modifiziert werden können:

  • Listentexte schreiben, auch serielle Texte oder solche, die nur aus Fragen bestehen
  • Lostöpfe füllen (z. B. mit Name, Ort, Begebenheit)
  • Innere Monologe schreiben
  • Fokussiertes Freewriting
  • Anagramme aus dem eigenen Namen bilden vertexten
  • Inspiration durch Gedichte in unbekannten Sprachen
  • 13 Arten, eine Amsel zu betrachten (oder was auch immer, siehe Blogeintrag vom 24. Juli 2017)

In zwei Kleingruppenphasen bearbeiteten wir anschließend vier Themen:

  1. Gibt es eine Zauberformel für TeilnehmerInnen-Akquise?
  2. Wie kommt ihr an Übungen/Methoden für eure Schreibgruppen?
  3. Welche Übungen eignen sich für die Probleme des Anfangens (von akademisch-wissenschaftlichen Texten)?
  4. Wie lässt sich ein Konzept entwerfen für die Implementierung des Kreativen Schreibens an der Schule – jenseits der Nische AG?

Ein wunderbarer Austauschtag! Auch für mich. Denn was ich am meisten vermisse in meiner Arbeit als Schreibpädagogin, ist der kollegiale fachliche Austausch!

Die nächste Tagung ist bereits terminiert. Sie wird am 19. November 2018 stattfinden, wieder in Kaufungen. Das Netzwerk bietet außer der Möglichkeit zum kollegialen Austausch dreimal im Jahr ein offenes Schreibcafé zu wechselnden Themen an; das nächste leitet Kollegin Maria Knissel am 25. Januar 2018 (19 Uhr, Café am Bebelplatz, Kassel) zum Thema Anfänge.


20. November 2017

Warum es läuft und warum nicht

Coaching-Erlebnisse 1

Eine Hausarbeit ist zu schreiben. Als letzter Teil ist gefordert, die eigene Rolle als pädagogische Fachkraft in einem heilpädagogischen Arbeitsfeld zu skizzieren. Mein Coachee macht sich eine halbe Stunde lang handschriftlich Stichpunkte, setzt sich an den Computer und schreibt in einer Stunde diesen Teil ,runter’. Ich lese die Seite und sage nur: Wow!
Später frage ich mich: Warum hat das so reibungslos, so stockungslos, so ohne genervtes oder verzeifeltes Stöhnen und Stift-Zerkauen, wahlweise Kopfkratzen und prokrastinierende Gartenarbeit geklappt? Ich gebe diese Frage an den Coachee weiter.
Er sagt: mehreres: 1. Wenn ich meine Position beschreiben soll und keine Fremdpositionen einarbeiten muss, dann kann ich das. 2. Wenn ich etwas schreibe, worüber ich mir schon oft Gedanken gemacht habe und was ich schon in der Praxis selbst erfahren habe, dann kann ich das strukturieren und formulieren. 3. Wenn mich etwas interessiert, dann bin ich sogar instrinsich motivierter, was das Schreiben betrifft.
Ich denke: Genau, er weiß es doch. Und: So ist es doch. Und: Ist es denn nicht genau das, was sozialpädagogische praxisrelevante Wissenschaft will – dass man etwas so lange durchdenkt und durchlebt, dass man Theorie und Praxis vermittelt, um schließlich eine eigene Position zu entwickeln, die es einer/m auch erlaubt, das eigene Handeln reflektierend immer wieder zu überprüfen, die Position also im Zusammenklang von Denken und Handeln im Resonanzraum des Arbeitsfeldes weiterzuentwickeln?

Zum Weiterdenken empfehle ich die Lektüre des folgenden Aufsatzes:
Girgensohn, Katrin (2008): Schreiben als spreche man nicht selbst. Über die Schwierigkeiten von Studierenden, sich in Bezug zu ihren Schreibaufgaben zu setzen. In: Rothe, M. / Schröder, H. (Hg.), Stil, Stilbruch, Tabu. Stilerfahrung nach der Rhetorik; eine Bilanz (Vol. Semiotik der Kultur). Berlin/Münster: LitVerlag: 195–211


13. November 2017

Über das Lernen

in bedeutungsvollen Zusammenhängen

„Most learning ist not the result of instruction. It is rather the result of unhempered participation in a meaningful setting.” (Ivan Illich) Ivan Illich wurde 1926 in Wien geboren, war später als US-Bürger Rektor einer Hochschule in Puerto Rico, um schließlich als Priester in Lateinamerika für ein demokratisches Eziehungssystem zu streiten. Eins seiner ersten auf Deutsch erschienenen Bücher heißt Entschulung der Gesellschaft. Zudem setzte er sich mit dem Ausbeutungsinstrument Entwicklungshilfe auseinander. Illichs Name steht für die Befreiungstheologie und für die Pädagogik der Unterdrückten.


6. November 2017

An der Grenze

Verleihung des 6. Nordhessischen Autorenpreises am 9. November 2017

Grenzzäune und verminte Todesstreifen, innere Grenzen und Entgrenzungen, rote Linien und Schwellenangst, Grenzgängerinnen und ein Bogen, der überspannt wird – AN DER GRENZE war der Titel des Literaturwettbewerbs zum 6. Nordhessischen Autorenpreises, der am 9. November in Kassel verliehen wird.
Vier Preise vergibt die Jury, bestehend aus Bettina Fraschke (HNA-Kulturredakteurin, Kassel), Andrea Gunkler (Autorin, Niederaula), Alf Mayer (Schriftsteller, Bad Soden/Taunus), Karl-Heinz Nickel (Literatur-Spaziergänger, Kassel), Brigitte Noll (Germanistin, Kassel), Heiko Schimmelpfeng (Redakteur (k)KulturMagazin, Kassel) und Irene Schweizer (Buchhändlerin, Kaufungen/Kassel).
213 Autorinnen und Autoren aus Nordhessen und anderen Teilen der Welt haben sich beteiligt. „Omnia“, „Schlammzeit“, „Alles in Ocker“ und „Antiterror Podcast“ – so die Titel der vier Texte, die die Jury für die Preise des 6. Nordhessischen Autorenpreises ausgewählt hat. Die Laudatio hält Heiko Schimmelpfeng als Sprecher der Jury. Die bepreisten Texte werden von den Autoren selbst während der Preisverleihung am 9. November 2017 im Regierungspräsidium Kassel, Am alten Stadtschloss, gelesen.
Der Vorstand des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V., Kirsten Alers, Jana Ißleib und Carmen Weidemann, moderiert die Veranstaltung, die der Schlagzeuger Jonas Giger (Kassel) musikalisch begleitet. Sie ist öffentlich und beginnt um 19 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Verleihung des 6. Nordhessischen Autorenpreises
Donnerstag, 9. November 2017, 19 Uhr
Regierungspräsidium Kassel, Am alten Stadtschloss 1, großer Sitzungssaal, 1. Stock


31. Oktober 2017

Erhaltung des Menschengeschlechts

Fragebogen – von Max Frisch, 1966

Max Frisch hat in seinen Tagebüchern immer wieder Fragebögen entworfen, oft auch zu speziellen Themen wie z. B. Ehe (Tagebuch 1966–1971, S. 51 ff.), Frauen und Männer (ebd. S. 137 ff.), Hoffnungen (ebd. S. 170 ff.) oder Geld (ebd. S. 238 ff.). Beantwortet hat er die Fragen nicht unbedingt bzw. meistens tatsächlich gar nicht. Aber sie reizen dazu, sich ihnen zu stellen. Hier also die 25 Fragen des Fragebogens, in denen Frisch sich mit Fragen, das Menschengeschlecht betreffend, befasst.

Erhaltung des Menschengeschlechts

  1. Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle Ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert?
  2. Warum? Stichworte genügen.
  3. Wie viele Kinder von Ihnen sind nicht zur Welt gekommen durch Ihren Willen?
  4. Wem wären Sie lieber nie begegnet?
  5. Wissen Sie sich einer Person gegenüber, die nicht davon zu wissen braucht, Ihrerseits im Unrecht und hassen Sie eher sich selbst oder die Person dafür?
  6. Möchten Sie das absolute Gedächtnis?
  7. Wie heißt der Politiker, dessen Tod durch Krankheit, Verkehrsunfall usw. Sie mit Hoffnung erfüllen könnte? Oder halten Sie keinen für unersetzbar?
  8. Wen, der tot ist, möchten Sie wiedersehen?
  9. Wen hingegen nicht?
  10. Hätten Sie lieber einer anderen Nation (Kultur) angehört und welcher?
  11. Wie alt möchten Sie werden?
  12. Wenn Sie Macht hätten zu befehlen, was Ihnen heute richtig scheint, würden Sie es befehlen, gegen den Widerspruch der Mehrheit? Ja oder Nein.
  13. Warum nicht, wenn es Ihnen richtig scheint?
  14. Hassen Sie leichter ein Kollektiv oder eine bestimmte Person und hassen Sie lieber allein oder im Kollektiv?
  15. Wann haben Sie aufgehört zu meinen, dass Sie klüger werden oder meinen Sie's noch? Angabe des Alters.
  16. Überzeugt Sie Ihre Selbstkritik?
  17. Was, meinen Sie, nimmt man Ihnen übel und was nehmen Sie selbst übel, und wenn es nicht dieselbe Sache ist: Wofür bitten Sie eher um Verzeihung?
  18. Wenn Sie sich beiläufig vorstellen, Sie wären nicht geboren worden: Beunruhigt Sie diese Vorstellung?
  19. Wenn Sie an Verstorbene denken: Wünschten Sie, dass der Verstorbene zu Ihnen spricht, oder möchten Sie lieber dem Verstorbenen noch etwas sagen?
  20. Lieben Sie jemand?
  21. Und woraus schließen Sie das?
  22. Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht, wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist?
  23. Was fehlt Ihnen zum Glück?
  24. Wofür sind Sie dankbar?
  25. Möchten Sie lieber gestorben sein oder noch eine Zeit leben als gesundes Tier? Und als welches?“

Quelle: Max Frisch: Tagebuch 1966–1971, Frankfurt/Main 1972, S. 7 ff. (siehe auch Blog-Eintrag zu Fragebögen vom 3. 4. 2017).


23. Oktober 2017

Die Listensammlerin

Eine Lektüre- und Schreib-Empfehlung

„Oft weiß Sofia nicht aus noch ein: An das Dasein als Mutter hat sie sich noch nicht gewöhnt, ihre kleine Tochter wird bald am Herzen operiert, Sofias überfürsorgliche Mutter ist mehr Last als Hilfe, und ihre alte Großmutter dämmert dement vor sich hin. Nur ihre Leidenschaft, Listen anzulegen – Listen der peinlichsten Kosenamen, der witzigsten Neurosen, der schlimmsten Restaurants etc. –, bringen ein wenig Ordnung in Sofias Leben. Da macht sie in der großmütterlichen Wohnung eine Entdeckung: eine andere Listensammlung, in vergilbte Hefte notiert, in kyrillischer Schrift – die Familie hat in den Siebzigern die Sowjetunion verlassen. Über diesen Fund stößt Sofia auf einen geheimnisvollen Onkel, von dem nie jemand sprach: Onkel Grischa, ein Querkopf und schräger Vogel, der sich im Untergrund betätigt hat, der alle in Gefahr brachte und den trotzdem alle liebten. Anhand der Listen spürt Sofia Grischas dunkler Geschichte nach und entdeckt, was die Vergangenheit für das Jetzt und für sie bedeuten kann … Die Listensammlerin erzählt mitreißend und mit herrlich originellen Figuren die Geschichte von Grischa und Sofia. Ein oft komischer, warmer und lebensnaher Familienroman, der gar nicht so einfache Fragen stellt: was Familie, Nähe und Fremdsein bedeuten – und wer man selber ist.“
Soweit der Text von der Website des Rowohlt-Verlags. Mich haben natürlich (jenseits der wirklich spannenden und gut erzählten Geschichte) die Listen fasziniert – sie sind tatsächlich auch eine famose Schreibanregung (für eigenes Schreiben oder für Schreibgruppen).
Listen? Was für Listen? Auf die Frage eines Therapeuten, zu dem ihre Mutter sie als Jugendliche ,schleppt’, was es denn für Listen seien, die sie führe, antwortet Sofia: „Oh, sehr verschiedene. Also, ich habe zum Beispiel eine Liste schöner Menschen. Ich habe eine Liste mit Büchern, die mich zum Weinen gebracht haben, eine Liste mit Büchern, die ich besser nicht gelesen hätte, eine mit Büchern, die ich noch einmal lesen will. Eine mit Büchern, die noch geschrieben werden müssen, eine mit Büchern, die ich gerne schreiben würde. Ich habe auch eine Liste mit möglichen Allergien, eine mit Tomatengerichten, eine mit Gerichten, die Zwiebeln enthalten, weil Frank keine Zwiebeln verträgt. Ich habe eine Liste mit tollen Hundenamen, eine mit peinlichen Kosenamen, eine Liste mit Lehrern, die besser etwas anderes hätten werden sollen, eine mit Ideen, was für andere Jobs diese Lehrer sich hätten suchen sollen, eine Liste mit Begriffen, die ich mal nachschlagen muss, weil ich mir nicht sicher bin, was sie bedeuten, eine Liste mit meinen Aufstehzeiten seit dem 23. Dezember letzten Jahres, eine Liste mit Schimpfwörtern, die die Jungs aus meiner Klasse benutzen, eine mit meinen Noten in allen Fächertn. Eine Liste mit Dingen, die ich niemals geschenkt haben möchte, eine mit Stars, die ich gerne treffen würde, eine mit Stars, die ich gerne wäre, eine mit Sätzen, die meine Mutter wiederholt, eine mit den Noten von Christina, das ist meine beste Freundin, eine mit den Anrufzeiten von Christina seit diesem Schuljahr, eine mit den Kuchen, die meine Großmutter backt, sie probiert gerne neue Rezepte aus. Soll ich weitermachen?“ (S. 64f.)

Lena Gorelik: Die Listensammlerin. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2015 (1. Auflage 2013)


16. Oktober 2017

for action, in action, on action

Schreiben als Reflexive Praxis 3

Schreiben kann ich auch nutzen, um meine Handlungen zu reflektieren. Schreiben als Reflexive Praxis (oder besser ausgedrückt: als reflektierende Praxis) hat eine lange Tradition, vor allem im pädagogischen oder sozialarbeiterischen Berufsfeld, in dem es notwendiger ist als in manch anderem Berufsfeld, sich und die eigenen Handlungen selbstkritisch zu betrachten. Für alle, die pädagogisch oder sozialarbeiterisch tätig sind (und natürlich auch für alle ansonsten an kritischer Selbstreflexion Interessierte) stelle ich hier das Konzept des US-amerikanischen Philosoph und Professor der Stadtplanung am Massachusetts Institute of Technology Donald Schön. In seiner Handlungstheorie wendet sich Schön (1930–1997), auf den der Begriff reflective practice zurückgeht, mit dem Positivismusvorwurf gegen die Dominanz technischer Rationalität (John Deweys ,Schüler’). Er unterscheidet in seinem 1983 erschienenen Werk The Reflective Practitioner: How professionals think in action, in dem er auf das Problemlöseverhalten hochqualifizierter Berufsgruppen fokussiert, drei Handlungsmodi bzw. Phasen Reflexiver Praxis (vgl. Roters 118f.):

  1. reflexion-for-action: Das ist die Reflexion im Davor, in der Planungsphase.
  2. reflexion-in-action: Das ist das spontane oder bewusste Einnehmen einer ,Vogelperspektive’ in der konkreten Praxis, um möglicherweise diese sofort zu modifizieren.
  3. reflexion-on-action: Das ist ein Innehalten im Danach; hier werden drei fragen gestellt: Was hat funktioniert? Was nicht und warum nicht? Welche Konsequenzen können für das nächste Mal gezogen werden? Mit diesen Fragen geht man dann zurück zu Phase 1.

Dieses auf den Gesamtprozess bewusster (pädagogischer) Handlung ausgerichtete Konzept Reflexiver Praxis geht u. a. davon aus, dass die handelnde Person bereit ist, Unsicherheiten in der Praxis auszuhalten, erst einmal bei Irritationen zu einem Problemverständnis (framing) zu kommen, ohne sofort nach den einfachen oder nahe liegenden Lösungen zu greifen. Gerade die Reflexionsfähigkeit im Raum des routinelosen unbekannten Settings macht nach Schön Professionalität aus.
Im Prozess des problem (re)framing wird das implizite Wissen reflektiert, damit ist gemeint, einen kritischen Dialog mit eigenen Vorannahmen, mit der eigenen Praxis und deren theoretischen Begründungen zu führen. Er schlägt für die von ihm besonders fokussierten reflektierenden Praktiker einen Dreischritt vor:

  1. Beobachtung unserer Erfahrung,
  2. Verbindung dieser mit unseren Gefühlen,
  3. In-Bezug-Setzen zu unseren Theorien (vgl. Studer/Jannuzzo 2015: 125).

Ziel der Reflexiven Praxis ist für Schön: „Learning how one reflects-in-action and reflects-on-action by the framing and reframing indeterminate situations“ (MacKinnon/Erickson 1988, zit. nach Roters 2012: 121). Nicht die eine Lösung zu finden, ist das Ziel, sondern das Problem aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können.

Vielleicht ist es ja ein lohnendes Experiment, dich auf diesen schreibenden Reflexionsprozess einzulassen.

Literatur
Honegger, Monique / Ammann, Daniel / Hermann, Thomas (2015): Schreiben und Reflektieren. Denkspuren zwischen Lernweg und Leerlauf. Bern: hep verlag Roters, Bianca (2012): Professionalisierung durch Reflexion in der Lehrerbildung. Eine empirische Studie an einer deutschen und einer US-amerikanischen Universität. Münster u. a.: Waxmann Studer, Patrick / Jannuzzo, Diego (2015): Reflexive Praktiken in technischen Studiengängen. Das Lernjournal. In: Honegger/Ammann/Hermann: 124–136


9. Oktober 2017

95 Anschläge

oder Bekenntnisse oder Positionen ...

Inspiriert von dem Essay-Sammelband 95 Anschläge. Thesen für die Zukunft möchte ich anregen (als Ergänzung zum Blog-Eintrag vom 25. 9. 2017), eigene Thesen zu verfassen, eine oder 17 oder 95, länger ausfomulierte oder Ein-Satz-Thesen. Ein paar der Überschriften aus diesem Band könnten schon erste Schreibanregungen sein:

  • Deutschland ist Entwicklungsland
  • Schluss mit dem Selbstbetrug – Deutschland ist ein rassistisches Land
  • Wer nach Wahrheit sucht, muss mit echten Menschen streiten
  • Wir brauchen Zweifel, um offen zu bleiben
  • Auf allen Hochzeiten tanzen – und dabei auch noch Spaß haben

Und zu lesen lohnt sich das Buch auch, nicht zuletzt auch weil so kluge Menschen wie Thea Dorn, Judith Hermann, Hartmut Rosa, Edgar Selge, Ilija Trojanow oder Juli Zeh unter den 95 AutorInnen sind.

Friederike von Bünau, Hauke Hückstädt (Hg.) (2017): 95 Anschläge. Thesen für die Zukunft. Frankfurt/Main: S. Fischer


2. Oktober 2017

Leben …

Um davon zu erzählen

„Das Leben ist nicht das, was man gelebt hat, sondern das, woran man sich erinnert und wie man sich daran erinnert – um davon zu erzählen“, lautet das Motto der Memoiren des Gabriel García Márquez. Erhält nicht so das Erinnern, das Erzählen, das Schreiben insbesondere den Stellenwert des Konstrukteurs des Lebens? Erinnern wir uns, erzählen wir, schreiben wir also! (Und nicht vergessen: zwischendurch immer mal wieder LEBEN!)


25. September 2017

95 Thesen

zur Lage der Nation

Der Ausgang der Bundestagswahl 2017 fordert dazu auf, sich mit der Zukunft zu befassen. Wohin gehen wir, wie wollen wir leben, was kann ich tun? Jedenfalls sind diese Fragen in mir wieder einmal aus dem Hintergrund in den Vordergrund geploppt. Und da ich Schreiblehrerin bin, suche ich dann auch sofort nach Schreibanregungen, sich schreibend Positionierungen und Visionen anzunähern, ist wahrscheinlich nicht die schlechteste Idee ... Und so empfehle ich, die Luthersche Idee zu nehmen und 95 Thesen zur Lage der Nation zu verfassen (oder zur Lage der Welt oder zu welcher lage auch immer). Am 31. Oktober gibt es ja die Gelegenheit, sie an eine geeignete Tür zu nageln. Und vielleicht hat die eine oder andere These durchschlagende Wirkung, wer weiß das schon ...


18. September 2017

Nomen- und Verbenfunde

Inspiration aus Eigenem

Nimm einen Text, den du, ohne lange zu suchen oder zu überlegen, und am besten auch, ohne ihn zu lesen, aus einem Stapel oder einem Ordner ziehen solltest. Schreib daraus das 1., das 3. und das 5. Nomen von vorn sowie das letzte, das drittletzte und das fünftletzte Verb heraus. Aus diesen sechs Wörtern entsteht als Grundmaterial, als Impulsmasse ein neuer Text.
Später kannst du die beiden Texte vergleichen. Gibt es verwandte Ideen, tauchen ähnliche (deine) Themen in beiden Texten auf?
Diese Übung geht auf die Gruppe OuLiPo zurück, sie ist eine ihrer Contraintes.


11. September 2017

Das Mindeste?

Oft schon das Ausreichende!

„Wenn du dich in Situationen der Ungerechtigkeit neutral verhältst, hast du dich auf die Seite des Unterdrückers gestellt.“ (Desmond Tutu, anglikanischer Geistlicher und Menschenrechtler aus Südafrika)
Dazu empfehle ich auch die Lektüre des Intros Eine Antwort auf Butler in der EMMA 5/2017 (September/Oktober), in dem Alice Schwarzer sich positioniert – gegen die Versuche falsch verstandener, nur den Machtverhältnissen in die Hände spielender Toleranz gegenüber frauenverachtenden kulturellen Traditionen.


4. September 2017

Erst lesen. Dann schreiben

Aufforderungen zum Lernen

Kann man das Schreiben lernen? Jahrhunderte lang war man im Speziellen in Deutschland davon überzeugt, dass man zwar das Musizieren, Malen oder Tanzen lehren und also üben und lernen kann, nicht aber das literarische Schreiben – dazu musste man schon als Genie geboren sein. Seit rund 30 Jahren nun zweifelt man auch in Deutschland nicht mehr an, dass Schreiben lehr- und lernbar ist, man fragt sich allerdings, wie das geschehen soll. Im Kontext der (wissenschaftlichen) Debatte, die im Zuge der Gründung des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig 1995 und des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim sowie der Implementierungen der ersten Schreib(beratungs)zentren an deutschen Hochschulen/Universitäten intensiv geführt wurde, setzten sich auch AutorInnen und Lehrende damit auseinander, wie sie das Schreiben gelernt haben. 22 geben dementsprechende essayistische Selbstauskünfte über ihre literarischen Vorbilder und wie sie was von ihnen gelernt haben in dem Sammelband Erst lesen. Dann schreiben. Lernen von Vorbildern heiße, so der Schriftsteller Burkhard Spinnen: „ganz wesentlich geht es um Aneignung und Metamorphose“ (S. 259). Robert Gernhardt, Hanns-Josef Ortheil, Daniel Kehlmann und Antje Rávic Strubel. Das Buch ist ein wunderbares Plädoyer dafür, sich mit der Gemachtheit von Literatur auseinanderzusetzen, nicht um ,große’ zu kopieren, sondern um die Palette des eigenen poetischen Ausdrucks zu erweitern.

Porombka, Stefan / Kutzmutz, Olaf (2007): Erst lesen. Dann schreiben. 22 Autoren und ihre Lehrmeister. München: Luchterhand. (U. a. geben Selbstauskunft Robert Gernhardt, Hanns-Josef Ortheil, Daniel Kehlmann und Antje Rávic Strubel.)


28. August 2017

Zum Gebrauchswert klassischer Lyrik

Goethe zum 268. Geburtstag

Mühsam schien mir das Interpretieren von Gedichten, in Deutsch mittelschwierig, in Englisch kam ich nie über ein ,ausreichend’ hinaus. Ich kann nicht sagen – und das ist erstaunlich in Anbetracht des Quasi-Scheiterns –, dass ich Gedichtinterpretationsaufgaben nicht mochte, ehr das Gegenteil ist der Fall: Mich über Reim und Rhythmus, Metaphern und Motive dem zu nähern, was in den Tiefen eines Gedichts steckt, was es beim ersten Lesen geschickt verbirgt, was vielleicht noch nicht einmal der Autor, die Autorin mit Absicht verborgen hat, empfand ich als faszinierend und lohnend. Niemals leider haben wir, die wir zum Interpretieren aufgefordert waren, aufgefordert, Gedichte zu schreiben, das Erkannte also in einem eigenen Produktionsprozess auszuprobieren, um so noch besser die Gemachtheit von Literatur verstehen zu können. Und dann hätten wir als erstes ja einmal ein Gedicht nachahmen, Reim und Rhythmus übernehmen, Metaphern und Motive neu wählen können. Haben wir nicht. Haben aber immer schon Menschen – mit Lern- oder Lehrabsicht oder einfach aus Spaß oder als Fingerübung. Ein überaus beliebtes Gedicht für das eine oder das andere scheint Wanderers Nachtlied von Johann Wolfgang Goethe zu sein, der heute, am 28. August 2017 268 würde, lebte er noch (wie es sein Gedicht tut).

Hier also erst einmal das Original:
Ein gleiches.
Über allen Gipfeln
Ist Ruh’,
in den Wipfeln
Spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur! Balde
Ruhest Du auch.

Nach Einführung der Tabaksteuer veröffentlichte die Magdeburger Zeitung 1894 folgende Umdichtung:
Ueber allen Wipfeln ist Ruh.
In allen Gipfeln spürest Du
Kaum einen Hauch;
Die Blätter rauschen im Walde,
Warte nur, balde
Rauchst du sie auch!

1917, also vor 100 Jahren genau, veröffentlichte Karl Kraus in seiner Fackel eine Umdichtung, die er im Frankfurter Generalanzeiger gefunden hatte:
Frei nach Goethe!
Ein englischer Kapitän an den Kollegen.

Unter allen Wassern ist – ,U’
Von Englands Flotte spürest du
Kaum einen Rauch ...
Mein Schiff versank, dass es knallte,
Warte nur, balde
R-U-hst du auch!

1964 griff Johannes Hubert ebenfalls nach Goethes Gedicht, um ein gesellschaftlich aktuelles Thema zu verarbeiten:
wanderers nachtlied
über alle gipfeln
ist unruh
in allen wipfeln
spürest du
atomkernrauch.
die kobolde lärmen im walde.
warte nur, balde
kobaldest du auch.

Adaptionen oder als solche interpretierte gibt es weitere auch in der zeitgenössischen Lyrik, u. a. in der Konkreten Poesie (Friedrich Achleitner, Eugen Gomringer, Ernst Jandl). Und jetzt? Selber machen! (Und es geht auch mit anderen Gedichten!)

Quelle: Segebrecht, Wulf (1978): J. W. Goethe. ,Über allen Gipfeln ist Ruh’. Texte, Materialien, Kommentar. München/Wien: Carl Hanser


21. August 2017

Urlaubslektüre

Entdeckungen

Im Urlaub lese ich auch mal Bücher, die ich nicht für die Arbeit brauche, genauer gesagt: Ich erlaube mir, Bücher zu lesen, deren direkte Verwendbarkeit für die Arbeit nicht schon auf dem Klappentext ersichtlich ist – und so entdecke ich dann doch Spannendes (das erstaunlicherweise oft auch noch verwendbar ist). Hier also die Liste meiner mit Genuss gelesenen Bücher (nicht ganz bzw. überhaupt nicht zufällig, dass fast alle aus der Feder von Autorinnen stammen):

  • Kristine Bilkau (2017): Die Glücklichen, btb. Wie ein junges Paar mit Kind und akademisch-künstlerischen Berufen versucht, nicht an den Zumutungen der Postmoderne zu scheitern.
  • Lena Gorelik (2015): Null bis Unendlich, Rowohlt. Es geht um Sprache, Liebe und Weltsichten von Nils und Sanela aus Jugoslawien.
  • Ayelet Gundar-Goshen (2015): Löwen wecken, Kein und Aber Verlag. Ein Roman aus Israel, in dem die Hauptfigur um sein Selbstbild ringt; nebenbei geht es um Flüchtlinge aus Eritrea.
  • Susann Pásztor (2017): Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster, Kiepenheuer & Witsch. Eine anrührende und zur Selbstreflexion des eigenen Gutmenschenanteils geeignete Geschichte über eine Sterbebegleitung.
  • Yasmina Reza (2017): Babylon, Hanser. Es geht um bürgerliche Doppelmoral und das Scheitern an Idealen.
  • Fred Vargas (2002): Bei Einbruch der Nacht, Aufbau Taschenbuchverlag. Ein spannender Krimi (und auch ein Roadmovie), der in Südfrankreich spielt und in dem die Charaktere wunderbar gezeichnet sind; nebenbei geht es ums Thema Wolfseinwanderung.


31. Juli 2017

Listentexte helfen

... um zu umkreisen und zu vertiefen

Das – ich nenne den Text – Gedicht von Eike von Savigny eignet sich, ahmt man die Form nach, wunderbar, um spielerisch sich vorzutasten, um etwas zu umkreisen, um in die Tiefe zu kommen. Man kann sich auch von der speziellen Art des Seriellen, wie von Savigny es benutzt, lösen, eigene Anfangsworte wählen und einfach frei assoziieren. Es geht einerseits um Spiel und Lust, andererseits fördert das serielle Arbeiten manchmal Erstaunliches zutage.

Katalog
Eike von Savigny (geb. 1941)

A    Es gibt vollkommene Zahlen
B    Es gibt Zahlen
A    Es gibt natürliche, ganze, rationale Zahlen und so weiter
B    Es gibt natürliche Zahlen
A    Es gibt Sachen zum Totlachen
B    Es gibt Sachen
A    Es gibt in Deutschland Sagen, in den USA nicht
B    Es gibt in Deutschland Sagen
A    Es gibt Sagen über Barbarossa
B    Es gibt Sagen, Märchen, Legenden, Erzählungen und so weiter
A    Es gibt Sagen
B    Es gibt Gerüchte, nach denen er in die Affäre verwickelt ist
A    Es gibt Gerüchte
B    Es gibt in der Regierung einige gefestigte Charaktere
A    Es gibt Charaktere
B    Es gibt einen Punkt, über den man nicht hinausgehen darf
A    Es gibt einen Punkt, an dem wir uns treffen könnten
B    Es gibt einen Punkt
A    Es gibt dunkle Punkte in seiner Vergangenheit
B    Es gibt dunkle Punkte
A    Es gibt Punkte, in denen ich mit mir reden lasse
B    Es gibt Punkte
A    Es gibt nicht nur Berge, sondern auch Täler
B    Es gibt Berge
A    Es gibt Möglichkeiten für eine Einigung
B    Es gibt Möglichkeiten
A    Es gibt Millionen Arbeitslose
B    Es gibt Arbeitslose
A    Es gibt Ausnahmen von dieser Regel
B    Es gibt Ausnahmen
A    Es gibt herrliche Farben im Herbst
B    Es gibt Farben
A    Es gibt von dem Anzug die Größen 94 und 98
A    Es gibt für Anzüge die schlanken Größen 90, 94, 98 und so weiter
B    Es gibt Größen
A    Es gibt sehr hübsche Gegenstände in dieser Kollektion
B    Es gibt Gegenstände

      Es gibt nichts als Ärger mit den Russen
      Es gibt noch Charakter in der Politik
      Es gibt da gewisse Gerüchte
      Es gibt immerhin noch Tiger
      Es gibt in Afrika Tiger
      Es gibt zum Beispiel Tiger, Löwen und Panther
      Es gibt für ihn nur die Callas
      Es gibt für Rentner verbilligte Karten

(Quelle: Das Wasserzeichen der Poesie oder Die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu lesen. In hundertvierundsechzig Spielarten vorgestellt von Andreas Thalmayr. Nördlingen: Greno, 1985. – Dieses Werk ist übrigens eine wunderbare und inspirierende Fundgrube!)


24. Juli 2017

100 Arten ...

... die Documenta zu betrachten (Teil 1)

Unter der Blog-Rubrik Schreibanregungen findet man am 13. März 2017 ein Gedicht von Wallace Stevens: Dreizehn Arten, eine Amsel zu betrachten. Seit ich es kennen gelernt habe, ist es einer meiner Lieblingsschreibimpulse. Und so habe ich ihn auch verwendet, um einen Blick oder 13 Blicke oder 100 Blicke auf die Documenta zu werfen. Die ersten können jetzt hier gelesen werden:

24 Arten, die Documenta 14 zu betrachten
I. Noch nichts gefunden, an dem ich etwas verlernen könnte.
II. Weil es Ithaka gibt und ich es erst ganz am Ende erreichen werde, muss mir Ithaka nichts mehr sein, weil alles alles davor nur passiert ist, weil ich auf dem Weg nach Ithaka war, und das war es ja dann, was Ithaka mir war.
III. Der Zwang zur Norwegisierung, dem die Sami ausgesetzt sind, führt zu Vorhängen und Halsschmuck aus Rentierschädeln in alter dunkler Posthalle.
IV. Wer hat Schloss aus Glas je auf welchen Index gesetzt, sodass es das Recht hat, eingeschweißt den Sommer auf dem Friedrichsplatz zu verbringen (wobei ich dieses Buch unbedingt zu lesen empfehle).
V. Wenn Elefanten kämpfen, leidet der Frosch und Fluxus aufersteht im und am Küchengraben und die Gänse schnattern was auch immer, nur Ben Patterson ist schon tot.
VI. Wenn man nichts verstehen will, versteht man auch nichts.
VII. Indigo kommt aus grünen Pflanzen, die das Blau als ihr Geheimnis bewahren.
VIII. Und alle wissen, wo sie nach Lösungen zu suchen haben, nur die nicht, die mitten im Problem sitzen.
IX. Ich sehe das, was in meine Kategorien passt, und trete einen Schritt zurück, als ich Kassel lese statt Minsk oder Incirlik.
X. Warum muss ich Kaffee aus Pappbechern und für 3,80 Euro trinken?
XI. Die Suche, immer die Suche nach der Ästhetik des Widerstands (auch Jahrzehnte nach der Lektüre von Peter Weiss), nach dem, wie sich Kunst zur Gesellschaft stellt und lustvolle und farbenfrohe Antikategorien entwirft; fündig geworden in der Gottschalkhalle.
XII. Zu viel Dokumentarisches, sagte Friedrich. Zu wenig Farbe, sagte Marie-Luise. Die Kunst liegt unter dem Hauptbahnhof, schrieb Barbara.
XIII. In meinem Garten blüht roter Mohn – und ich weiß nicht, ob es der ist, den ich von Karla bekam, oder der, der zehn Jahre gebraucht hat, um von Kassel nach Kaufungen zu wehen.
XIV. In Resonanz zu gehen, kann zu Verhaftungen führen, wenn es um das echte Leben jenseits der Kunst geht, in dem nämlich Krauss-Maffay-Wegmann Kriegsgerät im Namen der Bundesregierung für Saudi-Arabien herstellt.
XV. 82 Übersetzungen von Goya-Gemälden und ein Trojanisches Pferd, das an Johanni verbrannt wurde, also entkommt doch niemand der Verdammnis – erst angetan, dann in Distanz, jetzt im Zweifel, ob dieser Künstler schon einmal etwas von Hexenverbrennungen oder sich gerade darauf ...
XVI. Die Annahme einer Multiperspektivität und das In-Erwägung-Ziehen, dass ich nicht Recht habe, ermöglicht das Staunen.
XVII. Die Essbare Stadt ist auch dabei und die Werkstatt und Jana.
XVIII. Barbara kommt. Marion kommt. Christine kommt.
XIX. Mich interessiert nicht, was die KünstlerInnen mir sagen wollen – ich bin eine Amöbe.
XX. Die Gazekugel – hineingeschmuggelt und nicht entfernt (so wie der Sandwichdemonstrant).
XXI. Wenn die Banane in der Pyramide etwas erzählen könnte, würde sie dann von Flüchtlingen erzählen, die als Blinde Passagiere auf ihr nach Europa kamen?
XXII. Auf einmal ist alles bedeutsam.
XXIII. Sind wir nicht alle Documenta? Sei Documenta! Leg dich im Fridericianum auf das Lichtmosaik – ähm, nein, so hatte ich das nicht gemeint, tiefer, anders eben, grundsätzlicher, wesentlicher natürlich. Ich scheitere.
XXIV. Und weißer Rauch steigt auf: Habemus ... – oder alles Schall und Rauch?


16. Juli 2017

Zeiten schreiben

Schreiben in den und über die Zeiten

Vor einigen Wochen durfte ich einmal mehr von der schreibmethodischen Kreativität meiner Kasseler Kollegin und Freundin Carmen Weidemann profitieren. Ich skizziere hier also ihre Schreibanregung in drei Schritten:
Schritt 1 – Gegenwart: Schreib einen Text, der in der Gegenwart spielt und in dem ausschließlich die grammatische Gegenwart, also das Präsens erlaubt ist.
Schritt 2 – Vergangenheit: Nimm einen zentralen Satz aus deinem eben geschriebenen Text (in der Schreibwerkstatt haben wir die Sätze verlost, sodass jedeR einen ,fremden’ Impuls hatte) und benutz ihn als Impuls für einen Text, in dem zurückgeblickt wird und alle Vergangenheitszeiten erlaubt sind, Perfekt, Imperfekt/Präteritum und Plusquamperfekt.
Schritt 3 – Zukunft: Wähl ein Wort aus dem letzten Text (in der Schreibwerkstatt haben wir die Wörter verlost) und benutz es als Impuls für einen Text, der vorausschaut und in dem Futur I und II verwendet werden dürfen.
Die anderen grammatischen Zeiten sind jeweils tabu. Es kann spannend sein, alle drei Texte zum gleichen Thema zu schreiben oder sich bewusst mit einer autobiografischen Frage zu befassen.


10. Juli 2017

Wider den Genderhass

Argumente gegen rechtspopulistische und antifeministische Positionen

In der Kasseler Frauenzeitschrift K(r)ampfader (II. Quartal 2017) las ich einen Text, der mich erschreckte und begeisterte und überzeugte und den ich deshalb in die Netzwelt stellen möchte. Der Text der Soziologiestudentin Rebekka Blum heißt „Angst um die Vormachtstellung. Antifeminismus und Genderhass sind ein Bindeglied zum Rechtspopulismus“.
Der Text ist zuerst erschienen in iz3w Nr. 359, März/April 2017 (www.iz3w.org/zeitschrift/ ausgaben/359_rechtspopulismus), herausgegeben vom informationszentrum dritte welt in Freiburg. (Die iz3w erscheint seit 1970 und ist eine der ältesten unabhängigen ent­wick­lungspolitischen Zeitschriften in Deutschland.)
Gestern schrieb Susanna Naumann, eine meiner Studentinnen an der Uni Kassel: „Alle Menschen sollten Feministinnen und Fe­mi­nisten sein.“ Und genau darum geht es. Und vielleicht könnte ja eine Aktion sinnvoll sein, bei der Frauen und Männer schreiben, warum sie FeministInnen sind oder den Feminismus für mindestens genauso nötig halten wir vor 40 Jahren.


3. Juli 2017

Das ß jetzt auch in groß!

Alte Fragen und neue Freude

Och, nun, was soll man sich über so etwas groß (GROSS geht ja jetzt nicht mehr) aufregen oder was soll man sich darüber auslassen? Also nur ein paar Wörterchen. Zum Aufregen (wie es viele der Menschen, die ich am vergangenen Wochenende traf, taten) finde ich an der neuen Erfindung nichts.
Dass das ß nicht abgeschafft worden ist, fand ich gut, damals bei der letzten Rechtschreibreform. Dass es das ß nicht als Großbuchstaben gab, hat mich schon als Kind irritiert, musste ich doch dann Straße falsch schreiben, schrieb ich es in Großbuchstaben. Irritierend, dass die Erwachsenen offensichtlich da etwas übersehen hatten. Wer konnte dafür verantwortlich gemacht werden? Die befragten Lehrkräfte schüttelten die Köpfe, zuckten mit den Schultern. Als ich dann selbst erwachsen war, hatte ich mich daran gewöhnt. Die Regeln kannte ich, ich wendete sie automatisch an, also: freier Platz im Gehirn für andere Fragen.
Und dann vollkommen unerwartet, mitten im Jahr 2017 (am 29. 6.), in meinem 57. Lebensjahr, knapp 50 Jahre nach meinen Irritationen, haben sich irgendwelche Erwachsenen plötzlich besonnen und diesen merkwürdigerweise vollkommen deutschen (und österreichischen) Gegenstand, das ß, auch als Großbuchstaben erfunden. Das nahm ich dann auch zum Anlass, mal in die Historie zu schauen – und siehe da, schon 1879 gab es in der Fachzeitschrift Journal für Buchdruckerkunst zum ersten Mal den Vorschlag, auch ein großes ß einzuführen; und 1925 wurde die Notwendigkeit, diesen Buchstaben zu kreieren, im Duden genannt. Gedauert hat es dann noch einmal 92 Jahre bis zur Einführung (vgl. wikipedia.org/wiki/Großes_ß).
Überzeugend ist das grafische Ergebnis keinesfalls, aber da kann man ja noch was machen, eine Schriftenentwicklerin vielleicht, die sich als Grundschülerin die gleichen Fragen stellte wie ich. Aber dass es das ß jetzt als Großbuchstaben gibt, ist meines Erachtens eine großartige Sache. Ich freue mich, kein Wort mehr falsch schreiben zu müssen. Wie der neue Buchstabe in meinen Computer kommt, muss ich noch herausfinden ...


26. Juni 2017

Wie Schreiben passiert

Juli Zeh: Grimm-Gastprofessorin 2017

„Sie versteht es, politisches Engagement mit literarischer Finesse zu verbinden.“ Stefan Greif, der Professor für Literaturwissenschaft sagte das am 20. Juni über Juli Zeh in seiner kurzen Einführung zur Vorlesung der Schriftstellerin, die in diesem Jahr die Grimm-Gastprofessur des Instituts für Germanistik an der Universität Kassel inne hatte. Sie schreibe gar keine politischen Romane und stehe immer noch ratlos und glücklich vor dem, was Literatur ausmacht, sagte wenig später Juli Zeh. Der Abend versprach spannend zu werden. Und das wurde er für rund 400 Zuhörende im großen Hörsaal an der Moritzstraße.
Spannend, witzig und geistreich schlug Juli Zeh den Bogen ihres literarischen Schaffens von ihrem ersten Roman, den sie mit zehn schrieb und unter den Dielenbrettern unter ihrem Kinderzimmerfußboden versteckte, bis zu ihrem 2016 erschienenen Roman Unterleuten (Luchterhand 2016) der das Universum eines brandenburgischen Dorfes mit all seinen Individualuniversen einzufangen versucht. Sie erzählte anderthalb Stunden lang über ihr Schreiben und über das, was sie eigentlich immer vorrangig zu tun hatte, während sie ihre Romane schrieb: das erste und das zweite juristische Staatsexamen bestehen, Kinder gebären und versorgen usw. Schreiben, Literatur sei nichts, was sie mache, schon gar nicht unter (Auftrags-)Druck; es passiere, und es gelinge, „wenn man sich gerade nicht anstrengt“ (Nachtschichten allerdings lassen sich dann nicht verhindern).
Juli Zeh sprach mir aus der Schreibpädagogin-Seele. Wenn meine SchreibschülerInnen etwas unbedingt wollen, dann kommt meist eher etwas Verkrampftes, etwas Gewolltes eben, heraus; wenn sie sich aber erlauben, einfach zu schreiben, etwas geschehen zu lassen, dann entstehen oft ganz besondere Stücke – das zeigend, was bewegt, wo echte Fragen sind, was so vielleicht auch noch nie jemand geschrieben hat.
Eine Poetik wolle und könne sie nicht bieten („Poetik ist das, was Autoren erfinden, wenn sie zu Poetikvorlesungen eingeladen werden“), sie tue das, was alle Menschen tun, was also menschlich zu nennen ist: Wir aktivieren die erzählerische Instanz in uns und bilden Narrationen, um die uns überwältigende und überfordernde Überfülle in ein Ordnungssystem zu bringen. Also: „Wir sind alle Ich-Erzähler.“ Und das sind wir auch, wenn wir nicht in der 1. Person singular erzählen. Das sind wir, wenn wir die Weltendinge, die uns in Unruhe verstzen, die uns Rästel aufgeben und drängende Fragen aufwerfen, erzählend versuchen zu fassen. Juli Zeh versuchte das in bisher sechs veröffentlichten Romanen sowie Theaterstücken und Kurzgeschichten.
Mich hat besonders ihr zweiter Roman Spieltrieb (Schöffling & Co. 2004) gefesselt, den ich tatsächlich als überaus politisch empfinde, greift er doch gesellschaftliche Phänomene auf, die sich in den 13 Jahren seit Erscheinen des Romans massiv intensiviert haben: Manipulation, Missbrauch, Lügen, Mobbing, Kälte und massive moralische Unsicherheit an Schulen. Und einen politischen Anspruch scheint Juli Zeh doch auch zu haben, denn in ihrem Abschluss-Statement kritisierte sie überaus scharf diejenigen, die einfache Lösungen wieder salonfähig machen, und pädierte für die Multiperspektivität als Metapher: Davon auszugehen, dass die Gesellschaft aus sieben Milliarden Einzelperspektiven bestehe, hindere das Individuum daran, aus seiner Ich-Perspektive heraus ein Recht auf Macht abzuleiten – und zu hassen. Wie auch sonst sollte man leben unter Leuten?


19. Juni 2017

Sieben Stichworte von mir

im ersten Wörterbuch des Kreativen Schreibens

Das erste deutsche Wörterbuch des Kreativen Schreibens enthält 285 Stichworte von Abecedarius bis Zwei-Minuten-Text. Ergänzt werden die theoretischen Ausführungen durch viele Übungen und Literaturverweise. Das Wörterbuch stellt neben den deutschen und europäischen Ansätzen des Kreativen Schreibens auch die Entwicklung und Praxis des Kreativen Schreibens in den USA, in China und Lateinamerika dar; auch gibt es Kurzportraits von SchreibforscherInnen aus aller Welt. Durch seine Vielfalt ist das Wörterbuch hilfreich für die Stimulierung kreativer Prozesse – egal ob in Schule, Hochschule oder Betrieb. Der Einzelschreibende und auch Schreibgruppen können mit diesem Wörterbuch Themen und Methoden finden und Einstiege zur Bearbeitung ihrer Schreibstörungen entdecken. Das Werk zeigt das Universum dessen, was Kreatives Schreiben im digitalen Zeitalter ist, wozu es sich (in Deutschland) in viereinhalb Jahrzehnten entwickelt hat. So kann man es auf vielfältige Weise als Begleiter benutzen.
Beiträge zu den Stichwörtern geliefert haben neben Lutz von Werder als Initiator und Herausgeber 24 im Bereich des Kreativen Schreibens hochqualifizierte AutorInnen, darunter auch ich. Ich habe Beiträge geschrieben zu sieben Stichworten, die meinen wissenschaftlichen und Unterrichts-Schwerpunkten entsprechen: Didaktik allgemein (S. 145ff.), Didaktik des Kreativen Schreibens (S. 147ff.), Haiku (S. 232 ff.), Schreiben in Gruppen – die Geschichte (S. 575ff.), Schreibgruppen-Dynamik (S. 584ff.), Schreibgruppen-Pädagogik (S. 587ff.), Segeberger Kreis – Gesellschaft für Kreatives Schreiben e.V. (S. 646ff.).
Sicherlich kann man vieles auch anders beschreiben; und gerade dadurch, dass das Werk sehr von-Werder-lastig ist und viele der Menschen, die im Kreativen Schreiben z.B. in den Kontexten Schule und Hochschule sich einen Namen gemacht haben, nicht als AutorInnen dabei sind, sollte es mit überaus kritischem Blick gelesen werden – aber es ist in seiner Einzigartigkeit unbedingt zu würdigen und zu empfehlen.
Als Kostprobe kann man den Beitrag zum Haiku lesen: Haiku.

Lutz von Werder & Friends Das Wörterbuch des Kreativen Schreibens. Begriffe, Textsorten, Übungen, Schreibspiele, Schreibtheorien, Schreibtherapien, Schreibpädagogik
Schibri-Verlag, Berlin 2017, 840 Seiten, Broschur, 2 Bände (A–O, P–Z)
ISBN 978-3-86863-070-1 / 978-3-86863-180-7, 49,80 Euro


12. Juni 2017

Stufenweises Tiefergehen

Feedback gehört zum Schreibprozess 6

In der Vorbereitung zu meinem neuen Modul an der Alice Salomon Hochschule (zu Pädagogik und Reflexivem Schreiben) habe ich diverse neue spannende Feedbackmethoden gefunden, die teilweise andere Dimensionen berühren als die, die ich bisher kannte und in meinen Gruppen angewandt habe. Als erste stelle ich das Stufenmodell von Zimmermann/Rickert vor, mit dem man sich bewusst machen kann, welche Art des Reagierens auf Texte Anderer man bisher gewählt hat, mit dem man aber auch in kleinen Schritten tiefer gehen und so lernen kann, was hilfreiches Feedback ist.
Zimmermann/Rickert benutzen den Begriff der Transaktivität für das kooperative und interaktive schreibbasierte Kommunizieren und Lernen. „Durch transaktives Sprach- beziehungsweise Schreibhandeln selbst gelangen Schreiberinnen zu neuen Inhalten. Transaktive Sprachhandlungen sind Ausdruck jener Denkprozesse, mit deren Hilfe Schreibende weiterführende Ideen generieren“ (Zimmermann/Rickert 2015: 94). Sie haben ein Kategorienraster entwickelt, mit dem sich die Tiefe der Transaktivität und damit in Folge auch die Qualität des Lernens bestimmen lässt:

  • Auf Stufe 1 erfolgt keine Bezugnahme zum Geschriebenen.
  • Auf Stufe 2 wird das Geschriebene wiederholt.
  • Auf Stufe 3 wird dem Geschriebenen zugestimmt oder es abgelehnt, ohne eine Begründung zu geben.
  • Auf Stufe 4 wird Zustimmung oder Ablehnung begründet, aber diese Begründung nicht differenziert.
  • Auf Stufe 5 wird Zustimmung oder Ablehnung differenziert, aber nicht begründet.
  • Auf Stufe 6 wird Zustimmung oder Ablehnung begründet und differenziert.

Quelle: Zimmermann, Tobias / Rickert, Alex (2015): Austausch in Onlineforen. Wie Kategorien die Lernwirksamkeit von Diskussionen steigern. In: Honegger, Monique / Ammann, Daniel / Hermann, Thomas: Schreiben und Reflektieren. Denkspuren zwischen Lernweg und Leerlauf. Bern: hep verlag: 83–96 (hier: 87).


5. Juni 2017

Welche Hautfarbe hat Kreativität?

Ein Denkanstoß zu Pfingsten

Im Schaukasten am Zaun der Kommune Niederkaufungen, der derzeit Flucht und Rassismus fokussiert, fand ich Folgendes:
„62 Personen besitzen so viel wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung, also 3,6 Milliarden Menschen. [...]
Welche Hautfarbe hat Kreativität? [...]
Welche Augenfarbe hat Freundlichkeit?“


29. Mai 2017

Schreiben in der Gruppe

Reißverschluss-Texte

Suchen Sie sich eine Gruppe oder nutzen sie die nächste Feier mit FreundInnen und schreiben Sie Texte, an denen die ganze Feierrunde beteiligt ist. Die Reißverschluss-Texte entstehen folgendermaßen:
JedeR schreibt einen ersten Satz auf ein eigenes DIN A4-Blatt, denkt sich den zweiten Satz, schreibt ihn aber nicht auf, sondern dann wieder den dritten Satz. Dann geben alle ihre Blätter nach rechts weiter. Die/Der Zweite schreibt den zweiten fehlenden Satz. Die Blätter werden wieder weitergegeben. Die/Der Dritte in der Runde denkt sich den vierten Satz und schreibt den fünften. Die/Der vierte Schreibende schreibt den vierten Satz. Außer ganz zu Anfang (da schreibt jedeR zwei Sätze) schreibt jedeR immer nur einen Satz.

Die Gruppenleitung kann die Satzabfolge unterstützend auf einem Blatt, das in der Mitte liegt, auflisten:

  1. SchreiberIn: 1. + 3. Satz
  2. SchreiberIn: 2. Satz
  3. SchreiberIn: 5. Satz
  4. SchreiberIn: 4. Satz
  5. SchreiberIn: 7. Satz
  6. SchreiberIn: 6. Satz ...

Als Erleichterung können alle immer ihre Sätze bzw. Zeilen nummerieren. Es hat sich auch bewährt, dass alle gleichzeitig weitergeben und die Gruppenleitung zu dem Zeitpunkt immer noch mal ansagt, was als nächstes zu tun ist: Lücke füllen oder Lücke lassen.
Sie sollten bei einer kleinen Gruppe (vier bis sechs Personen) die Blätter zwei Runden wandern lassen, sodass – wenn Sie vier Personen sind und jedeR das eigene Blatt zum zweiten Mal wieder vor sich hat – am Ende auf jedem Blatt neun Sätze stehen. Am Ende schreibt jedeR noch einen Schlusssatz.
Unbedingt muss man darauf aufmerksam machen, leserlich zu schreiben.


22. Mai 2017

6. Nordhessischer Autorenpreis

Einsendeschluss in einem Monat

AN DER GRENZE – was für ein Thema! Wahrscheinlich fällt es vielen schwer, sich zu entscheiden, von welcher Grenze denn nun zu schreiben sei. Von der Grenze des guten Geschmacks, von der Grenze zwischen Atlantik und Pazifik, von der Grenze im Kopf ... Und überschritten werden können ja auch alle Grenzen, an denen man steht. Und dann, was passiert hinter der Grenze?
Weitere Assoziationen und die Teilnahmebedingungen finden Sie hier.


15. Mai 2017

30 Jahre alt

... und so wahr wie damals

Als man in Deutschland noch die Schreibbewegung belächelte oder gar lächerlich machte, schrieb Umberto Eco:„Der Mensch ist ein Wesen, das dazu neigt, sich interesselos auszudrücken, ohne ein praktisches Ziel, aus reinem Vergnügen am Ausdruck - durch Singen, durch Tanzen, durch Bilder, durch Worte und somit auch durch geschriebene Texte. Fast alle singen aus Freude am Singen, sei’s einsam unter der Brause oder gemeinsam auf einem Fest, aber die Mehrheit denkt nicht daran, zur Scala zu gehen. Viele zeichnen und malen und zeigen womöglich im Freundeskreis Karikaturen, Skizzen und Aquarelle, aber sie streben nicht in die Uffizien. Sehr viele spielen ein Instrument, tun sich zu Gruppen zusammen und geben kleine Konzerte, aber sie trachten nicht nach einem Auftritt in der Carnegie Hall. Und bringen sich nicht um, wenn sie’s nicht schaffen. Mithin sollte auch das Schreiben von Gedichten, Geschichten, Tagebuchseiten und Briefen etwas sein, was alle tun, so wie man Fahrrad fährt, ohne dabei an den Giro d’Italia zu denken“ (DIE ZEIT, 13. 2. 1987).
Ist das nicht schön?! Warum schreiben? Warum nicht schreiben? Warum nicht schreiben?


8. Mai 2017

Wortweise Wege gehen

7. Kasseler Schreibcafé am 11. Mai

Das 7. Kasseler Schreibcafé steht ganz im Zeichen von Sprachkürze und Denkweite. Die Gedanken fließen in ein einziges Wort. Es steht am Anfang eines Wortweges. Durch Weglassen, Hinzufügen und Austauschen einzelner Buchstaben entsteht ein neues Wort. Hinter jedem Wort kann sich dann ein Wortraum öffnen. Das 7. Kasseler Schreibcafé wird veranstaltet vom Netzwerk Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen in Kooperation mit dem Café am Bebelplatz. Am 11.Mai kann man ab 19 Uhr unter der Leitung von Ellen Volkhardt ganz zwanglos in die Welt der Buchstaben eintauchen. Dabei werden Worte geschöpft, gefunden, verwandelt. Wer möchte, kann seinen so gehobenen Wortschatz in ein kleines Büchlein zusammenheften. Materialien dafür sind vorhanden.

Veranstalter   Netzwerk Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen,
in Kooperation mit dem Café am Bebelplatz
LeitungEllen Volkhardt
TerminDonnerstag, 11 Mai 2017
Zeit19 bis ca. 21.30 Uhr
OrtCafé am Bebelplatz, Friedrich-Ebert-Straße, Kassel, Tram 4 + 8
Eintritt5 Euro + 1 Getränk im Café


1. Mai 2017

Eine Einladung

3 Wörter, 10 Sätze

„Willkommen zu einer neuen Runde Wörter, liebe Befallene vom 10-Satz-Wahn, liebe abc.etüden-Fans und alle, die sich immer noch überlegen, ob sie es vielleicht werden könnten, und hallo ihr da draußen, die ihr noch nie was davon gehört habt und nur zufällig hier gelandet seid.“ So beginnt der Aufruf, bei dem ich gestern gelandet bin, weil eine ehemalig nach Franken verzogene Schreibschülerin mich ,aufforderte’, doch mal ... Also, da gibt es eine Seite im Netz, auf der jede Woche drei Wörter veröffentlicht werden, die alle, die dort landen, wie ich gestern, dazu aufrufen, aus diesen, mit diesen drei Wörtern einen 10-Sätze-Text zu machen. Was für eine Idee! Die Wörter für diese erste Mai-Woche: Paradeiser, Schlawiner, Kinkerlitzchen (gespendet von Jule Pfeiffer-Spiekermann. Also dann – auf geht’s. Und wenn’s diese Woche nicht geht, hier ist der Link, nächste Woche gibt es bestimmt wieder drei inspirierende Wörter (oder auch ohne inspirierende, denn Wörter sind das doch für Schreibende immer: inspirierend!).
Schreibeinladung


24. April 2017

Anders denken

Das Bewusstsein bestimmt das Sein

Was Ulla Hahn sich gedacht hat, als sie das Gedicht schrieb, weiß ich nicht. Was ich gedacht habe, als ich es zum ersten Mal las, weiß ich noch: Das kann man auch ganz anders sehen! Und dann habe ich es in meiner allerersten Frauenschreibwerkstatt verteilt mit der Aufforderung (die ich jetzt auch hier ausspreche): Schreib das Gedicht um in eine kraftvolle (wenn frau so will: positive) Variation!

Ich bin die Frau
Ich bin die Frau
die man wieder mal anrufen könnte
wenn das Fernsehen langweilt

Ich bin die Frau
die man wieder mal einladen könnte
wenn jemand abgesagt hat

Ich bin die Frau
die man lieber nicht einlädt
zur Hochzeit

Ich bin die Frau
die man lieber nicht fragt
nach einem Foto vom Kind

Ich bin die Frau
die keine Frau ist
fürs Leben


17. April 2017

Ostereier?

Drei Statt-Oster-Eier-Zitate

  1. „Mit sich beginnen, aber nicht bei sich enden, bei sich anfangen, aber sich nicht selbst zum Ziel haben.“ (Martin Buber)
  2. „Die Freiheit, etwas anders zu glauben, etwas anders auszusehen, etwas anders zu lieben, die Trauer, aus einer bedrohten oder versehrten Gegend zu stammen, den Schmerz der bitteren Gewalterfahrung eines bestimmten Wirs – und die Sehnsucht, schreibend eben all diese Zugehörigkeiten zu überschreiten, die Codes und Kreise in Frage zu stellen und zu öffnen, die Perspektiven zu vervielfältigen und immer wieder ein universales Wir zu verteidigen.“ (Carolin Emcke, aus der Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandles 2016)
  3. „Niemand hungert, weil wir zu viel essen. Sondern weil wir zu wenig denken.“ (anonym)


10. April 2017

Listentexte helfen …

… um ins (lustvolle) Schreiben zu kommen

Eine meiner neuen Schreibschülerinnen blieb nach zwei Terminen weg. Nach dem zweiten, an dem wir oulipotische Experimente gemacht hatten, schrieb sie mir, wie dumm und mickrig sie sich vorgekommen sei, wie gut die Anderen schreiben, dass ihre aus der Schule mitgebrachte Angst vor dem Schreiben, die sie eigentlich in der Schreibwerkstatt hatte abbauen wollen, sich nur noch gesteigert habe. Ob sie wiederkäme, wüsste sie noch nicht.
Ich war erschüttert.
Dann schrieb ich ihr eine ausführliche Mail zu meinem Verständnis von Schreibwerkstatt; am Ende der Mail gab ich ihr folgende Tipps: Listentexte sind eine gute Möglichkeit, ins Schreiben zu kommen; du kannst einfach mal ein paar Listentexte zu schreiben ausprobieren, jetzt in den Ferien, vielleicht machen sie dir Spaß. Ich gebe dir drei Anregungen: eine von Brecht (Vergnügungen), eine von Heißenbüttel (Heimweh); du kannst einfach mal die Form nachahmen, also eine Liste mit deinen Vergnügungen anfertigen, einen Text schreiben, bei dem jede Zeile gleich anfängt, vielleicht auch mit „Ich erinnere mich ...“. Eine dritte Anregung heißt, einen Text nur aus Fragen zu erstellen (siehe dazu: Blogeintrag vom 27. März 2017).

(Bertolt Brecht)
Vergnügungen

Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee, der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein

(Helmut Heißenbüttel)
Heimweh

nach den Wolken über dem Garten in Papenburg
nach dem kleinen Jungen der ich gewesen bin
nach den schwarzen Torfschuppen im Moor
nach dem Geruch der Landstraßen als ich 17 war
nach dem Geruch der Kommissspinde als ich Soldat war
nach der Fahrt mit meiner Mutter in die Stadt Leer
nach den Frühlingsnachmittagen auf den Bahnhöfen der Kleinstädte
nach den Spaziergängen mit Lilo Ahlendorf in Dresden
nach dem Himmel eines Schneetags im November
nach dem Gesicht Jeanne d’Arcs in dem Film von Dreyer
nach den umgeschlagenen Kalenderblättern
nach dem Geschrei der Möwen
nach den schlaflosen Nächten
nach den Geräuschen der schlaflosen Nächte

nach den Geräuschen der schlaflosen Nächte


3. April 2017

Antworten …

... weil jemand gefragt hat

Am letzten 1. April schickte mir eine meiner SchreibschülerInnen (Viktoria Ahrend) eine Liste mit Fragen (die sie auch an andere Bekannte und FreundInnen versandte) und bat um Antworten. Sofort, spontan und lustvoll beantwortete ich sie. Ja, es ist eine Lust, auf solche Fragen zu antworten, erlauben sie doch, in spielerischer Weise ein kleines Portrait in Metaphern aus dem Moment heraus zu erstellen. Und laden sie doch ein zum Dialog darüber, was die Fragenstellerin aus dem liest, was geantwortet wurde.
Hier sind die Fragen:

Wenn ich eine Farbe sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich eine Land sein könnte, welches wäre ich dann:
Wenn ich ein Tier sein könnte, welches wäre ich dann:
Wenn ich mir ein Geschlecht aussuchen könnte, welches würde ich wählen:
Wenn ich ein Material sein könnte, welches wäre ich dann:
Wenn ich eine Pflanze sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich ein Kleidungsstück sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich eine Sportart sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich ein Beruf sein könnte, welcher wäre ich dann:
Wenn ich ein Wetterzustand sein könnte, welcher wäre ich dann:
Wenn ich ein Gefühl sein könnte, welches wäre ich dann:
Wenn ich eine Zahl sein könnte, welche wäre ich dann:
Wenn ich ein Instrument sein könnte, welches wäre ich dann:

Dieser Fragebogen hat berühmte Vorbilder: Max Frisch hat in seinen Tagebüchern Fragebögen entworfen, die dazu einladen zu antworten. In Magazinen großer Tages- und Wochenzeitungen (FAZ, DIE ZEIT) sind jahrelang jede Woche öffentlich bekannten Personen die gleichen Fragen gestellt worden, sodass man aus den Antworten ein Charakterbild herauslesen konnte.
In meinen Schreibwerkstätten setze ich Fragebögen, ähnlich dem meiner Schreibschülerin, ein, also solche, die ein Portrait in Metaphern zeichnen. Die ausgefüllten Fragebögen werden verlost und anonym vorgelesen – die Gruppe rät, wer sich hinter den Antworten verbirgt.


27. März 2017

Antworten – warum?

Der Sog von Fragen

Angestochen durch das Buch Roman in Fragen von Padgett Powell habe ich vor einigen Wochen angefangen, reine Fragentexte zu schreiben. Und bin nach dem Lesesog in einen regelrechten Schreibsog geraten. Echte Fragen, noch nie gestellte Fragen, sinnlose Fragen, banale Fragen philosophische Fragen, Fragen à la Pablo Neruda – diese Art des Schreibens ist eine (zumindest mich gerade) faszinierende Mischung aus Reflexion und (fast) Automatischem Schreiben. Hier eine meiner Texte aus diesem Monat als Kostprobe:

Fragen
Wird die Welt heil? Wer nur sehnt sich nach dem Paradies? Was hat Luther mit den Nationalsozialisten zu tun? Wer stöhnt da schon wieder? Warum habe ich keinen E-Bass? Wobei soll ich denn den Waschbär beobachten? Was bringt es, Handball im Fernsehen zu schauen? Welche Socken passen an Barbaras Füße? Kommen Engel bei Fehlverhalten in die Hölle? Was zagst du? Kann ich eine Fahrt auf der Hoppetosse buchen? Laufen Isländerpferde auch auf Island im Passgang? Was bedeutet Tölt? Warum steht das Wort immermehr nicht im Duden? Wohin soll der Wind denn übermorgen mal wehen? Kommen Botschafter mit Botschaften oder mit Spionageaufträgen? Gibt es Botschafter mut Botenstoffen? An welchen Stellschrauben könnte ich mal drehen? Welches Gefüge lechzt danach, aus den Angeln gehoben zu werden? Woher wissen Wildschweine, wo es sich gut suhlen lässt? Brauchen wir einen Erdogan? Welche Präsidenten müssen der Welt noch widerfahren, bis die Menschen merken, was sie tun? Wohin gehen die Träume, an die ich mich morgens nicht mehr erinnere? Bleiben wirklich alle Energien erhalten? Was bedeuten Pyramiden? Warum sieht das S wie eine Schlange aus? Woher weiß man, dass Granatäpfel genießbar sind? Enden alle Geschichten mit dem Tod? Würde ich ein Elixier trinken, das mich ewig leben lässt? Wann verziehe ich endlich? Was ist Treue? Warum schaut sie wie eine Mörderin? Zu welchen Handlungen sollen Schokolade und Massage mich bewegen? Warum zerren Menschen mit niedriger Energiefrequenz an denen mit hoher? Warum gelten Blutegel als heilsam? Wobei darf niemand jemand anders beobachten? Wie haben sich die Menschen gefühlt, als sie noch nicht „Ich“ sagen konnten? Wohin gehen die Gedanken, die ich beim Yoga ziehen lasse? Warum geben gewisse Zeitungen gewissen populistischen Strömungen eine tägliche Plattform? Wann fallen wilde Horden in die Vorgärten der Braven ein?

Padgett Powell: Roman in Fragen (übersetzt von Harry Rowohlt), Berlin Verlag 2012 (1. Auflage 2009)


20. März 2017

Treideln

Lesen!

Was für ein Buch! Ich lese eigentlich kein Buch zweimal (na ja, ein paar wissenschaftliche Aufsätze habe ich schon mehrmals gelesen – und mich gewundert, was ich alles überlesen hatte oder wie ich unter einer neuen Fragestellung etwas ganz Anderes herauslesen kann). Dieses Buch habe ich zwar vom Nachttisch zum Bücherregal getragen, ich werde es aber noch heute wieder zurück zum Nachttisch (möglicherweise auch zum Arbeitstisch) tragen. Denn es ist fantastisch. Massenhaft Sätze à la Max Frisch (Schreiben heißt: sich selber lesen). Und diese Sprache: so nah an der Autorin (nehme ich an) und mich trotzdem meinend (nehme ich an). Und das Fragmentarische (frühromantische Vorwegnahme des die Welt nicht anders fassen könnenden postmodernen Stils), das sich dann doch zu einem Ganzen fügt. Und natürlich das Treideln, das Mäandern, das Umwege-Gehen, das Schlingern, das Straucheln, das Treideln eben. Treideln, von Juli Zeh. Die ich bewundere, nicht für Schilf, eher für Spieltrieb. Und für Treideln.


13. März 2017

Dreizehn Arten ...

... eine Amsel zu betrachten

Diese Woche bin ich auf Sylt, mit einer Gruppe zum Schreiben. Dort werde ich auf jeden Fall die Teilnehmenden dazu ermuntern, zweite und dritte Blicke nach den ersten auf etwas zu werfen. Ich versuche, die Möglichkeit zu eröffnen, dass jedeR einen eigenen Fokus findet, spätestens am vierten Tag. Und bei diesem auch bleibt. Sich einlässt, tiefer geht. Und dazu kann vielleicht ein Gedicht den entscheidenden Impuls geben: Dreizehn Arten eine Amsel zu betrachten von Wallace Stevens.
Das Gedicht ist schon Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden, inspiriert aber bis heute viele SchriftstellerInnen, z. B. Bengt Emil Johnson. In seinem Gedichtband Elchzeit gibt es zwei die Amsel-Betrachtungen adaptierende Gedichte: 32 Arten Elstern zu betrachten und 20 Stationen am Olsjömoor. Günter Ohnemus hat gleich Siebenundsechszig Ansichten einer Frau daraus gemacht; dieses Buch kann man als Kürzestgeschichtensammlung, aber auch als 67 Blicke auf eine Frau und ihre Lebensäußerungen lesen.
Hier nun das Gedicht von Stevens, als Anregung, in einer Übersetzung von meinem Bruder Jens Alers:

Dreizehn Arten, eine Amsel zu betrachten
von Wallace Stevens

I
Zwischen zwanzig verschneiten Bergen,
war das einzige sich bewegende Ding
das Auge der Amsel.

II
Ich war drei Sinne,
wie ein Baum
in dem drei Amseln sitzen.

III
Die Amsel wirbelte in den Herbstwinden.
Sie war ein kleiner Teil der Pantomime.

IV
Ein Mann und eine Frau
sind eins.
Ein Mann und eine Frau und eine Amsel
sind eins.

V
Ich weiß nicht was ich bevorzuge,
die Schönheit des Tonfalls
oder die Schönheit der Anspielungen,
die pfeifende Amsel
oder nur danach.

VI
Eiszapfen füllen das lange Fenster
mit barbarischem Glas.
Der Schatten der Amsel
durchkreuzte es, vor und zurück.
Die Stimmung
hinterließ eine Spur im Schatten
einen unentzifferbaren Grund.

VII
Oh ihr dünnen Männer von Haddam,
warum stellt ihr euch goldene Vögel vor?
Seht ihr nicht wie die Amsel
um die Füße
der Frauen bei euch läuft.

VIII
Ich kenne die noblen Akzente
und die klaren, unausweichlichen Rhythmen;
aber ich weiß auch,
dass die Amsel an dem,
was ich weiß, beteiligt ist.

IX
Als die Amsel aus meinem Blickfeld flog
markierte sie den Rand
eines der vielen Kreise.

X
Im Anblick der Amseln,
im grünen Licht fliegend,
würden sogar die Hasen des Wohlklangs
laut aufschreien.

XI
Er ritt herüber nach Connecticut
in einer gläsernen Kutsche.
Eine Furcht hatte ihn einst durchbohrt,
insofern dass er
den Schatten des Gespanns
mit Amseln verwechselte.

XII
Der Fluss bewegt sich.
Die Amsel fliegt wohl.

XIII
Es war den ganzen Nachmittag lang Abend
Es schneite
und es sollte weiterhin schneien.
Die Amsel saß
in den Zweigen der Zeder.

Wallace Stevens: Thirteen Ways of Looking at a Blackbird, in: The Collected Poems of Wallace Stevens. Copyright 1954 by Wallace Stevens. Reprinted with the permission of Alfred A. Knopf, a division of Random House, Inc.


6. März 2017

Oulipotische Versuche

Ohne Verben und mit einem

Das vergangene Wochenende habe ich mit oulipotischen Versuchen verbracht. Mehr dazu nächste Woche! Heute empfehle ich:

  1. einen Text zu schreiben, der ganz ohne Verben auskommt (auch Partizipien sind nicht erlaubt); es ist dabei ratsam, sich erst einmal kein Thema zu setzen, sondern sich von einem Impuls irgendwohin tragen zu lassen, z. B. von: Sieben Wochen ohne.
  2. einen Text zu schreiben, der mit nur einem einzigen Verb auskommt (die Hilfsverben sein und haben, sofern sie zur Bildung der grammatischen Zeiten gebraucht werden, sind ebenfalls erlaubt); es ist hierbei ratsam, in einem ersten Versuch ein Verb zu wählen, das Spielraum lässt, z. B. spielen, gehen oder schreiben. Spannend ist, was während des Schreibens passiert und welches Räume diese Beschränkungen öffnen!


27. Februar 2017

Wie fühlt sich Depression an?

Einfühlungsversuch und Buchtipp

Auf Anregung meines Kollegen Roland Goldack versetzte ich mich letzten Donnerstag in der Schreibwerkstatt in eine Person, die an einer Krankheit leidet – ich wählte die Depression. Hier also mein Versuch, mich einzufühlen, mir vorzustellen, zu verstehen:

Diese Macht ist schwarz. Nicht wie die Nacht so samtig-schwarz, sondern wie ein schwarzes Loch. Es saugt alles an, ein Magnet, ein Monstermagnet mit einem schwarzen eisigen Schlund. In Licht-geschwindigkeit wird alles hineingesogen, alles Rot und alles Gelb und alles Blau, alles, was hell, alles alles. Nichts bleibt verschont. Das schwarze Loch ist die unerbittliche Materie, die alles alles gnadenlos anzieht, einsaugt und eliminiert. Alle Freuden, alles Helle, aber auch alle Leiden, alles Dunkle. Bis nichts mehr da ist, bis ich gar nichts mehr spüre, bis ich gar nichts mehr will – außer tot sein. Es ist die Leere, die das schwarze Loch übrig lässt. Alles verschwindet in seinem Schlund, nur die Leere nicht. Und die Leere, die füllt mich aus, in jeden Winkel dringt sie. Ich reiße die Augen auf, vor Entsetzen. Aber auch, um das kleine Fitzelchen nicht zu übersehen, das sich erfolgreich verstecken konnte, aber da ist nichts. Nur diese Leere. Nicht traurig macht sie mich, nicht bitter, nicht verzweifelt, nicht wütend, sogar die Angst verliert ihre Bedeutung. Nur entsetzt, das bin ich noch, entsetzt, weggesetzt, versetzt, verrückt. Verrückt bin ich. Denn es ist doch so: Das schwarze Loch, das ist in mir. Ich bin es selbst, die alles alles vernichtet, bis nichts mehr übrig ist und ich nur noch tot sein will. Wobei das Ich, das ist es nicht, dass das will. Denn auch das, was Ich oder Selbst oder Persona genannt werden könnte, auch das wird in den Schlund gesogen, unaufhaltsam, unerbittlich, gnadenlos. Da ist keine Hilfe. Und nichts bleibt. Außer der Leere. Da kann ich in die Tagesstätte gehen, Volleyball spielen, die Pferde füttern, Filme schauen, Musik hören, Geschichten schreiben, Freunde treffen, telefonieren – über, unter, neben, hinter allem ist immer dieses Schwarze, das alles vernichtet, kaum ist es geboren. Es duldet keine Götter neben sich, das schwarze Loch, dieses Monstrum, dieses, das in mir ist und doch um so vieles größer und stärker als alles, was ich bin. Ich bin das Plankton in den Barten des schwarzen Lochs. Und weiß nicht wie. Und wo ein Notausgang. Und warum das da ist und nicht aufhört und wie das Gegengift heißt, das die Gravitation aufhebt. Der Gegenzauber. Aus der Leere wird er nicht geboren werden. Ein Phönix wird immer aus dem Feuer geboren, niemals aus der eiskalten Leere, gegen die der Tod sich wie eine himmlische Verheißung ausnimmt. Alles implodiert und das Schwarze. Ich weiß nichts mehr. Es soll endlich aufhören. Es soll weggehen. Und aufhören.

Mehr als ein Versuch ist sicherlich das Buch von Thomas Melle Die Welt im Rücken (2016 bei Rowohlt, Berlin), in dem er in einer Mischung aus autobiografischen Erzählungen, schreibkreativen Annäherungsversuchen und Ausflügen in die Medizin sich mit seiner Krankheit auseinandersetzt. Das Buch kann gelesen werden als die Chronik einer manisch-depressiven Erkrankung, aber auch als ein literarisches Experiment, mittels der Sprache(n) die Vielschichtigkeit dieser bipolaren Erkrankung zu fassen.


20. Februar 2017

Web-Auftritt

Ein Blick über den Tellerrand

Mein Partner und Freund Uli Ahrend hat seinen Web-Auftritt aktualisiert bzw. vollkommen erneuert. Wenn man schreibt, ist das das Eine. Wenn man das zeigen will, reicht nicht das Abtippen auf der Schreibmaschine. Immer braucht es Menschen, die die die richtige Form für das Geschriebene finden, damit das Geschriebene in der Welt wirken kann, braucht es die Gestaltung. Das Layout. Das Design. Hier finden Sie das Portfolio der Satzmanufaktur.


13. Februar 2017

Arbeit an Sprache und Wahrnehmung

Möglichkeiten, auf ein Bild zu reagieren

Der Schreibdidaktiker Günter Lange hat (schon im letzten Jahrtausend!) acht Möglichkeiten aufgezeigt, wie man auf ein Bild regieren kann, jeweils eine andere Schreibhaltung einnehmend; Kollegin Katrin Bothe hat diese um zwei weitere Möglichkeiten ergänzt. Die Aufgabe heißt ganz einfach: Schreiben zu einem Bildimpuls. Zum Beispiel zu diesem:

© uli ahrend, satzmanufaktur

Dann wählt man sich eine der folgenden Möglichkeiten:

  • Fensterblick
  • Filmblick
  • Spaziergang
  • Es war einmal
  • Gespräch
  • Spiegelbild
  • Traum
  • Meditation
  • Steckbrief
  • Beeindruckt

Und dann wählt man eine weitere und noch eine – immer geht es um dasselbe Bild. Und eigentlich geht es nicht um das Bild, sondern eben um das Erproben unterschiedlicher Schreibhaltungen.


6. Februar 2017

Was ich gemacht habe ...

... und was ich kann!

Von meiner Kollegin Marie-Luise Erner bekam ich folgende Übungssequenz geschenkt.

  • 1. Schritt: Mach eine Liste mit all den Dingen, die du heute schon gemacht hast, ganz konkret: Wecker ausstellen, Kaffee mahlen, mit dem Zeitungsboten schwätzen, küssen, stöhnen usw. (du kannst auch das Partizip verwenden: Wecker ausgestellt, Kaffee gemahlen ...; und du musst nicht chronologisch vorgehen); lass dir für diese Sammlung 15 Minuten Zeit.
  • 2. Schritt: Nimm jeden einzelnen Punkt in der Liste und füg ein „Ich kann“ vor jeden Punkt: Ich kann den Wecker ausstellen. Ich kann Kaffee mahlen. Ich kann mit dem Zeitungsboten schwätzen. Ich kann küssen. Ich kann stöhnen. Usw.
  • 3. Schritt: Du kannst die in Schritt 2 geschriebenen Sätze noch intensivieren, indem du jeweils ein „gut“ einfügst oder indem du die Sätze jeweils beginnst mit: „Ich freue mich, dass ich den Wecker ausstellen kann. Ich freue mich, dass ich Kaffee mahlen kann.“

Diese Übungssequenz stammt aus dem Kontext des heilsamen oder therapeutischen Schreibens, sie schult die Achtsamkeit und die Fokussierung auf Ressourcen.


30. Januar 2017

Hinschauen ...

... und nicht schweigen

„Ihr tragt keine Schuld für das, was passiert ist, aber ihr macht euch schuldig, wenn es euch nicht interessiert.“ Esther Bejaranos Satz passt auf so vieles, was in der Welt passiert. Da muss man gar nur nicht Trump, die AfD oder Diktaturen in den Blick nehmen. Auch in ein armes Land zu reisen und in einem 5-Sterne-Hotel zu logieren und die Augen vor den 500 Meter weiter liegenden Slums zu verschließen, heißt in diesem Sinne, sich schuldig zu machen.
Esther Bejarano (geb. Loewy, * 15. 12. 1924 in Saarlouis) ist Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz. Dort spielte sie im Mädchenorchester. Heute engagiert sie sich gegen rechtsradikale Gewalt und Propaganda.


23. Januar 2017

Literatur einbauen

Die Zwei-Spalten-Methode

Gestern coachte ich einen jungen Mann, der eine Erzieherausbildung macht und eine Hausarbeit zur Veränderung der Vaterrolle verfassen muss. Er hatte die Literatur, die er benutzen wollte, gelesen und dann in einem Rutsch den Hauptteil über den Vergleich zwischen der alten, passiven und der neuen, aktiven Vaterrolle heruntergeschrieben, zwei Seiten, alles schlüssig und gut formuliert. Aber wo waren die die Literatur, die Belege für das Dargelegte? „Ich weiß immer nicht, was ich mit der Literatur machen soll, wie ich sie in den Text kriege“, sagte er. „Kein Problem“, sagte ich. „Deine Arbeit bzw. deine verwendete Schreibstrategie ist die beste, die du wählen konntest.“ Er schaute mich etwas irritiert an. Doch so ist es.
1. Fragestellung entwicklen, 2. Literaturrecherche betreiben, 3. Texte lesen, 4. Thesen und Positionen aufstellen – das hatte er alles wunderbar gemacht. Und er hatte 5. den Rohtext in seinen eigenen Worten formuliert, alles war drin, was es braucht. Außer: die Literaturstellen als Belege. Also zerschnitten wir 6. seinen Rohtext in Sinnabschnitte; zu jedem Sinnabschnitt suchte er 7. einen passenden Beleg (oder zwei) und formulierte ihn 8. hinein – mit ein paar Textmustern, die ich ihm dazu noch zur Verfügung stellte, z. B.: „so wie es A. formuliert“ oder „B. sagt es sogar noch schärfer“ oder „hier schließe ich mich C. an“ usw.
Diese Strategie, die mein Coachee angewendet hat, hat Otto Kruse als Zwei-Spalten-Methode beschrieben. Vorrangig geht es bei dieser darum, in die linke Spalte auf einem Blatt den Rohtext herunterzuschreiben, im Vertrauen darauf, dass das, was vom Gelesenen im Kopf vorhanden ist, dafür ausreicht. Im zweiten Schritt trägt man in die rechte Spalte die Belege ein, als Verweise oder Originalzitate.
„Cool“, sagte er, erleichtert darüber, dass seine für ihn passende, sozusagen aus dem Bauch heraus gewählte Strategie nicht blöd ist und sogar mit einem einfachen Trick ergänzt zu einem wunderbaren Ergebnis führt. (Ein erfreulicher Nebeneffekt dieser Methode ist, dass sie auch gut geeignet ist, um die Plagiatgefahr zu bannen – denn beim Rohtexten lässt man ja nur das regieren, was vom Gelesenen im Kopf hängengeblieben ist bzw. sich dort zu einer eigenen Darstellung und Argumentation formiert hat.)


16. Januar 2017

An der Grenze

6. Nordhessischer Autorenpreis ausgeschrieben

Immer auch und immer noch bin ich involviert in den Nordhessischen Autorenpreis, bin Kassenwartin, vor allem aber Initiatorin des Literaturwettbewerbs und Herausgeberin und Verlegerin der daraus hervorgehenden Anthologien – es ist jedes Mal eine wunderbare Erfahrung, dass ein Impuls in die Welt geschickt wird und sich dann mehrere hundert Menschen hinsetzen und schreiben! So soll es auch dieses Mal wieder sein. Der Impuls, hier ist er: AN DER GRENZE.
Ein paar Zusatzideen und natürlich die Teilnahmebedingungen findet man hier.


9. Januar 2017

OuLiPo – auch 2017

Pantun aus Zitaten

Zwischen den Jahren haben wir gelesen (so hoffe ich), die Bücher, die wir geschenkt bekamen, liegen noch neben dem Sofa oder auf dem Nachttisch. Nach der Lektüre sind Bilder geblieben, vielleicht Satzfetzen. Manchmal streichen wir Sätze an (ich tue das jedenfalls) und wollen sie nicht vergessen, wollen nach ihnen vielleicht gar leben! Und dann verblassen sie, andere sind stärker, der Alltag überlagert das Erhabensein. Wenn wir aber etwas tun mit den Sätzen, die so wichtig waren, die heraustraten aus der Buchseite, die uns umwarben, anfassten, ergriffen, dann werden sie deutlicher, bekommen mehr Leucht- und Wirkkraft.
Suchen wir also acht (nicht zu lange oder halbe) Sätze aus den zuletzt gelesenen Büchern heraus, die und entgegengetreten sind. Fügen wir sie zu einem Pantun. Und die Sätze werden sich entfalten, Neues sichtbar machen, was wir ahnten oder auch nicht, wir machen sie zu unseren Sätzen, zu unseren Wahrheiten.
In einem Pantun werden acht Zeilen jeweils zweimal verwendet. Hier ein Beispiel aus 2016 (aus dem auch das Prinzip, in welcher weise sie wiederholt werden, hervorgeht):

Pantun
Nicht dass einer auf die Idee kommt
dass man schlendern kann, absichtslos
dass es auch ganz anders sein kann
staunende Augen an hellen Tagen

dass man schlendern kann, absichtslos
Fragen, Fragen, Grübelattacken
staunende Augen an hellen Tagen
Wann nur ist es anders geworden?

Fragen, Fragen, Grübelattacken
Wo nur sind Ruhe und Konzentration?
Wann nur ist es anders geworden?
Es ist nichts mehr wie früher

Wo nur sind Ruhe und Konzentration?
dass es auch ganz anders sein kann
Es ist nichts mehr wie früher
Nicht dass einer auf die Idee kommt


2. Januar 2017

Freibrief, Entlastung und Verantwortung

Quo vadis?

„Wissenschaft ist der augenblicklich geltende Irrtum.“ Das schrieb der philosophische Anthropologe und Soziologe Arnold Gehlen (1904–1976), der auch Gegenspieler von Adorno war, was hier aber jetzt nicht von Belang sein soll. Das Zitierte ist von Belang. Für mich. Ich kann es als Freibrief verstehen, alles zu glauben, mich nicht entscheiden zu können oder zu müssen. Ich kann es auch als Entlastung verstehen, nicht glauben zu müssen, alles jetzt und sofort und für alle Ewigkeit erkennen zu müssen (was mir während des Schreibens meines Fachbuchs Schreiben wir! dann und wann arge Schwierigkeiten bereitete), gar niemals alles erkennen zu können. Ich kann es schließlich auch als Aufruf zur Verantwortung verstehen, immer noch einmal und immer wieder noch einmal hinzuschauen, die von mir konstruierte Wirklichkeit mit einzubeziehen, den unvermeidbaren Irrtum, die unvermeidbare Vorläufigkeit oder gar die unumgängliche Beschränktheit aller Erkenntnisse mir zu vergegenwärtigen. Um daraus eine freundlich-kritische Hermeneutik abzuleiten. Um aber daraus auch den Mut abzuleiten, Fragen zu stellen und zu sagen: „So will ich leben, so will ich nicht leben. Das toleriere ich, das toleriere ich nicht.“
Wissenschaft ist nach meinem Verständnis gegenwärtiges Hinschauen, ist eingebettet in historische und Herrschaftsverhältnisse, ist Ideologiekritik, ist Übernehmen von Verantwortung, ist immer subjektiv an mich als Forschende und Denkende und Handelnde gebunden. Und wenn ich immer einkalkuliere, dass meine Erkenntnisse auch Irrtümer sein können, wird es zwar nicht leichter, aber menschlicher, das Denken und Handeln, das Forschen, das Leben. In diesem Sinne: Ein gutes Jahr 2017.


26. Dezember 2016

Schöne Anwesende

Im OuLiPo-Fieber

Für die nächste Jahrestagung des Segeberger Kreises, meines (schreibpädagogischen) Quasi-Berufsverbandes, schlage ich eine OuLiPo-Schreibgruppe zum Thema ZEITFORMEN vor. In Vorbereitung auf diesen Vorschlag, der als Text in den Segeberger Briefen 94 veröffentlicht werden wird, habe ich mich durch die Literatur zu OuLiPo gelesen – durch die, die ich lesen kann. Die, die auf Deutsch erschienen ist, ist wahrlich überschaubar. So gibt es etwa in der Bibliothek der Uni Kassel kein einziges Buch zu OuLiPo auf Deutsch. Aber bei Gundel Mattenklott bin ich fündig geworden. Sie veröffentlichte mehrere Aufsätze (in eben jenen Segeberger Briefen). Und vor allem fand ich dort feine Anregungen. So etwa diese, erfunden von George Perec: „Der schöne Anwesende“ („beau présent“).
EinE schöneR AnwesendeR ist ein Gedicht, das zu Ehren einer Person verfasst wird. Es handelt sich dabei um ein anagrammatisches Gedicht: Jeder Vers enthält nur die Buchstaben, aus denen der Name der/des schönen Anwesenden besteht. Schöne Anwesende eignen sich sowohl für Geburtstage oder Jubiläumsfeiern als auch für Gelegenheiten des Spotts oder der Kritik. Oder vielleicht kann man auch ZWEITAUSENDSIEBZEHN als schönen Anwesenden be-/ver-dichten.


19. Dezember 2016

Feiert schön –

– meistens gibt es etwas, was sich zu feiern lohnt!

„Die meisten Leute feiern Weihnachten, weil die meisten Leute Weihnachten feiern.“
(Kurt Tucholsky, 9. 1. 1890 bis 21. 12. 1935)


12. Dezember 2016

Literatur oder kann das weg?

Ein ganzer Roman in Fragen

Eine Entdeckung. Eine Einladung. Eine Herausforderung. Eine Belustigung. Ein Ärgernis. Ein Versuch. Ein Experiment. Eine Lebensaufgabe. Keine Bett- oder Strand-Lektüre!
„Sind Ihre Gefühle rein? Sind Ihre Nerven anpassungsfähig? Wie stehen Sie zur Kartoffel? Sollte es immer noch Konstantinopel heißen? Macht ein Pferd ohne Namen nervöser oder weniger nervös als ein Pferd mit Namen? Riechen Kinder Ihrer Ansicht nach gut? Wenn Sie jetzt welchen hätten, würden Sie Hundekuchen essen? Könnten Sie sich hinlegen und auf dem Bürgersteig ein Päuschen machen? Haben Sie Vater und Mutter geliebt, und finden Sie das Buch der Psalmen ganz toll? Wenn Sie in jeder Kategorie auf den letzten Platz absteigen, macht Ihnen das genug zu schaffen, dass Sie sich wieder ochkämpfen? Klingelt es je bei Ihnen an der Tür? Haben Sie Sand im Kropf? Könnte Mendelejew Sie korrekt in einem Quadratseines periodischen Systems der Elemente unterbringen, oder würden Sie sich auf die ganze Tabelle verteilen? Wie viele Liegestütz schaffen Sie?“
Das ist der erste Absatz des Buch von Padgett Powell: Roman in Fragen. Die Übersetzung von Harry Rowohlt ist in 2. Auflage 2012 im Berlin Verlag erschienen.
Auch wenn es keine Bett- oder Strand-Lektüre ist – anregend und spaßig ist die Lektüre trotzdem, auch wenn ich nicht glaube, dass irgendjemand dieses Buch komplett liest (verkraftet). Als Schreibanregung kann es allemal diesen. Etwa als Vorlage zur Selbstbefragung am Ende eines Jahres oder an einem Scheideweg.


5. Dezember 2016

Listen-Vita

Mein Leben 2016 in Listenform

Langsam neigt sich das Jahr dem Ende entgegen. Ich fahre am Donnerstag ins Kloster Germerode, um mit einer Gruppe von 13 Frauen schreibend einen persönlichen Jahresrückblick zu wagen. Eine der Anregungen stelle ich hier vor, die Listen-Vita.
Listen gibt es in der Literatur viele. Manche heißen dann Gedichte (z. B. Bertolt Brechts Vergnügungen), manche sind nummeriert (z. B. Zehn Gebote des Schreibens). Man könnte auch eine Listen-Vita schreiben (oder eben eine spezielle 2016-Liste machen), dazu ein paar Ideen:

  • Meine gelesenen Bücher 2016
  • Meine Krisen oder traurigsten Momente 2016
  • Das ist mir im letzten Jahr gelungen
  • Dahin ging mein Herzblut
  • Das waren meine Glücksmomente
  • Darüber habe ich 2016 gestaunt


28. November 2016

Fährtensucherinnen

Ein langer Weg zum Buch

Am 3. Dezember präsentiere ich mit einer Gruppe Autorinnen aus Bad Hersfeld ihr neues Buch: Fährtensucherinnen. Ein langer Prozess, in den ich zuerst als Schreiblehrerin, dann als Schreibprozessbegleiterin und schließlich als Verlegerin involviert war, materialisiert sich nun in dieser Anthologie.
Buchpräsentation Fährtensucherinnen
Samstag, 3. Dezember 2016, 15 Uhr
Dippelmühle, Dippelstraße 2, Bad Hersfeld

Sieben Autorinnen gewähren Einblicke in das Zeitpanorama des 20. Jahrhunderts. In biografischen Episoden zeigen sich die Fährtensucherinnen Irene Kreissl (geb. 1925), Helga Overweg (geb. 1937), Waltraud Viehmann (geb. 1943), Wernhild Bär (geb. 1944), Monika Beisheim (geb. 1947), Andrea Gunkler (geb. 1967) und Claudia Wagner-Kempf (geb. 1970).
Sieben Frauen aus drei Generationen – sie alle sind Mitglieder der Schreibwerkstatt Dippelmühle in Bad Hersfeld und erzählen von Bombennächten und Hungerjahren, vom Kind- und Muttersein, vom Leben am Fluss, vom Fröscheküssen und vom Überwinden der innerdeutschen Grenze.
Ging es im Schreibprozess zunächst um Biografiearbeit, das Nocheinmal-Hinschauen und Erinnern, so konnten in der poetischen Gestaltung rote Fäden sichtbar gemacht werden. Auch die Korrespondenz zwischen Zeitgeschichte und indi­viduellem Leben wurde deutlich.
Vom Persönlichen ausgehend sind Erzählungen entstanden, die Gesellschaftliches spiegeln. Sie gehen weit über das Private hinaus und ermöglichen es Lesenden, eigenes Biografisches zu befragen. Folgen kann man den Autorinnen zurück nach Fulda, auf die schwäbische Alb, nach Machtlos, an die Kleine Elster, an die Nordsee – in eine andere Zeit, an andere Orte, von wo aus sie losgingen, um die Heutigen zu werden: Frauen aus Bad Hersfeld und Umgebung.

Claudia Wagner-Kempf (Hg.): Fährtensucherinnen
ISBN 978-3-935663-30-4, 180 Seiten, Paperback, Dezember 2016, 12,80 Euro
Hier können Sie das Buch bestellen.


21. November 2016

Pourquoi pas?

Befragung des Konzepts der Zweigeschlechtlichkeit

Der Transgender Day of Remembrance findet jedes Jahr am 20. November statt; er ist den trans- und intersexuellen Menschen gewidmet, die Opfer von transphobem Hass wurden. Weil gestern der 20. November war und weil ich mich schon seit meiner Kindheit und seit Mitte der 1980er Jahre auch theoretisch (u. a. während eines Studienausflugs in die Ethnologie) mit dem Zwangs-Konzept der Zweigeschlechtlichkeit auseinandersetze, will ich hier heute einen Text veröffentlichen, den ich am 10. November geschrieben habe.
Er entstand nach einem Rundgang durch die Ethnologische Sammlung der Universität Göttingen, organisiert von der Gesellschaft für Schreibdidaktik und Schreibforschung während der Jahrestagung. Die Mitgehenden waren von Ella Grieshammer aufgefordert worden, sich von einem Objekt inspirieren zu lassen. Ich wählte als Impuls eine historische Uli-Figur aus Neu-Irland (eine Insel, die zu Papua-Neuguinea gehört). Uli-Figuren sind zweigeschlechtliche Figuren, die in Männerhäusern aufbewahrt wurden und bei Totenerinnerungsfeiern zum Einsatz kamen; die Doppelgeschlechtlichkeit wurde als Symbol für die Stärke und Macht der jeweiligen Vorfahren verstanden, die Androgynität symbolisierte aber auch die Harmonie der Weltordnung in der Vereinigung der Gegensätze.

Wäre es anders
Wäre es anders, gäbe es nicht diese Ordnung, sähen Andere nicht das in mir, was sie sehen müssen, was sie meinen, sehen zu müssen, wankten sie, stolperten sie, stockten sie, stotterten sie, zögerten sie, schauen sie ein zweites Mal hin, ließen sie sich irritieren, gäben sie sich nicht mit dem ersten Blick zufrieden, stellten sie Fragen, deren Antworten sie aus dem Konzept bringen könnten, sagten sie Oh, staunten sie ob des Ungeahnten, befragten sie ihre Konzepte von Ich und Welt, träumten sie von Utopos, sähen sie – ja, was sähen sie?
Eine Frau, die Hure, Hexe, Heilige, Amazone ist? Eine Frau, die trans*, inter*, queer ist? Zuschreibungen das. Auch das: wieder Zuschreibungen. Wieder wankten, stolperten, stockten, stotterten, zögerten sie, wieder schauten sie ein zweites Mal, träten drei Meter zurück, rückten auf Tuchfühlung heran, tasteten, röchen, schmeckten, hörten genau hin. Vielleicht, falls sie es noch aushielten, falls sie noch keine Angst bekommen hätten, falls sie noch nicht drohten, zu vergehen, sich aufzulösen, sich nicht mehr zu kennen, sich zu verlieren, zu hilflosen Neugeborenen zu werden.
Und falls also eines dieser hinschauenden Wesen übrig bliebe, nur eines, und falls es dann das Un-geheuerliche nicht verschwiege, um der drohenden Steinigung, der Einweisung in Psychiatrie oder Hochsicherheitstrakt zu entkommen, falls es sich also traute, dann würde es sagen: Es gibt Wesen, die sind Frau und Mann, also weder Frau noch Mann, also etwas Anderes, also ... Und da hörte es auf zu sprechen, das Wesen, das so mutig ein zweites, drittes, viertes Mal hingeschaut hat, denn es hätte kein Wort für das, was ich wäre, was sich zeigte, wäre es anders, gäbe es nicht diese Ordnung, diese festschreibende, zementierende, wertende, negierende Ordnung. Die tötet. Die mich tötet.


14. November 2016

Was ist ein Gottprotz?

Mit Elias Canetti in kreative Gefilde

Immer wieder sehr gern nehme ich einen Text aus Elias Canettis Werk Der Ohrenzeuge als Schreibimpuls. Zuerst Staunen, Zögern, Stöhnen gar, dann aber die Lust am Benutzen der Figuren, manchmal gar der Impuls zu eigenen, sprachlich ähnlich hergestellten.

Die Königskünderin
Der Namenlecker
Der Unterbreiter
Die Selbstschenkerin
Der Hinterbringer
Der Tränenwärmer
Der Blinde
Der Höherwechsler
Die Geruchschmale
Die Habundgut
Der Leichenschleicher
Der Ruhmprüfer
Der Schönheitsmolch
Die Mannsprächtige
Der Schadenfrische
Die Schuldige
Der Fehlredner
Die Tischtuchtolle
Der Wasserhehler
Der Wortfrühe
Die Silbenreine
Der Ohrenzeuge
Der Verlierer
Die Bitterwicklerin
Der Saus und Braus
Die Mondkusine
Der Heimbeißer
Der Vermachte
Der Tückenfänger
Die Schadhafte
Die Archäokratin
Die Pferdedunkle
Der Papiersäufer
Die Versuchte
Die Müde
Der Verschlepper
Der Demutsahne
Die Sultansüchtige
Die Verblümte
Der Gottprotz
Die Granitpflegerin
Der Größenforscher
Die Sternklare
Der Heroszupfer
Der Maestroso
Die Geworfene
Der Mannstolle
Der Leidverweser
Die Erfundene
Der Nimmermuss

Hier zwei Beispiele meiner TeilnehmerInnen aus dem Jahreskurs Kreatives Schreiben, die letzte Woche entstanden sind und die sie mir freundlicherweise zur Veröffentlichung überließen. Das Spielen und der aktuelle Bezug sind nicht zu übersehen.

(freie Verse)
Nimmermuss
den adoptiere ich
es gibt immer eine Wahl
im November sind alle unterwegs
aber ich muss ihnen nicht begegnen

(Elfchen)
Gottprotz
Donald Trump
Volle Fahrt voraus
Keine Notbremse in Sicht
Atemnot


7. November 2016

Carolin Emcke und Durs Grünbein

im Literarischen Zentrum in Göttingen

Das wird keine Nachbesprechung der Veranstaltung Gegen den Hass am 4. 11., kein Bericht, keine Kritik, keine Einordnung, in was auch immer. Das wird eine persönliche Nach-Lese. Ich habe aufgelesen, Früchte, die aus den beiden wuchsen, die mir vor die Füße rollten, die ich auf-lesen und mit nach Hause nehmen durfte.
Zu Pegida/AfD und den Montagsdemonstrationen in Dresden und anderswo sagte Carolin Emcke: „Nicht alles, was sich bewegt, ist gerecht. [...] Nicht jede soziale Bewegung ist emanzipatorisch.“ Wie wahr! – Zum autobiografischen Schreiben sagte sie: Sich schreibend zu erinnern, sei ein erster Akt von Befreiung, weil man so möglicherweise erst einmal des Beeinträchtigenden habhaft werden könne. Wie wahr! – Auf die Frage, was denn helfe, sagte sie: Ästhetische Antworten auf die Verlockung des Stammtischniveaus, den So der Entfremdung seien zum einen die Zartheit der Wahrnehmung, zum anderen die Verlangsamung des Wahrnehmens und des Urteils; man müsse wahrnehmen, an welchen Stellen man sich auch anders entscheiden kann. Wie wahr! – Die Erkenntnis, die ich vor allem mitnehme, ist die: Manchmal ist es schon genug (oder es wäre genug, wenn mehr es sich trauen würden), einfach nur zu fragen, ob im Privaten, in der Schreibwerkstatt, in der Straßenbahn, beim Sport, im Café und anderswo: Ist das wirklich so? Wer sagt das? Woher kommt dieses Wort?
An dieser Stelle möchte ich auch empfehlen, die Dankesrede zu lesen, die Carolin Emcke anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deustchen Buchhandels am 23. 10. 2016 in der Frankfurter Paulskirche gehalten hat
Von Durs Grünbein will ich hier poetologische Sätze zitieren: „In der Poesie ist das Wort im Traumzustand. [...] Gedichteschreiben ist die Möglichkeit, Abstand zu sich selbst zu bekommen, es geht gerade nicht, wie immer behauptet wird, um das Ich. [...] Etwas in mir schreibt ein Gedicht, ich bin es und ich bin es nicht.“ Genau!


31. Oktober 2016

Von Fisch und Wolf und Heimat und Zukunft

Ein Abend mit Nordhessischer Gegenwartsliteratur

Als Verlegerin gestalte ich einen Abend mit Texten, die in meinem Verlag Wortwechsel erschienen sind. Dem Publikum gewähren die Geschichten und Gedichte Einblicke in Wohnzimmer und Politik, in Herzen und Vergangenheiten und Zukunft. In allen Facetten von der Liebeserklärung bis zur schonungslosen Analyse bereiten die Texte Literaturfans und Neugierigen aller Art Vergnügen.
Wortwechsel steht für Literatur, die aus Nordhessen stammt oder sich mit der Region verbindet, die berührt, aufregt und anregt, die das reflektiert, was war, und das ahnen lässt, was möglich sein könnte, die mitgehen und Nein sagen und Ja sagen lässt. Wortwechsel hat sich auf die Fahnen geschrieben, Autorinnen und Autoren aus der Region zu fördern und ihre Texte zu zeigen, die Nordhessen in den Blick nehmen, ohne einfach nur rückwärts gewandt kritiklos-heimattümelnd zu sein.
Es erwartet Sie eine Stunde mit Literarischem, gelesen von mir. Als Highlight des Abends ist die Präsentation des modernen Märchenbuches FischWolfVogelEidechse geplant, das in diesem Jahr erschienen ist; die Autorin und Illustratorin Yara Semmler (27) ist in Melsungen und Kaufungen aufgewachsen und wird persönlich anwesend sein, um zu lesen und Fragen aus dem Publikum zu beantworten.
Donnerstag, 3. November 2016, 19.30 Uhr, Gemeindehaus der evangelischen Kirche, Melsungen-Röhrenfurth


24. Oktober 2016

Zum freien, assoziativen Schreiben

Basiserkenntnisse aus 1993

Ich habe etwas 23 Jahre Altes (wieder)gefunden, das mich bestärkt: das freie, assoziative Schreiben in meiner Arbeit in Schreibgruppen, gleich welcher Art, als zentrale Arbeitsweise zu sehen. Einer der ersten und bis heute führenden DidaktikerInnen des Kreativen Schreibens, Kaspar H. Spinner, schrieb 1993 in der Zeitschrift Praxis Deutsch:
„Durch die Integration des Verdrängten in das bewußte Selbst kann das Phantasieren eine heilende Wirkung haben. Die freie Assoziation, mit der die tiefenpsychologische Therapie arbeitet, wird in verschiedenen Formen auch im kreativen Schreiben eingesetzt, damit seelische Gehalte, die dem realitätsorientierten Alltagsbewußtsein entzogen sind, darstellbar werden. Nach Freud tritt das Verdrängte allerdings nicht direkt in Erscheinung, die Zensur durch das realitätsorientierte Ich bewirkt Verdichtungen, Verschiebungen und Symbolisierungen. Dies ist, gerade im Hinblick auf das kreative Schreiben, nicht als Verfälschung der inneren Gehalte, sondern als Chance zu sehen: Durch Verdichtung, Verschiebung und Symbolisierung entsteht die literarische Ausdrucksform, die einen Lustgewinn (auch dies ein Begriff Freuds) vermittelt und die oft überhaupt erst ermöglicht, daß wir uns dem Verdrängten stellen. Der (m. E. wichtige) Unterschied zwischen Psychoanalyse als Therapie und kreativem Schreiben kann gerade darin gesehen werden, daß bei letzterem die manifeste Struktur mit ihren Verdichtungen, Verschiebungen und Symbolisierungen das angestrebte Ziel ist. In ihr sind die verdrängten Inhalte enthalten und zugleich geschützt, so daß sie nicht Krisen heraufbeschwören, die nur noch der Therapeut auffangen kann“ (Kaspar H. Spinner: Kreatives Schreiben. Basisartikel. In: Praxis Deutsch, Heft 119).


17. Oktober 2016

Essenzen

Sätze nach dem Freewriting

In den letzten Stunden in der Donnerstagsgruppe meiner Frauenschreibwerkstatt haben wir uns am Freewriting ohne Thema bzw. Fokussierung versucht. Wir lasen uns diese Texte nicht vor, sondern schrieben jede einen Satz nach der zehnminütigen Session: einen schönen, einen zum Weiterdenken, einen Essenzsatz ... Diese Sätze lasen wir uns vor und waren ganz entzückt, jede vom eigenen Schreiben und dem einen gefundenen Satz wie auch von den Sätzen der anderen, weil sie etwas sagten über die jeweilige Schreiberin, ohne dass wir wussten, was denn eigentlich vorher geschrieben worden war, wohin das Freewriting, das Schleuesen-Öffnen diejenige geführt hatte. Einige haben mir ihre Sätze zur Dokumentation zur Verfügung gestellt.
Martina Vaupel: „Ich suche die Katzen, versinke im Morast aus Pferdeäpfeln, umarme Menschen die über Brücken gehen und bekomme meine Stiefel aus dem Sumpf der drängenden Eile nicht heraus.“
Rosemarie Gögler: „Wenn ich es recht bedenke, vergeht kein Tag, an welchem mir nicht mindestens einmal ein Spruch aus der Kindheit, genauer: eine wegweisende Bemerkung meiner Mutter oder meines Vaters oder aber eine damals vielleicht gar nicht beachtete oder gar nicht geschätzte Verhaltensweise von Vater oder Mutter begegnen.“
Gisela Hohmann: „Ich bewege, du bewegst, wir bewegen; alles ist in Bewegung.“
Charlotte Vortmann: „Es gibt Gedanken, die nützlich sind, wie früher ein Pferd auf dem Acker seine Arbeit verrichtete, und Gedanken, die eher der Art des Reitpferdes ähneln, das nur für das Hobby der Reichen gezüchtet wurde.“
Ute Baumgärtl: „Jetzt sitze ich hier im Kreis der schreibenden Frauen, darf zu Papier bringen was ich will, was mir einfällt, und es kommen mir keine genialen Gedanken, aber gut, schreib’ ich halt einfach, was mir so durch den Kopf schwirrt.“


10. Oktober 2016

Ein Gedicht?

Fragen 1

Das folgende Gedicht von Jürg Amann (Schweizer Schriftsteller, 1947–2013) kann als Anregung dienen. Die Form kopierend stellen Sie eigene Fragen, vielleicht zu einem Lebensthema, vielleicht auf ähnlich naive Weise wie Kaspar Hauser?

Kaspar Hausers Fragen
Warum heißt warum warum?
Warum ist die Welt bunt?
Warum ist das Gras grün?
Warum ist die Luft blau?
Warum ist das Wasser klar?
Warum ist die Wüste rot?
Warum ist die Weste weiß?
Warum ist das Geld schmutzig?
Wo ist die Sonne, wenn sie nicht scheint?
Wo ist der Wind, wenn er nicht bläst?
Wo ist die Nacht, wenn es Tag ist?
Wo ist die Frau, wenn sie ein Mann ist?
Wo ist der Tag in der Nacht?
Warum ist der Himmel ein Loch?
Warum brennt mich das Licht, obwohl es nicht da ist?
Warum scheint mir der Mond in den Kopf?
Warum kann ich die Flammen nicht pflücken?
Warum stinken die Blumen so sehr, dass mir schlecht wird?
Warum sind nicht alle Tiere ein Pferd?
Warum wiehert der Apfel nicht, wenn er vom Baum springt?
Warum isst die Katze nicht mit den Händen?
Wer hat die Kühe erfunden?
Wer hat die Blätter an die Bäume gehängt?
Warum beißt mich der Schnee in die Hand?
Warum friert der Winter im Winter nicht?
Warum habe ich auf dem Rücken kein Auge?
Worin besteht die Höhe der Berge?
Warum schlafe ich nicht, wenn die Natur schläft?
Was ist diese Schrecklichkeit der Wälder und Wiesen?
Warum bin ich hier und nicht dort?
Warum sagt Gott kein Wort?
Warum?


3. Oktober 2016

Das Serendipitätsprinzip

Versuch über Licht und Dunkelheit

Das Serendipitätsprinzip bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Hier mal ein Beispiel auf einem Foto, das meine Freundin Marion Koopmann irgendwo in Spanien machte und mir für schreibkreative Verwendungen überließ. Einfach nehmen und sich inspirieren, zu Assoziationen verleiten lassen. Oder nach Parallelerfahrungen im eigenen Leben suchen.


26. September 2016

Mein Buch in der Welt

Was ich beim nächsten Mal anders machen würde

Mein Buch – Schreiben wir! Eine Schreibgruppenpädagogik (ISBN 978-3-8340-1652-2) – ist fertig und stößt auf Interesse. Es gab schon einige positive Rückmeldungen. Ich freue mich, es in die Welt tragen zu können. Noch mehr freue ich mich, wenn es Menschen erfasst, berührt, beflügelt, die Schreibgruppen leiten.
Ich muss aber mal ein wenig stöhnend reflektieren über den Schreibprozess ... Wenn ich noch einmal anfinge, sollte ich Folgendes vermeiden:
1. Ich sollte als Grundlagentext nicht einen nehmen, den ich für einen ganz anderen Zusammenhang geschrieben habe. Noch bis zum Ende war ich damit beschäftigt, die (sprachlichen) Ebenen zu durchdenken, zu verändern, mich zu ärgern, dass ich mal nur darstelle, mal meine Tipps verbrate und mal diskutiere, ohne dass es klar ist, an welcher Stelle ich was warum tue. Am Ende bin ich zufrieden, aber es wäre viel Zeit einzusparen gewesen, hätte ich diesen Grundlagentext als gedankliches Gerüst genommen, eine Gliederung für mein Buch erstellt und alles neu formuliert – zumal ich deutlich weniger Zeichen zur Verfügung hatte.
2. Ich sollte viel früher andere Menschen einbeziehen, sollte TestleserInnen bitten, einen kritischen Blick auf mein Manuskript zu werfen. Die Kritik meiner fünf TestleserInnen konnte ich verstehen und wertschätzen, zum großen Teil hat sie sich sogar mit meinen eigenen Zweifeln oder Fragen gedeckt. Aber ich bin der irrigen Meinung aufgesessen, ich könne erst etwas herausgeben, wenn es so gut wie fertig ist (als Schreibprozessbegleiterin sollte ich es eigentlich besser wissen). So ist durch das späte Einbeziehen ist dann die Endüberarbeitung noch einmal extrem aufwändig geworden.


19. September 2016

Mein Buch!

Es ist geschafft und erschienen!

Es ist im Schneider Verlag Hohengehren erschienen (ISBN 978-3-8340-1652-2; 184 Seiten; 20 Abbildungen; 18 Euro) und natürlich in jeder Buchhandlung zu bestellen – aber auch bei mir direkt.

Der Klappentext:
Schreiben wir! Eine Schreibgruppenpädagogik
Menschen schreiben in Gruppen. Seit Jahrhunderten. Schaffen literarische Kulturen, tragen bei zur Demokratisierung des Schreibens. Und seit rund 50 Jahren verstärkt – mit unterschiedlichen Zwecken und Rahmungen und meist unter den Ideen des Kreativen Schreibens und der Literarischen Geselligkeit.
Diese Schreibgruppenpädagogik geht der Hauptfrage nach, was das Schreiben in Gruppen ist und welche ,Gewinne’ sich zeigen, wenn Menschen in Gruppen schreiben. Sie nimmt dabei speziell eine Domäne in den Blick: die des Kreativen Schreibens in Gruppen in der Jugend- und Erwachsenenbildung außerhalb der klassischen Bildungsinstitutionen Schule und Hochschule.
Sie leistet einen Beitrag zur Weiterentwicklung und Theorie einer kritischen Fachpädagogik, sie liefert an der Schnittstelle Theorie/Handwerkszeug wissenschaftliches Hintergrundwissen ebenso wie Ideen für die Lehrpraxis und ist damit eine Handreichung für Menschen, die Schreibgruppen leiten und/oder Schreibprozesse begleiten (wollen) und sich dabei als Ermöglichende und Forschende verstehen.
Die Schreibgruppenpädagogik wird in sieben Kapiteln dargestellt:

  • Geschichte des Schreibens in Gruppen
  • das System Gruppe: Gruppenpädagogik und Gruppendynamik
  • das System Schreiben: Schreibprozess, -strategien und -kompetenzen
  • das System Didaktik für (kreative) Schreibgruppen
  • Anleitung zur Entwicklung von Schreibgruppenkonzepten
  • zehn durchdachte und erprobte Schreibgruppenkonzepte
  • Übungen- und Notfallkoffer: für Anfang und Ende, Feedback, Schreibprobleme und Gruppenkrisen


12. September 2016

Lesetagebuch

Eine Schulmethode für (kreative) Schreibgruppen

Lesetagebuch heißt: Ich lese ein Buch und begleite den Leseprozess reflexiv und kreativ schreibend. In einer Schreibgruppe kann vereinbart werden, dass alle dasselbe Buch lesen oder jedeR ein selbst gewähltes.
Der Begriff Tagebuch ist etwas irreführend, sind doch Tagebücher eigentlich ,geheim’. Lesejournal wäre ein besserer Begriff, der sich aber nicht durchgesetzt hat. Vergleichen kann man Lesetagebücher durchaus mit den Künstlertagebüchern, die einige KünstlerInnen begleitend zu einem Projekt oder ihrem gesamten Schaffen geführt haben und die ja auch nicht geheim (geblieben) sind.
In den 1960er Jahren wurden Lesetagebücher für den Deutschunterricht entdeckt, zunächst als Medium zur Dokumentation privater Lektüre. In den 1970ern erweiterte sich das Konzept aufgrund der Erkenntnis, dass das Fernsehen einen immer größeren Einfluss gewann: Das Führen eines Lesetagebuchs sollte zur kritischen Reflexion und ästhetischen Sensibilisierung beitragen. In den 1980ern wurden Lesetagebücher in das Konzept des individualisierten, handlungs- bzw. produktionsorientierten Unterricht eingefügt; seit den 1990ern sind sie fester Bestandteil offenen Unterrichts bzw. der Freiarbeit (vgl. Hintz 2002: 62ff.).
Die Methode Lesetagebuch ist gegen rein passives oder konsumorientiertes Lesen gerichtet; mit ihr sollen Lernprozesse gesteuert und nachvollziehbar, individuelle Lese-, Verstehens- und Lern-Strategien gefördert werden. Das Lesetagebuch kann ein Baustein auch für ein (kreatives) Schreibgruppenkonzept sein, das „das Lesen als Interaktion von Leser und Text begreift und den Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten einer individuellen, selbsttätigen, identitätsbildenden, intensiven und aspektreichen Auseinandersetzung mit dem Gelesenen eröffnen sowie Leseerfahrungen im Sinne von Imaginationen, Identifikationen, Perspektiven­übernahmen und Fremdverstehen anbahnen will“ (Hintz 2002: 268).
Außerdem fördert das Führen von Lesetagebüchern selbstredend die Kommunikation über das Gelesene in der Gruppe.
Wie nun sieht ein Lesetagebuch aus? Zunächst einmal: Es ist eine Mappe, in die alles geheftet wird, was geschrieben, gezeichnet, gesammelt wurde. In den nun folgenden Anregungen werde ich schwerpunkt­mäßig Anregungen zum Schreiben geben.

Vor der Lektüre kann man sich schreibend mit dem Titel (Text und Bild), mit Vorerwartungen an den Inhalt, mit der/dem AutorIn, mit der historischen Entstehungszeit des Buches befassen. Auch kann man einfach zum Titel oder zwischen erstem und letztem Satz eine eigene Geschichte erfinden.

Während des Lesens gibt es mannigfaltige Möglichkeiten. Hier einfach eine Liste, die ich mit Hilfe von Schülerinnen aus meiner Schreibwerkstatt-AG an der Integrierten Gesamtschule Kaufungen (April 2008) und den Frauen aus meiner Donnerstagsschreibwerkstatt (Mai 2015) generiert habe:

  • Textstellen abschreiben, die berühren (auch ,schöne’ Gestaltung möglich)
  • Zitate herausschreiben, die (z. B. als Aphorismus) einmal verwendet werden können
  • eine der Textstellen als Impuls für einen freien Text (oder bestimmte Textsorte) verwenden
  • Personensteckbrief erstellen
  • Brief/Mail an die Hauptperson schreiben, ein Telefonat mit ihr führen
  • Interview mit einer Person/Figur führen
  • inneren Monolog einer Person schreiben
  • Tagebucheinträge einer Figur erfinden
  • Karikatur einer Person anfertigen
  • Dialog zwischen zwei Figuren erfinden
  • ein Kapitel in einen Bericht, ein Gedicht o. a. (alle Textsorten sind möglich, im Sinne von Queneaus Stilübungen) umschreiben
  • Gegentexte zu Kapiteln aus anderen Perspektiven
  • zu einer Figur und ihrem Verhältnis zu etwas Anderem (Person, Gegenstand) schreiben
  • zur Leidenschaft oder zum Geheimnis einer Figur (imaginierend) schreiben
  • Kommentar zum Verhalten, zur Sprache einer Figur geben
  • sich intensiv mit einer (zufällig aufgeschlagenen) Seite der Geschichte befassen
  • Akrostichon aus einem Schlüsselwort machen
  • die ersten drei Verben, die letzten drei Nomen, daraus eigenen Text machen (oder andere Experimente mit dem Wörtermaterial des Buches)
  • die/den AutorIn über das Verhältnis zu den Figuren sprechen lassen
  • die/den AutorIn über den eigenen Schreibprozess sprechen lassen
  • Kommentar zur eigenen Lesesituation verfassen
  • Reflexion zum eigenen Lektüreprozess vornehmen
  • einen Raum, einen Gegenstand o. ä. beschreiben
  • eine Bauanleitung für einen Gegenstand verfassen

Nach der Lektüre gibt es weitere Möglichkeiten:

  • Fragen an den Text aufschreiben
  • Antworten finden auf Fragen, die die Figuren oder die Geschichte stellen
  • Inhaltsangabe verfassen
  • die Geschichte auf 100 Wörter schrumpfen
  • Ich-Erzählung mit ähnlichem Inhalt schreiben
  • Rezension schreiben
  • Anpreisung oder Lese-Warnung verfassen
  • Brief an AutorIn schreiben
  • welche (universellen) Lebensfragen das Buch beantwortet
  • an was die LeserInnen sich reiben
  • worauf das Buch realen Einfluss haben kann
  • Text über das, was eine Figur die Leserin lehrte
  • Kreuzworträtsel zum Inhalt gestalten
  • neue Kapitel einfügen
  • neue Personen erfinden, die dem Ganzen eine andere Wendung geben könnten
  • Vorgeschichte des Entstehens der Geschichte erfinden
  • ein anderes Ende erfinden
  • eine Fortsetzung schreiben
  • das ganze Buch als Theaterstück oder Film aufbereiten
  • ,Familienaufstellung’ zu den Figuren im Buch
  • (alle) Kapitel illustrieren
  • das ganze Buch in einen Comic oder eine Bilderreihe umwandeln

Bertschi-Kaufmann, Andrea (2006): „Jetzt werde ich ein bisschen über das Buch schreiben“. Texte zum Nachklang von Lektüren als Unterstützung des literalen Lernens. In: Kruse, Otto / Berger, Katja / Ulmi, Marianne (Hg.): Prozessorientierte Schreibdidaktik. Schreibtraining für Schule, Studium und Beruf. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt Hintz, Ingrid (2002): Das Lesetagebuch: intensiv lesen, produktiv schreiben, frei arbeiten. Baltmannsweiler: Schneider Waldmann, Günter (2000): Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht, 3. Auflage. Baltmannsweiler: Schneider


5. September 2016

Kühlschrankpoesie

Wenn mir nichts mehr einfällt, ...

... gehe ich an meine Magnetwand und greife Wörter heraus. Irgendetwas wird es immer. Und irgendwie hat es immer mit mir jetzt und hier zu tun oder mit draußen oder mit dir. Die Kühlschrankpoesie gibt es in mehreren Ausführungen – die Wört kleben natürlich nur an den nicht verkleideten Kühlschränken. In meiner Werkstatt gibt es eine Magnetwand, falls einer/m Schreibwerkstattteilnehmer/in nicht mehr einfällt ... Ein Beispiel von mir von Mittwoch, als ich genug hatte vom Aufräumen und Semesterplanen.


29. August 2016

Drei Bücher

Gelesen in den Sommerferien

Den Wälzer, der mich nicht begeistert und von dem ich doch nicht lassen kann, weil ich natürlich wissen will, wie sie sich entscheiden, wie sie die auseinanderdriftenden Lebenslinien laufen, habe ich nicht mitgenommen: Bodo Kirchoffs Die Liebe in groben Zügen. Jetzt bin ich wieder zuhause und kaue mich zehnseitenweise wie vorher langsam gen Ende.
Mitgenommen und in atemlosen Lesemarathons verschlungen habe ich: Fegefeuer von Sofi Oksanen, Die Liebesgeschichtenerzählerin von Friedrich Christian Delius und Außer und spricht niemand über uns von Wilhelm Genazino. So verschieden sie sind, so sehr ähneln sie sich doch in vielerlei Hinsicht. Sprachlich sind sie überzeugend, inhaltlich fesselnd und universell sowieso (Oksanen schreibt von Verstrickungen im nach-sowjetischen Estland, Delius vom Versuch, die Entscheidungen des Vaters im ersten Weltkrieg und in Nazi-Deutschland zu verstehen, Genazino von einem, der im Berlin des 21. Jahrhunderts ein unangedocktes Leben versucht). Was sie für mich aber besonders macht und wo es dann auch die o. g. Verbindung gibt, ist die für mich so überraschend ähnliche Botschaft: Es gibt kein richtiges Leben (nicht nur nicht im falschen); es gibt nur ein mehr oder weniger mutig und ermächtigend gestaltetes in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation, in der man sich entscheidet, etwas zu tun oder etwas zu lassen – oder darüber nicht zum Handeln zu kommen, dass man sich nicht von den Schwingen der Frage heruntertraut, die da heißt: Wie geht das richtige Leben? Wenn man sich herunterstürzt und sich entscheidet, dann kann es sein, dass man sich für das Falsche entscheidet oder für etwas, das anachronistisch ist oder vollkommen einsam macht, die Gefahr besteht immer. Aber oben zu bleiben, ist auch keine Lösung. Es ist dieser Zusammenklang der drei, der mich wieder einmal hat spüren lassen, warum ich lese. Nicht zur Ablenkung, nicht zum Abtauchen, nicht zur Entspannung (na ja, auch) – sondern, weil ich immer noch versuche, das richtige Leben zu leben, von diesem Suchweg nicht lassen kann, obwohl er sich ,irgendwie’ nicht richtig anfühlt (und nicht gut) ... Ich werde das Gelesene ein bisschen sacken lassen ... Ach ja, im Rügener Windland gewandert und in der Ostsee geschwommen habe ich auch.


1. August 2016

Was bleibt vom Tag?

Schwärzen Sie!

Nehmen Sie eine Seite der heutigen Tageszeitung und lesen oder überfliegen Sie diese. Lassen Sie sich von Wörtern und Zusammenhängen, von Zufallsfunden, die Ihre Aufmerksamkeit erregen, fangen und schwärzen Sie den Rest der Seite. Es bleiben Wörter, Halbsätze, die sich zu einem neuen Text fügen (sollen).
Ich habe die Idee übernommen von Austin Kleon, der seine Werke Newspaper Blackout Poems nennt, übersetzt vielleicht:
Zeitungsausradierungsgedichte. Einerseits ist die Arbeitsweise eine kreative, die zu visuell-kommunikativen Produkten führt, andererseits spielt sie mit dem Akt der Zensur von Texten in Repressionszusammenhängen.
Kleon, Austin (2010): Newspaper Blackout, New York: HarperCollins, S. 69


25. Juli 2016

Das war der Tag

Schlagzeilen-Text

Nehmen Sie die heutige Tageszeitung und schneiden alle Schlagzeilen bzw. Überschriften aus (je nach Umfang der Zeitung kann man auch nur einen Teil, etwa das Feuilleton, nehmen). Aus diesen Schlagzeilen entsteht nun ein Text. Variante A: Es darf kein eigenes Wort hinzugefügt werden. Variante B: Sie mischen Schlagzeilen und eigene Zwischentexte.


18. Juli 2016

Brauche ich das ...

... oder kann das weg?

Zum aktuellen Pokémon Go-Hype könnte ich viel sagen, ich sage aber nur mit Sokrates:
„Was es nicht alles gibt, was ich nicht brauche.“ (Was das Pendant zum Online-Monsterspiel im antiken Griechenland war, ist mir leider nicht bekannt.)


11. Juli 2016

Feedback gehört zum Schreibprozess 5

Einführung in das redaktionelle Arbeiten (nach Melanie Heusel):

Bei einer Weiterbildung (Literacy Management und Schreibzentrumsarbeit) an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder lernte ich 2011 Melanie Heusel kennen. Sie entwarf dort – auch auf ihrem Hintergrund als Lektorin – während der Weiterbildung 2012 ein Konzept zur schrittweisen Überarbeitung eines Manuskript-Rohtextes zu zweit.

Die Texte, mit denen gearbeitet wird, sollten nicht länger als jeweils eine Normseite sein.

  1. Schritt: Die Teilnehmenden tauschen in Paaren ihre Texte.
  2. Schritt: Jede überarbeitet/redigiert den Text der jeweils Anderen nach eigenem Ermessen – aber auch vorsichtig, auf neuralgische Punkte, logische Brüche etc. hinweisend; eine Form könnte ein (wohlwollend fragender) Brief an die Autorin, den Autor sein.
  3. Schritt: Die Texte werden zurückgetauscht. Die PartnerInnen diskutieren über die Rückmeldungen.
  4. Schritt: Jede schreibt eine Neufassung des eigenen Textes auf ein neues Blatt.
  5. Schritt: Schritt 2 bis 4 wiederholen sich; dieses Mal werden (vorher abgesprochene oder vorgegebene Kriterien) angelegt.
  6. Schritt : Jede reflektiert schriftlich das eben Erlebte: Wie war es, den eigenen Text aus der Hand zu geben? Wie hat es sich angefühlt, in den fremden Text einzugreifen? Welche Art von Änderungen wurden zu meinem Text vorgeschlagen? Welche Art von Änderungen habe ich für den fremden Text vorgeschlagen? Wie war das Erstellen der Neufassung? Welche Änderungsvorschläge haben sich als nützlich erwiesen? Warum? Welche anderen Vorschläge/Eingriffe/Anweisungen wären noch hilfreich gewesen? Warum?
  7. Schritt: Jeweils zwei Paare tun sich zusammen und tauschen sich über die Ergebnisse aus.


4. Juli 2016

Feedback gehört zum Schreibprozess 4

Für die Sendung mit der Maus

Angelehnt an die Queneau’schen Stilübungen (siehe 20. 6. 2016) kann man einen eigenen oder auch einen fremden (Sach-)Text so umschreiben, dass er sich für die Sendung mit der Maus eignet. Wie geht das – Sachtexte schreiben für Kinder zwischen vier und acht? Im Selbstversuch lässt sich das einfach mal testen. Vielleicht gibt es ja das eine oder andere Kind in der Verwandtschaft oder Nachbarschaft, das sich als Testhörer zur Verfügung stellt.


27. Juni 2016

Was ich sagen will, könnte ...

... nicht das sein, was ich sagen wollte

„Wenn die Sprache nicht stimmt, dann ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist. So kommen keine guten Werke zustande. Also dulde man keine Willkür in den Worten“(Konfuzius, 551–479 v. u. Z.). Übersetzt auf das Kreative Schreiben heißt das, was der antike Philosoph gesagt hat, für mich: Je mehr Möglichkeiten des sprachlichen Ausdrucks ich mir schreibhandelnd aneigne, desto mehr Varianten stehen mir zur Verfügung, um meine Inhalte sprachlich zu gestalten, um einen poetischen Selbstausdruck zu finden, der tatsächlich das Gefühlte und/oder Gedachte wiederspiegelt.


20. Juni 2016

Feedback gehört zum Schreibprozess 3

Stilübungen am eigenen Text

Die Idee: Man wendet die Stilübungen von Raymond Queneau (1961) auf einen eigenen (kurzen) Text an und verfasst mindestens fünf Varianten. Beispiele für Queneau’sche Aufgaben: Text in Gedicht oder Bühnenstück verwandeln, rückwärts erzählen, Telegramm, Klappentext, für Kinder .../

In dem kleinen Bändchen von Queneau findet man rund 100 Selbstversuche des Autors, der Ursprungstext ist eine einfach erzählte kurze Szene in einem Bus, der je nach selbst gestellter Aufgabe entsprechend sprachlich und/oder stilistisch und oder vom Aufbau her verändert wird. Der Sinn ist zum Einen, dass ein solches Selbstexperiment Spaß macht, zum Anderen aber bringt es auch Erkenntnisse über das Gemachtsein von Texten – im Selbstversuch.


13. Juni 2016

Feedback gehört zum Schreibprozess 2

Feedbackmethoden nach Patricia Belanoff & Peter Elbow

Patricia Belanoff und Elbow stellen in A Community of Writers: A Workshop Course in Writing (McGraw Hill, 1989/1999) elf Feedbackmöglichkeiten vor (Zusammenfassung unter www.usi.edu/media/2962444/summary-of-ways-of-responding.pdf; abermals zusammen­fassenden Übersetzung: Kirsten Alers). Erdacht sind sie für den Kontext Peer Review im wissenschaftlichen Schreiben, lassen sich aber an alle anderen Kontexte anpassen.

Sharing: no response
Es geht um die Wirkung reiner Aufmerksamkeit: den eigenen Text laut vorlesen oder gleichzeitig mit jemand anders parallel leise lesen.

Pointing and center of gravitay
Pointing: Welche Wörter/Sätze/Passagen berühren, bleiben hängen? Center of gravity: Welche Facetten scheinen wichtig, erzeugen Resonanz oder könnten allgemeingültig sein?

Summary and sayback
Zusammenfassung in eigenen Worten.

What is almost said? What do you want to hear more about?
Diese Fragen stellt die/der AutorIn ans Publikum.

Reply
Die frei assoziierten Gedanken der ZuhörerInnen zum Gegenstand des Textes.

Voice
Welchen Eindruck macht der Ton des Textes: Ist er lebendig, human, langweilig, furchtsam, zuversichtlich, sarkastisch, verteidigend etc.? Und was zeigt der Ton von der Autorin?

Movies of die reader’s mind
Spontane und ehrliche Auskunft in Ich-Aussagen über das, was in einer/m beim Lesen/Hören vorgeht, direkt nach dem Lesen/Hören.

Metaphorical descriptions
Beschreibung des Textes in bildhaften Ausdrücken aus dem Bereich Kleidung, Wetter, Tiere, Farben, Formen etc.

Believing and douting
Zuerst alles glauben (auch wenn nicht): Glaub alles, was ich geschrieben habe, und mach es mich glauben; sei mein Freund und gib mir mehr Beweise, Argumente, Ideen, damit ich meinen Text intensivieren kann. Dann alles anzweifeln (auch wenn nicht): Nimm die Haltung eines Feindes an und such Argumente gegen meinen Text, mach glaubhaft, dass du mein Schreiben hasst.

Skeleton feedback and descriptive outline
Skeleton feedback: Leg meine Annahmen über Thema und Adressat sowie meine Argumentationen offen, den Hauptpunkt, die Unterpunkte, die unterstützende Beweisführung. Descriptive outline: Schreib says- und does-Sätze für den Gesamttetxt, dann abschnittsweise. (Ein says-Satz fasst die Meinung oder Botschaft zusammen, ein does-Satz beschreibt die Funktion.)

Criterion-based feedback
Den HörerInnen/LeserInnen Fragen zu spezifischen Aspekten meines Textes stellen, mit denen ich hadere, über die ich mich wundere; ergänzend fragen, was die HörerInnen/LeserInnen als wichtigste Kriterien ansehen, z. B. entlang der traditionellen Kriterien für Essays: Fokus der gestellten Aufgabe, Inhalte (Ideen, Argumentation, Quellen/Unterstützung, Originalität), Organisation des Textes, Klarheit der Sprache, Charakter des Tons.


6. Juni 2016

Feedback gehört zum Schreibprozess 1

,Segeberger Methode’

Im Prinzip ist das ,normale’ auf den Segeberger Jahrestagungen übliche Feedbackprozedere angelehnt an die Methode, die von den Tagungen der Gruppe 47 bekannt ist: Die Autorin, der Autor liest den eigenen Text vor – und schweigt dann, während im freien Gespräch, in harter Debatte der Text von den Zuhörenden besprochen wird. So verfahren wir in der Regel – manchmal aber denken wir uns etwas Komplexeres aus. Ein großer Unterschied (unter anderen) zwischen der Gruppe 47 und dem Segeberger Kreis ist allerdings, dass die Gruppe 47 sich im Prinzip nur zur Textrezeption traf, während auf den Tagungen des Segeberger Kreises gemeinsam geschrieben wird, um sich dann die Texte vorzulesen, die während dieser selbsterdachten und -gesteuerten Schreib­einheiten entstanden sind.
Auf der Jahrestagung des Segeberger Kreises 2007 in Wolfenbüttel war ich Mitglied der Klein-gruppe „Stil(l)arbeit“, deren Arbeitsprozess ich hier vorstellen möchte: Zunächst tauschten wir (zehn SchreibgruppenleiterInnen und/oder Auto­rInnen/Jour­nalistInnen) uns über die von den Ein-zelnen bevorzugt angewandten Feedback­methoden aus. Im Anschluss schrieb jedeR einen nicht zu langen Text zu einem der in der Gruppe vorgeschlagenen Themen Opferbrief, Glück/Pech, Wasser, Veränderung, Drei Nächte lang, Nachtgedanken oder Sport. Diese Texte wurden zweimal kopiert, das Original anonym an einer Pinnwand aufgehängt. Die beiden Kopien wurden verlost, sodass jedeR aus der Gruppe zwei fremde Texte hatte, die sie/er kommentieren/lek­torieren/kritisieren sollte, ohne dass die Methode vorgegeben war. Die kommentierten Kopien wurden neben das Original an die Pinnwand gehängt. JedeR nahm seinen Text und die beiden Fremdkommentare und begab sich an die Überarbeitung des eigenen Textes. Parallel zur Bearbeitung sollte eine Art reflektierendes Tagebuch geführt werden unter den Fragestellungen: Was arbeite ich warum ein, welche Vorschläge verwerfe ich? Welche Kritik freut mich, welche ärgert mich? Was haben die KommentatorInnen erkannt, wo war mein blinder Fleck? Was passiert mit meinem Text, was mit mir während der Überarbeitung?
Ich dokumentiere hier meine eigenen nach dem Überarbeiten gemachten reflektierenden Notizen: „Ich bekam zu meinem Text ,Koljas Sommernacht’ Kommentare von Karsten und Ekkehard. Karsten arbeitete mit rotem Stift im Text direkt, monierte einzelne Wörter/Zu­sammenhänge und machte auch Verbesserungsvorschläge. Ich konnte damit wunderbar arbeiten, habe einiges angenommen (so auch eine sehr konkrete Anmerkung von Ekkehard), anderes nicht – und mich gar nicht geärgert. Mir wurde bewusst, dass es schwer ist, einen Text, der in einen größeren Zusammenhang gehört (Romankapitel), sinnvoll zu kritisieren. Karsten fügte auch noch auf einer ,gelben Karte’ Fragen hinzu, die sich fast alle auf dieses Problem bezogen, bis auf die letzte (...): ,Der Text wirkt auf mich, als sei der Ich-Erzähler weiblich.’ Dieser Punkt brachte mich auf, ich vermutete Rollenklischeedenken bei meinen beiden (männlichen) Kommentatoren, sie unterstellten mir mangelnde Distanz zu meinen weiblichen Erfahrungen als Jugendliche. Zum Schluss (in der mündlichen Nachreflexionsrunde, KA) kam heraus, dass dieser Kolja in meiner Erzählung ein sehr intellektueller Junge mit der Gabe zu ironischer Selbstreflexion ist und dass ich meine Geschichte mal pubertierenden Jungen und Mädchen als TestleserInnen geben sollte. (...)“ (Segeberger Briefe No. 75, 2/2007, S. 27).
Im Anschluss an dieses einen ganzen Tag in Anspruch nehmende Prozedere entwickelten wir in der Kleingruppe Kriterien und Verfahren für Textarbeit, die Kriterien möchte ich hier ebenfalls dokumentieren:

Formales Äußere Form, Absätze ...
Grammatik, Rechtschreibung ...
SpracheStilfragen
Klischee vs. Originalität
Figurensprache
zeigen vs. benennen
beschreiben vs. erklären
Wiederholungen, Tautologien prüfen
TextganzesErzählperspektive
Anfang und Ende
Titel
Spuren legen
Erwartungen schüren und erfüllen vs. Erwartungen brechen
Entscheidung vs. Unentschiedenheit
Plausibilität, Glaubwürdigkeit
Konsistenz, Stimmigkeit
Umgang mit offenen Fragen
Das ,Eigene’     Ton des Textes
Funktion klären
Ziel klären(Segeberger Briefe No. 75, 2/2007, S. 28 f.).

Das Fazit der Gruppe in Wolfenbüttel: „Die kritische Auseinandersetzung mit dem Text ist Zuwendung für den Text“ (Segeberger Briefe No. 75, 2/2007, S. 29).


30. Mai 2016

Collage mal wieder

Mit Zitaten etwas Neues herstellen

Man nehme: vier Nachrichtensendungen oder drei Tierfilme oder alle Werbespots während eines Spielfilms. Man notiere: alles, was eine/n anspringt, Wörter, Begriffe, halbe Sätze, als Zitate, nicht kommentierend. Man schalte den Fernseher, das Radio aus. Man nehme die Zitat-Notizen und collagiere sie zu einem eigenen Text. Es sollten möglichst keine eigenen Sätze hinzugefügt werden. Allerdings darf man das Material grammatisch verändern.
Manchmal wird das Ganze absurdes oder lustiges Flickwerk, manchmal aber öffnet sich über dieses spezielle intertextuelle Arbeiten etwas ganz neues Kohärentes.


23. Mai 2016

Behindert oder behindernd

Ein Kommentar

Zweimal im Jahr erscheint die Zeitschrift Facetten, die auf 20 Seiten über Neuigkeiten, Erfolge und ganz Alltägliches aus der Sozialgruppe Kassel e.V. bzw. aus ihren fünf Zweckbetrieben informiert (und die ich als Redakteurin mitbetreue). In der Nummer 30, die am 19. 5. erschienen ist, ist ein Text über den Begriff der Behinderung veröffentlicht, den ich im Folgenden dokumentieren möchte:

Dieser Text behindert!

Der Begriff der Behinderung heute und morgen

Nach § 2 Abs. 1 Satz 1 des SGB IX und § 3 des Behinderten-Gleichstellungsgesetzes des Bundes (BGG) sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“. Ergibt eine fachliche, oft medizinische Einschätzung als Ergebnis, dass ein Mensch im Sinne dieser Definition behindert ist, so ist er im Sinne des SGB IX leistungsberechtigt und darf z. B. in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung eine Rehabilitationsmaßnahme in Anspruch nehmen.
Maßgeblich für die Anerkennung einer Behinderung ist bis heute eine medizinische Diagnose oder ein Sachverständigen-Gutachten. Dabei stützt sich die medizinische Diagnose auf die sogenannte internationale Klassifikation einer Dysfunktion bzw. Funktionsstörung (engl. ICD).
Mit der Einführung des Bundesteilhabegesetzes und der damit verbundenen Umsetzung der UN-BRK wird auch eine neue Definition von Behinderung eingeführt. Diese neue Erklärung stützt sich auf die internationale Klassifikation einer Funktion (engl. ICF). Grundlage ist dabei nicht mehr das Vorliegen einer medizinischen Einschränkung, vielmehr entsteht die Behinderung durch Faktoren in der Umwelt. Diese Faktoren behindern die Gesundheit funktional, daher auch die Bezeichnung „Funktionale Gesundheit“. Wird ein Mensch von einem dieser Faktoren behindert, so entsteht eine Teilhabebeschränkung. Ist diese Teilhabebeschränkung erheblich, so hat dieser Mensch das Recht auf eine individuelle Leistung, die diese Teilhabebeschränkung aufhebt.
Haben Sie den Text verstanden? Kennen Sie alle hier genannten Begriffe? Nein? dann behindert Sie dieser Text! Sie benötigen Hilfe, Sie brauchen eine Übersetzung. Genau darin besteht der Unterschied! Nicht das Vorliegen einer nachweislichen Lernbehinderung, sondern der viel zu kompliziert verfasste Text ist die Ursache für die Behinderung. Eine Lösung ist, den Text in sogenannter Leichter Sprache zu verfassen, oder jemand erklärt Ihnen alles ganz einfach.

Versuchen Sie doch einmal, diesen Text in Leichter Sprache zu verfassen, und senden Sie uns ihre Vorschläge. Die beste ,Übersetzung’ wird in der nächsten Ausgabe abgedruckt. Ihre Zuschriften senden Sie an die Redaktion.
Mike Alband-Nau (Einrichtungsleitung der Kasseler Werkstatt für Menschen mit Behinderung)

SGB IX: 9. Buch des Sozialgesetzbuches: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen
ICD: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems
ICF: International Classification of Functioning, Disability and Health
UN-BRK: Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen


16. Mai 2016

konstELLAtionen

Erzählung zu neunt

Es ist Montag, neun Frauen sitzen, den Kopf geneigt, den Stift über das Papier laufen lassend, am großen Tisch in der Schreibwerkstatt. Jede schreibt einen Text, einen aus ihrem eigenen Innern heraus, jede über sich, über ihre Sicht auf die Welt, für sich. So ist das meistens. Im Herbst 2015 war es zeitweise anders. Die Montags­schreib­werkstatt schrieb eine Erzählung. Alle schrieben an einer Erzählung, schrieben eine Gruppenerzählung. Wie das geht? Ohne dass neun Stile sich ,beißen’?
Zuerst entwickelte jede eine Figur, fertigte einen umfangreichen Steckbrief. Nach der Lektüre der Steckbriefe standen uns neun Figuren lebhaft vor Augen. Aus diesen neun wählten wir eine Figur aus, die den meisten von uns am sympathischsten und am geeignetsten zum Ausgestalten einer Erzählung schien, diese wurde die Hauptfigur für unsere gemeinsame Erzählung: Ella.
Wir einigten uns außerdem darauf, dass die Erzählung in Kassel und in der Gegenwart (2015/2016) spielen sollte. Und dann schrieb eine das erste Kapitel, zuhause, das war im September.
Beim nächsten Schreibwerkstatttreffen las sie den Anfang vor. Wir diskutierten, ob wir uns ,die Szene’ so vorgestellt hatten, ob eine Problematik, ein Konflikt, eine Aufgabe für Ella angelegt war, ob uns etwas unlogisch, übertrieben, verzichtbar erschien. Und dann nahm eine Andere die Erzählung mit nach Hause, um das zweite Kapitel zu schreiben.
Beim nächsten Schreibwerkstatttreffen stellten wir wieder die gleichen Fragen an den Text, außerdem noch die Frage, ob ein Stilbruch feststellbar sei – denn am Ende sollte die Erzählung ja wie aus einem Guss wirken.
Bis zum Kursende im Mai waren neun Kapitel geschrieben – doch es fehlte der Schluss. Jede hatte eine andere Vorstellung davon, wie die Erzählung enden, wie Ellas Geschichte zu einem Ende geführt werden könnte. So einigten wir uns darauf, dass jede, die wollte, einen Schluss schreiben konnte. Also gibt es nun eine Erzählung über Ella, ihre Freundinnen Romy, Luise, Katja und Helga, Frau Schulz und Kalle und einige weitere Randfiguren.
Jetzt ist die Erzählung erschienen. Die Verfasserinnen wünschen, dass das Lesen Genuss bringt und dass die Erzählung ein Sich-Spiegeln ermöglicht.

Die Verfasserinnen (von links nach rechts): Kirsten Alers, Christa Grill, Emmi Poguntke, Christel Högemann-Lohse, Doris Goede, Sabine Wölm, Waltraud Schade, Nicole Ohm-Hansen, Petra Meder.

konstELLAtionen kann über Wortwechsel für 6 Euro (ggfs. plus Porto) bezogen werden.


9. Mai 2016

Kürzestgeschichten

Passendes Genre für die Postmoderne?

Möglicherweise ist es etwas idealistisch oder naiv zu denken, was Jan Röhmert in der FAZ zu den Kürzestgeschichten von Klaus Johannes Thies formulierte: „Wie gut, dass es diese Prosa über gar nichts weiter gibt – sie enthält alles, was zählt.“ Möglicherweise sehnen wir uns nach den allerkürzesten Geschichten, die genau eine Sache in den Blick nehmen, um sich in der Komplexität der Welt auszurichten auf eben jenes Detail, das die Kürzestgeschichte, wie mit einem Spot angestrahlt, scharf hervorhebt. Möglicherweise ist es auch das, dass der Mensch in der Postmoderne (wie kurioserweise unsere Zeit bezeichnet wird – man fragt sich doch, was denn wohl danach noch kommen soll) weder Zeit noch Muße hat, sich auf Epen, auf Tausendseitenromane, auf komplexe Weltengeschichten einzulassen (obwohl es für das Gegenteil auch Beweise gibt, wie etwa Harry Potter) und die schnelle Unterhaltung, die schnelle Perspektiveneinstellung, die schnelle Welterklärung sucht.
Möglicherweise aber bleibt den heutigen GeschichtenschreiberInnen gar nichts Anderes, als zu versuchen, Ausschnitte des Universums zu betrachten, möglichst genau zu betrachten, zu fassen, auf den Punkt zu bringen in ihrer verwirrenden Vielschichtigkeit und kaleidoskopartigen Zerbrechlichkeit, weil mehr erfassen zu wollen vermessen wäre.
Auf jeden Fall aber vermögen Kürzestgeschichten, sind sie denn so gestaltet, dass sie nicht holzschnittartig zu simplifizieren suchen, tatsächlich alles – wie ein Tausendseitenroman.
Ich möchte hier ein paar dieser modernen Kürzestgeschichten, die mich faszinieren, zitieren. Die kürzeste mir bekannte ist allerdings schon vergleichsweise alt, die stammt aus der Feder von Ernest Hemingway: For sale. Baby shoes. Never worn.

Franz Hohler: Begegnung (aus: 111 einseitige Geschichten, Luchterhand 1981)
Da ging einmal ein Mann ins Büro und traf unterwegs einen anderen, der soeben ein französisches Weißbrot gekauft hatte und sich auf dem Heimweg befand.
Das ist eigentlich alles.

Ana Maria Matute: Das Mädchen, das nirgendwo mehr war (aus: Spanische Kürzestgeschichten, dtv 1994)
Drinnen im Schrank roch es nach Kampher, nach gepressten Blumen – Asche in Scheibchen. Nach weißer kalter Winterwäsche. Drinnen im Schrank hütete eine Schachtel kleine rote Mädchen Schuhe mit Troddeln. Daneben lag in Seidenpapier und Naphthalin die große Puppe mit den dicken harten Wangen, die man nicht küssen konnte. In den runden starren Augen aus blauem Glas spiegelten sich die Lampe, die Zimmerdecke, der Schachteldeckel, und früher auch die Kronen der Parkbäume. Die Puppe, die kleinen Schuhe gehörten dem Mädchen. Aber in diesem Zimmer war es nicht zu sehen. Es blickte auch nicht aus dem Spiegel über der Kommode. Auch nicht aus dem gelben verrunzelten Gesicht, das sich die Zunge anschaute und Lockenwickler ins Haar drehte. Das Mädchen in diesem Zimmer war nicht gestorben, aber es war nirgendwo mehr.

Lydia Davis: Kontingenz (versus Notwendigkeit) 2: Im Urlaub (aus: Kanns nicht und wills nicht. Stories, Literaturverlag Droschl 2014)
Er könnte mein Mann sein.
Aber er ist nicht mein Mann.
Er ist ihr Mann.
Und so macht er ein Foto von ihr (und nicht von mir) in ihrer geblümten Strandgarderobe vor der alten Festung.

Camille Esses: Erdnussbutter (aus: Überraschungen. Die besten Sekundenstorys, Insel Verlag 2015)
Er war dagegen allergisch. Sie tat so, als wüsste sie es nicht.

Klaus Johannes Thies: Mit Stehlampe (1) (aus: Unsichtbare Übungen. 123 Phantasien, edition AZUR 2015)
Die Stehlampe ist noch an, brennt noch ein bisschen nach. Die neuen Frühjahrserscheinungen werden von HERKUNFT und HEIMAT erzählen und von meinem Vater, der sagt: „Ich will noch mal ans Meer – ein letztes Mal das Meer sehen.“ Das wäre ein schöner Satz für meinen Vater gewesen. Hatte die ersten zwei Worte auch schon formuliert, kam nur nicht dazu, sie auszusprechen. Spielte mit den Knöpfen und fühlte sich gleich viel besser, weil alles andere kannte er bereits. Konnte alle Fragen beantworten, blätterte die Bilder durch. Und es war schön, einfach vor der Stehlampe stehenzubleiben.
Zwei Reclam-Hefte sind (zusätzlich zum Bändchen Überraschungen) ein Fundus für Kürzestgeschichten: 9569 und 15064.


2. Mai 2016

Thema Dialoge

aus dem 4. Kasseler Schreibcafé

Am letzten Donnerstag veranstaltete das Netzwerk Kreatives Schreiben Nordhessen/­Südniedersachsen das 4. Kasseler Schreibcafé im Café am Bebelplatz. Hineinschnuppern ins Kreative Schreiben – das ist die Idee. Den Abend, der dieses Mal unter dem thematischen Schwerpunkt Dialogeschreiben stattfand, gestaltete meine Kasseler Kollegin Jacqueline Engelke, Journalistin und Schreibbegleiterin.
Es ist immer wieder überaus spannend, KollegInnen zu erleben, unter ihrer Leitung eine Schreibwerkstatt zu genießen. Ich reibe mich am Konzept, ich staune, zu welchen Texten bekannte Schreibübungen bei mir führen, wenn ich vorher nicht weiß, dass sie angeboten werden, und ich bekomme Geschenke: Schreibanregungen, die ich noch nicht kenne. Hier also will ich eine vorstellen, die mich besonders angesprochen hat: ein Akrostichon-Dialog.
Schreiben Sie die Buchstaben des Wortes DIALOG untereinander und füllen dann die sechs Zeilen mit einem Dialog von zwei Stimmen. Mein (etwas dadaistisch und etwas mundartlich anmutendes) Ergebnis:
Dä, ähh, nääää
Igittigittigitt
Alszus, widder un widder
Lieberhenne, nää
Ohje ohje ohje
Grad jetze, dä!


25. April 2016

Die Schublade ...

... auf und zu – oder?

„Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen die Dinge, wie wir sind“, sagte Ken Keyes. Der US-amerikanische Bewusstseinsforscher formulierte damit auf einfache Weise die erschrecken machende Erkenntnis des Konstruktivismus. Und warum steht das jetzt hier, im Schreibblog? Der Satz könnte Schreibanregung sein, er könnte auch Aufforderung zur Konstruktion einer möglichen besseren Welt sein, die es nur geben kann, wenn sie antizipiert wird von Utopie-KonstrukteurInnen.


18. April 2016

FischWolfVogelEidechse

Ein Märchen – nicht nur für Kinder

Ich empfehle zu lesen:
Fisch, Wolf, Vogel und Eidechse begeben sich auf eine lange Reise, um das Schöne zu suchen – um unbewusst die Antwort nach dem Sinn des eigenen Seins zu finden. Eine Geschichte von Freiheit und Sehnsucht, von den kleinen Dingen, die zu Großem werden, und darüber, dass wir vergessen, über diese zu staunen. Eine Geschichte für kleine und große Menschen (ab 5), die sich erfreuen können an der fantasievollen märchenhaften Erzählweise und an den farbigen Aquarellen und Zeichnungen, die mehr sind als einfache Illustrationen des Erzählten.
Die Autorin und Illustratorin Yara Leonie Semmler (27) ist Diplom-Designerin (Kommunikations­design, Hochschule Darmstadt) und Mitinhaberin des Studios So in Leipzig. Sie hat das bekannte Märchen von den Bremer Stadtmusikanten adaptiert, aber keineswegs eine einfache Kopie angefertigt. Die vier Elemente Wasser, Erde, Luft und Feuer verkörpern sich in den Saibling, Timberwolf, Rotmilan und Mauereidechse ebenso, wie die Erzählung von den Tieren, die zu Gefährten werden, soziologische und ökologische Fragen berührt.
Ich habe das Buch sehr gern lektoriert und verlegt, nicht zuletzt, weil es das Ergebnis eines langen kreativen Prozesses ist, der von Versuch und Irrtum, von Mut und Kooperation zeugt.

Yara Leonie Semmler
FischWolfVogelEidechse
Verlag Wortwechsel
ISBN 978-3-935663-29-8
13,90 Euro


11. April 2016

Wer bin ich?

Anagramme machen

Vielleicht kennen Sie Unica Zürn (!916–1970), die große Meisterin der Anagramme. Hier eines ihrer überlieferten 123 Anagramm-Gedichte:

Tausend Zaubereien
Ei, zarte Sünden bau:
reizende Tauben aus
Zundertau. Eine Base
aus Reizdaunen bete
an. Zuende Staubeier
aus, in Zaubertee. Den
Zebus traue an deine
Busenzierde. Taue an
Eisabenden Azur. Tue
in den Zaubertausee
tausend Zaubereien.

Unica Zürn hat um 1960 in Paris, wo sie auch in Beziehung zu den Surrealisten rund um André Breton und Hans Arp stand, begonnen, Anagramme zu schreiben, nachdem sie zuvor schon als Grafikerin hatte von sich reden machen können (u. a. war sie mit Zeichnungen auf der Documenta II in Kassel vertreten).
Vielleicht wollen Sie selbst einmal Anagramme machen? Es gibt echte wie das oben dokumentierte Gedicht, bei denen in jeder Zeile exakt die gleichen Buchstaben und nur diese vorkommen wie in der Ausgangszeile. Und es gibt unechte Anagramme, bei denen man zuerst aus dem vorgegebenen Buchstabenmaterial so viele Wörter bildet, wie man finden kann, ohne auf die Anzahl der verwendeten Buchstaben zu achten.
Versuchen Sie einmal echte Anagramm-Zeilen zum Wort WIEDERHOLEN.
Versuchen Sie einmal ein unechtes Anagramm-Gedicht zur Frage: WER BIN ICH?


4. April 2016

Yogisches Schreiben

Ein Versuch, Praxis zu fassen

Den Begriff Yogisches Schreiben gibt es in der Literatur nicht. Aus meiner Erfahrung im Schreiben und – deutlich geringer – im Yoga, aber vor allem aus dem Zusammendenken dem Nacheinander-Praktizieren der beiden Formen des Seins habe ich folgendes Verständnis entwickelt:

Yogisches Schreiben ist (oder kann sein)
  • achtsames Schreiben, das (die Sinne) für das Innen und das Außen öffnet
  • das Schreiben in Formen (zur Stabilisierung und Grenzerfahrung)
  • erinnerndes Schreiben (um unterscheiden zu können zwischen Damals und Jetzt)
  • reflektierendes Schreiben (z. B. zu einer Lebensfrage)
  • entlastendes Schreiben (,Blödelerlaubnis’)
  • Abschreiben (z. B. eines philosophischen Textes)
  • Rezitation (fremder Texte, aber auch das In-den-Raum-Stellen der eigenen Stimme, der eigenen Texte)

Yogisches Schreiben fördert die vom Yoga-Lehrer Jon Kabat-Zinn (Zur Besinnung kommen, Arbor Verlag 2005) aufgeführten inneren Einstellungen aus der Achtsamkeitspraxis: Nicht-Beurteilung, Geduld, Anfänger-Haltung (Beginner’s Mind), Vertrauen, Vernachlässigung einer Zielorientierung oder ,Projektmentalität’, Akzeptanz, Loslassen-Können.
In meine Unterrichtspraxis als Schreibpädagogin fließen diese Formen des von mir so benannten Yogischen Schreibens seit je ein. Schön ist es, nach und nach immer mehr Implizites, das ,automatisch’ aus mir und im Kontakt mit Anderen entstanden ist, mir bewusst, also explizit zu machen und gezielter einsetzen zu können.


28. März 2016

Facetten des Lebens:

Stark, mutig und schön

Wenn Menschen eine Geburtstagskarte schreiben, muss sie unbedingt mit drauf, die Gesundheit … ohne die doch angeblich alles nichts ist. Doch was machen die Frauen, denen dieses Wünschen nicht geholfen hat? Sie fallen nicht nur aus der Gesundheit, sondern auch aus der Gesellschaft derer, die sie für das Wichtigste im Leben halten. Eine gute Art, damit umzugehen, ist zu schreiben. Aber nicht nur über Gesundheit und Krankheit, sondern auch über Liebe und Freundschaft, Arbeit und Hobbys, Feste und Reisen, Kindheit und Alter ...
Eine Lieblingsstelle, im Gedicht menschenskind von Karla Kundisch:
„kennen wir uns denn und wissen
wir denn was wir können und
wie wir anders gut und böse und
normal behindert krank gesund und anders sind und wären wenn?“

Stark, mutig und schön – die Dresdener Schreiblehrerin Angelika Weirauch hat für den Verein Lebendiger leben! eine außergewöhnliche Anthologie zusammengestellt. Dies ist kein depressives Buch, wie manche vielleicht denken würden! Es ist nachdenklich, realitätsnah, manchmal lustig, manchmal sehr ernst. Es zeigt viele Facetten des Lebens von Frauen zwischen 30 und 75, die entdeckt haben, dass ihnen das Schreiben hilft, auch die anstrengenden Zeiten des Lebens gut durchzustehen, und dass sie nicht allein sind dabei.

Angelika Weirauch (Hg.) für den Verein Lebendiger leben!: Stark, mutig und schön

Bestellungen über: lebendiger_leben@web.de oder Wortwechsel


21. März 2016

Ins neue Sonnenjahr

mit einer erstaunlichen Erkenntnis?

„Niemand kann dir, ohne deine Zustimmung, das Gefühl geben, minderwertig zu sein.“ (Eleanor Roosevelt)


14. März 2016

Umkreisen

Eine Sprache finden durch Wiederholungen

Auf der Suche nach Methoden, um eine Sprache oder zunächst Wörter für das zu finden, was mich umtreibt, was mich sprachlos macht, wofür ich aber so dringend eine Sprache oder zumindest Wörter finden will, habe ich verschiedene Methoden ausprobiert. Und will eine hier beschreiben und zur Nachahmung empfehlen.
Auf der Suche nach einer Sprache für etwas, was sprachlos macht, kommen Wörter zu Ihnen. Nehmen Sie eines davon und schreiben Sie Texte, immer ausgehend von diesem einen Wort. Wiederholen Sie das Wort, so oft es geht. Schreiben Sie wilde Wiederholungstexte, schreiben Sie Elfchen mit dem Wort als erstem, schreiben Sie mit sanfter, mit wilder Musik im Hintergrund, immer das eine Wort im Fokus habend, es wiederholend, es umkreisend, es schmeckend, riechend, sehend, hörend. Nehmen Sie das Wort mit in Ihre Morgenseiten, in Ihr Tagebuch. Und wiederholen Sie es. Dann wird es sich entfalten, es wird andere Wörter herbeirufen, es wird sich etwas in Ihnen öffnen, eine Sprache, vielleicht für die Frage, die Sie mit dem Wort verbunden haben.


7. März 2016

Üben, schreiben, üben, schreiben

und vertrauen

„Wir sind so ungeübte Schreiber, weil wir so viel Zeit damit verschwenden, mitten im Satz anzuhalten und uns über das Geschriebene Gedanken zu machen.“ (Peter Elbow) Peter Elbow ist derjenige Schreiblehrer, der in den USA Anfang der 1970er Jahre als einer der Ersten das zunächst einmal unsortierte, einfach den Stift in Bewegung haltende Schreiben als hilfreiche Methode für alle Arten von Schreibaufgaben oder -vorhaben beschrieben hat. Freewriting heißt es seitdem. Und es hilft. Und es befreit.


29. Februar 2016

Schichtungen

Versuch, ein Thema sprachlich zu fassen

Seit einiger Zeit versuche ich, die Gleichzeitigkeit meines Luxuslebens und des Lebens der Anderen (derer auf der Flucht, im Krieg, in Diktaturen usw. usf.) zu fassen. Bisher ist mir kein Text gelungen. Nur diese Arbeit, die entstand nach einer Woche Kreativem Schreiben Sylt, in der das Privilegiert-Sein noch deutlicher zum Vorschein trat als zuhause, zu der auch die Präsenz des Meeres beitrug: das mich zu philosophischen Traktaten auf Papier bringt und anderswo Menschen verschluckt und tot wieder ausspuckt (und da ist sie wieder, die Sprachlosigkeit, die mich dann auch noch manchmal textlich dazu führt, dass ich das Meer als böses Ungeheuer personifiziere ...).


22. Februar 2016

gewesen: auf Sylt

erhofft: rüm Hart, klaar Kiming

Eine Woche Kreatives Schreiben im Jugendseeheim des Landkreises Kassel – was für ein Geschenk, dort arbeiten zu dürfen! Am ersten Tag gingen wir erst einmal raus, mit allen Sinnen eintauchen in den Sylter Februar, Meer, Watt, Sand, Dünen, Heide, Wind, Salz, Sonne – aufsaugen, einatmen, ausatmen ... Am zweiten Tag tauchten wir in Texte ein, in Literarisches, geschrieben von anderen Menschen, die sich ebenfalls schreibend der Insel, dem Meer genähert hatten. Hier ein Ausschnitt aus Wiedergänger von Jochen Missfeldt, in dem ein historischer Sylter Spruch eindringlich an das Heute angedockt wird:
„[...] Spätestens in solchen Wetterlagen, in der trockenen Kälte der verzauberten Insel, stelle ich mir die Frage, wie ich ein besserer Mensch werden kann. ,Atme einfach locker durch die Hose und mach weiter wie bisher’, so lautet eine Empfehlung aus dem Vorrat des Zeitgeistes. Ich lehne das ab und sage Klaar Kiming – Klarer Horizont, obwohl ich vom Friesischen keine Ahnung habe. Wäre das Friesische populärer, würde es besser unter die Leute gebracht werden, dann hätte ich vielleicht mehr Ahnung. Klaar Kiming, so könnte ein Schiff heißen, das hier zwischen den Inseln kreuzt; eines mit dem friesischen Namen Rüm Hart – Weites Herz – kreuzt hier nämlich schon. Zusammen ergeben die beiden ein schönes Motto zur Verbesserung der Menschheit. [...]“ (aus: Jochen Missfeldt: Wiedergänger. Eine andere Geschichte von Sylt, Edition Eichthal, Eckernförde 2015)


15. Februar 2016

Auf einer Insel

Eine Woche Sylt

Zum 10. Mal fahre ich nach Sylt. Eine Woche Meer schreiben, 13 Teilnehmende, wie immer. Wir schreiben, wie immer. Und doch immer anders. In der Vorbereitung fand ich ein Gedicht wieder. Das mich wieder berührt hat.

Auf einer Insel
Rose Ausländer (1901–1988)

Mit Purpurflügeln
streift der Sommer
mein Herz

Ich liege auf einer Insel
die keinen Namen hat
in einem namenlosen Meer

Fische besuchen mich
und sprechen Gedichte
Ich bemühe mich
sie zu erlernen

Ein Delfin bringt mir
Grüße von Freunden
Sie laden mich ein
allein ich
kann nicht schwimmen

(Quelle: Das Geschlecht der Engel, Piper1992)


8. Februar 2016

100 Jahre Dada

Dada selber machen

Am 5. 2. 1916 wurde Dada gegründet und rasch zur europaweiten Bewegung gegen Denkschranken und für die Befreiung der Künste von Vorschriften und Grenzsetzungen. Neben der explizit antibürgerlichen und Antikriegs-Haltung ging es der Bewegung auch um die Rückbesinnung auf die Grundelemente der Sprache: Buchstaben, Laute, Zeichen­zusammen­fügungen. Einer der Gründer und Protagonisten war der Deutsche Hugo Ball (er stammte aus Pirmasens). Sein Gedicht Karawane von 1917 hat Weltruhm erlangt und kann zu eigenen Sprach-Experimenten anregen. Man könnte selbst Wörter einer Kunstsprache erfinden, man könnte auch – was Richard Huelsenbeck in seiner Gestaltung von Balls Gedicht ja tut – Schlagzeilen zu einem Gedicht collagieren.

aus: Raoul Hausmann: Am Anfang war DADA, Anabas Verlag, Gießen 1992 (1980)


1. Februar 2016

Auf dem Weg zum Projekt

SWOT-Analyse nach Gerd Bräuer

Schreiben, um sich zu entlasten, schreiben, um etwas zu verarbeiten, zu bewahren, um zu denken, um zu kommunizieren. Schreiben hat viele Funktionen. Eine ist die der Selbst­reflexion. Reflexive Praxis ist eine im Prinzip für alle Berufsfelder nützliche Tätigkeit – auch wenn man sonst nicht so gern zu Stift greift.
Vor ein paar Jahren lernte ich in einer Weiterbildung von Gerd Bräuer (Schreib­zentrum PH Freiburg) in ,geballter’ Form etwas über das Schreiben als reflexive Praxis – und wende die Methoden seither sehr eifrig an.

Eine Methode möchte ich hier vorstellen, die ganz einfach daher­kommt und nach meiner Erfahrung extrem wirkungsvoll ist: die SWOT-Analyse. Sie haben ein Projekt, das Sie realisieren möchten, ob es sich im ein Schreibprojekt handelt oder eines, das mit Text gar nichts zu tun hat. An dieses Projekt stellen Sie vier Fragen, entsprechend der SWOT-Analyse, deren Akronym für Strength, Weak­nesses, Opportunities und Threats steht:
S – Strength: Welche sind die Stärken des Projekts?
W – Weaknesses: Welche Schwächen und Grenzen hat mein Projekt?
O - Opportunities: Welche hilfreichen äußeren Umstände gibt es?
T - Threats: Welche gefährdenden äußeren Umstände vermute ich?

Sie machen einfach vier Listen. Und vielleicht bitten Sie auch andere Menschen, Ihr Projekt mit Hilfe der SWOT-Analyse zu betrachten.


25. Januar 2016

2. Kasseler Poets’ Day

Achtstündiger Lesemarathon im autorencafé

AutorInnen aus der Region Kassel treffen sich am 31. Januar zum 2. Kasseler Poets’ Day im autorencafé der Werkstatt Kassel. Während des achtstündigen Lesemarathons hat jede/r Lesende 15 Minuten zum Vortrag eigener Texte – veröffentlicht oder aus der Schublade. Kommen und Gehen ist Lesenden und interessierten Zuhörenden zwischen 12 und 20 Uhr jederzeit möglich.
Der ausrichtende Verein Nordhessischer Autorenpreis e.V. fördert mit dem Lesemarathon die literarischen Kapazitäten der Region, die Menschen hinter den Texten werden lebendig, die AutorInnen können untereinander und mit ihrem Publikum in Kontakt kommen.
Es lesen: Ria Ahrend, Ina Berninger, Manfred G. Burgheim, Petra Dippel, Marie-Luise Erner, Elisabeth Gessner, Roland Goldack, Jürgen Helm, Hans Horn, Andreas Knierim, Michael Knoth, Horst Paul Kuhley, Waltraut Martens, Jürgen Pasche, Brigitte Petri, Daniela Rieß, Isa Rühling, Rainald Siemon, Edith Speck, Helmut Wetzel, Anette Wicke, Ulrich Wicke, Erika Wiemer.
Für Fingerfood und Getränke sorgt der Vorstand des Autorenpreises (Carmen Weidemann, Jana Ißleib, Kirsten Alers). Der Eintritt ist frei.

31. Januar 2016, 12 bis 20 Uhr
autorencafé Werkstatt Kassel, Friedrich-Ebert-Straße 175


18. Januar 2016

Schreiben als reflexive Praxis

Listen zum Schreiben

Schreiben hat viele Funktionen. Eine Funktion ist die reflektierende, die klärende. Schreiben kann – auch wenn ich keine begeisterte Fabuliererin oder Essayistin bin, auch für mich nützlich sein, unabhängig davon, in welchem Bereich ich es als Reflexionsinstrument einsetze.

Machen Sie Listen:

  1. Was ich schreibe
  2. Was ich nicht schreibe
  3. Was ich gerne, mit Vergnügen, lustvoll schreibe.

Nach dem Listen-Schreiben könnte eine weiterführende Frage lauten: Was kann ich aus den Erfahrungen aus Liste 3 zum Beispiel in die Schreibstunden mit hineinnehmen, in denen ich mich quäle?


11. Januar 2016

Selbst-Wertschätzung

Noch ein guter Vorsatz

Noch ist das Jahr jung, jung genug für noch einen guten Vorsatz. Schreiben Sie sich in eine selbst-wertschätzende Grundhaltung, mit der Sie dann auf den Weg machen durch das Jahr 2016. Vielleicht hilft der folgende Satz als Impuls: „Niemand kann dir, ohne deine Zustimmung, das Gefühl geben, minderwertig zu sein.“ (Eleanor Roosevelt)


4. Januar 2016

Das Schreibjahr beginnt

Gute Vorsätze gehören dazu ...

„Schreiben ist wichtiger als Surfen im Internet, E-Mailen, Twittern, Facebook. Kappe die Verbindungen!“ (Yiyun Li)


28. Dezember 2015

Das Schreibjahr endet

Auf ein neues!

„Das Schreiben befriedigt im Ich schreibe, nicht im Ich habe geschrieben.“
Frank Cioffi spricht mir aus dem Schreibherzen.


21. Dezember 2015

Das Jahr war gelb

Und das nächste wird orange?

Schreib einen autobiografischen Text oder eine fiktive Geschichte: „Ein (z. B.) blaues (oder gelbes) Jahr geht zuende ...“ Wenn möglich, nenn die Farbe nicht (ständig), sondern versuch, eine blaue oder gelbe Stimmung zu erzeugen. Und vielleicht wagst du auch einen Ausblick auf die Farbe des nächsten Jahres ...
Variante: Schreib einen Text, der ausschließlich aus einsilbigen Wörtern besteht: „Das Jahr war gelb ...“


14. Dezember 2015

Jungs schreiben ...

... keine Gedichte, außer ...

Es heißt Der beste Hund der Welt, es ist vergriffen, es ist eine Art Goldschatz. Sharon Creech beginnt die Geschichte mit folgenden Wörtern auf der ersten Seite:
„JACK
Raum 105 – Miss Stretchberry
13. September
Ich will nicht.
Jungs schreiben
keine Gedichte.
Mädchen schon.“

Das Buch, das ich Lehrpersonen und Erziehungsberechtigten wärmstens ans Herz legen möchte, handelt von einem kleinen Jungen, der in der Schule – angeregt durch das Gedicht Die rote Schubkarre von William Carlos Williams – ein eigenes Gedicht schreiben soll. Handelt vom leeren Kopf und wie ein Hund dort hineingerät und einer Begegnung mit einem Dichtrer und einem Liebesgedicht an Sky, am Ende.


7. Dezember 2015

Pablo Neruda

Das Buch der Fragen

Der berühmteste chilenische Dichter des 20. Jahrhunderts, Pablo Neruda (1904–1973), hat sich auch damit befasst, wie Menschen, insbesondere kleine Menschen, in ihrem kreativ-fantastischen Potenzial gestärkt werden können. In seinem Buch der Fragen verweigert er sich der rationalen Sicht auf die Welt, integriert das Wundern der Kinder und die Erfahrung des Erwachsenen und führt die Lesenden in ein Jenseits von Begründungen und ermöglicht so plötzliche Intuition und lustvolle Imagination. Mit seinen Fragen hat er mit Kindern im Grundschulalter kreative Schreibstunden verbracht – Sie können das ebenfalls, indem Sie einfach intuitiv und lustvoll auf die folgenden (von mir aus ca. 300 ausgewählten und übersetzten) Fragen antworten:

  • Warten noch nicht vergossene Tränen in kleinen Seen?
  • Wenn die gelbe Farbe ausgeht, mit was werden wir unser Brot backen?
  • Wettet der Leopard auf den Krieg?
  • Wie viele Bienen gibt es an einem Tag?
  • Warum attackiert der Hai nicht die bronzenen Sirenen?
  • Warum schreien Wolken so viel, wenn die glücklicher und glücklicher wachsen?
  • Welcher gelbe Vogel füllt sein Nest mit Zitronen?
  • Warum lehrt man nicht die Hubschrauber, Honig aus Sonnenlicht zu gewinnen?
  • Wo lässt der Vollmond heute Nacht seinen Mehlsack?
  • Wo sind all die kuchensüßen Namen des vergangenen Jahres?

Wie man mit dem Buch der Fragen mit Kindern arbeiten und wie man Fragen und Antworten grafisch gestalten kann, hat Eva Maria Kohl in ihrem Buch zum freien und kreativen Schreiben mit Kinder SCHREIBSPIELRÄUME dokumentiert.


30. November 2015

Ulla Hahn

Zehn Gebote des Schreibens

  1. Fang an! Nur Mut!
  2. Mach weiter! Keine Angst!
  3. Bleib dran! (Ablenkung verboten) Konzentration!
  4. Wenn’s nicht recht weiter geht, tu so als ob.
  5. Weg mit der Schere im Kopf. Nur Mut!
  6. Schäm dich für nichts – auf dem Papier. Keine Angst!
  7. Jeden Einfall ernst nehmen, sofort notieren, egal wo und wann (Papier und Stift immer griffbereit) – Fleiß!
  8. Auch vorm Papierkorb (dinglich oder virtuell): Keine Angst! Kunst des Schreibens ist Kunst des Streichens.
  9. Und immer wieder: Lesen, lesen, lesen. (Am besten in einer anderen Sprache.)
  10. Was du schon weißt, davon musst du nicht schreiben. – Neugier!
  11. (Optional): Um Regen beten für die Saat. Demut!

Oder kurz und knapp: In der Oper Die Meistersinger von Nürnberg fragt Stolzing, der gerne Dichter werden möchte, den erfahrenen Hans Sachs: „Wie fang’ ich nach der Regel an?“ Hans Sachs: „Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann.“
Sich immer wieder selbst neue Regeln zu stellen (und zu brechen), sich immer wieder selbst zu überraschen: Das ist das erste und einzige Gebot.
(aus: Zehn Gebote des Schreibens, DVA, München 2011)

Das hier ist ein Buchtipp und eine Schreibanregung. Im auszugsweise zitierten Buch verraten 42 AutorInnen von Margaret Atwood bis Juli Zeh ihre zehn Gebote des Schreibens. Sehr anregend, sehr nach-denkenswert. Und wie lauten Ihre Gebote des Schreibens?


23. November 2015

Hanns-Josef Ortheil

zu Textfeedback in Schreibgruppen

Feedback in einer Schreibgruppe kann so verstanden werden, wie es der Leiter des Studiengangs Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim, an dem u. a. zukünftige Schriftstelle­rInnen ausgebildet werden, Hanns-Josef Ortheil, sagt, nämlich als: „[...] ein Inszenierungsmodell, bei dem der Lehrer zur immanenten Textreflexion anleitet, dem Schüler aber überlässt, für welche Varianten der aus dieser Reflexion hergeleiteten poetologischen Wege er sich entscheidet“ (Ortheil in: Haslinger, Josef, Treichel, Hans-Ulrich (Hg.): Schreiben lernen – Schreiben lehren, Frankfurt/Main 2006, S. 28).


9. November 2015

Selfie ohne Kamera

Du heute, an einem Ort, mit ...

Bleib stehen oder sitzen, an einem Platz, der dich anspricht, mit dem du eine Verbindung spürst, an dem du dich einen Augenblick aufhältst, um ein Selfie zu machen (das ist der Begriff für ein Foto, das du mit einer Kamera von dir selbst machst, manchmal mit einer weiteren Person, einer privat bekannten oder einer öffentlichen). Hier geht es um ein Text-Selfie. Du kannst dich an folgenden Fragen beim Schreiben orientieren:
Wo bin ich, welcher Tag ist heute und wie spät ist es?
Was sieht man auf dem ,Foto’, was sieht man von mir, wie sehe ich aus, wie schaue ich?
Wie fühle ich mich? Sieht man das auf dem Foto?
Was ist noch zu sehen, neben mir, über mir, im Hintergrund?
Warum mache ich genau dieses Selfie und gerade an diesem Ort?


2. November 2015

Zettelwirtschaft

Fragment-Archiv mit Wörterbuch

Nehmen Sie eins der folgenden Wörter, die unter dem Buchstaben A im ersten deutschen Wörterbuch stehen, an dem die Brüder Grimm jahrzehntelang arbeiteten – um dann doch nur bis Froteufel zu kommen. Nehmen Sie den Begriff und schreiben Sie einen Zetteltext auf ein postkartengroßes Blatt, dann nehmen Sie den nächsten, dann wieder den nächsten. Beschreiben Sie die Zettel jeweils nur auf einer Seite.
Hier die Begriffe: abäugeln, abbamsen, abbacken, abbaden, abbalgen.
Genauso gut wie mit den alten Begriffen können Sie mit sprachlich aktuellen arbeiten, indem Sie einfach mit dem Finger in einen Duden stechen und ein Zettelfragment zum getroffenen Wort schreiben, dann das nächste, dann wieder das nächste. Sie können sich auf diese Weise auch ein Fragment-Archiv anlegen, um später vielleicht etwas daraus in einem längeren Text zu verarbeiten.


26. Oktober 2015

Was Literatur ...

... kann und soll

Meinen Blog-Eintrag vom 13.10. 2015 zur Verantwortung von Literatur möchte ich ergänzen. Harald Martenstein schreibt im ZeitMagazin vom 15. 10. 2015 Über engagierte Literatur: „Ich könnte eine engagierte Geschichte über ein Flüchtlingsmädchen schreiben, das gibt es ja tausendfach und ist auch gut geschrieben. Nicht dass ich so was nie gelesen hätte. Das lesen die ohne Überzeugten, das ist wie politisches Kabarett anno 1970, nur in rührend. Die NPD-Ortsgruppe wird, wie so oft, auch dieser Lesung fernbleiben. Was Literatur im besten Fall erreichen kann, wenn sie den unbedingt etwas erreichen soll: Sie kann das Denkvermögen stärken. Und je länger du nachdenkst, desto weniger Gewissheiten hast du, desto misstrauischer wirst du in Bezug auf dich selbst. Und eine Welt, in der alle an ihren Gewissheiten zweifeln, wäre tatsächlich eine bessere Welt.“ Wenn denn diese Zweifel sich auch in Veränderung von Handeln neiderschlagen.


19. Oktober 2015

Noch Plätze frei

Regionaltagung zum Kreativen Schreiben

Zusammen mit Prof. Dr. Norbert Kruse und Klaus-Peter Lorenz lade ich ein zur Regionaltagung Nordhessen/Südniedersachen: Lehrende und Veranstalter aus den Universitäten, der Erwachsenenbildung und freie Anbieter in den Domänen des Kreativen Schreibens. Sie findet am 17. November 2015 von 12 bis 18 Uhr in Kaufungen statt.

  • Schreibaufgaben und das Kreative Schreiben
    (Impulsvortrag von Prof. Dr. Norbert Kruse, Deutschdidaktiker an der Universität Kassel)
  • Textsteigerung durch Textberührungen – Feedback in der Schreibgruppenarbeit
    (Impulsvortrag von Kirsten Alers, Schreibpädagogin)
  • Themen für die Kleingruppenarbeit im World Café:
    regionale Kooperationen; Schreib­strategien und Schreibstörungen; Herausforderungen durch ,schwierige‘ Teilnehmende; Korres­pon­den­zen zwischen Gegenwartsliteratur, Lesen und Schreiben.
  • 19 Uhr Lesung und Werkstattgespräch mit Regina Scheer: Machandel
Anmeldungerbeten bis zum 29. Oktober 2015 unter
www.vhs-region-kassel.de / Tel. (05 61) 1003 1681 / Kursnummer P 2116
Kosten27 Euro (Nachlass aus sozialem Grund wird gewährt)
Verantwortlich   Dr. Klaus-Peter Lorenz, Tel. (05 61) 10 03-16 96

13. Oktober 2015

Verantwortlich?

Literatur in Krisenzeiten

Viele meiner Bekannten engagieren sich mehr oder zum ersten Mal in ihrem Leben für ihnen nicht bekannte Menschen, im Haus meiner Schwester und meines Schwagers lebt seit einigen Wochen ein junger Mann aus Syrien, eine Freundin mit Job und vier Kindern schläft schlecht, weil sie so ein schlechtes Gewissen hat, dass sie niemanden aufnimmt ... So viele Menschen sind gekommen, die Hilfe brauchen, die ja nicht aus Lust und Laune weggehen aus Syrien, aus Afghanistan, aus Eritrea, aus dem Sudan ... Die aktuelle gesellschaftliche Situation, die täglichen Gespräche, Gedanken, Handlungen, Nachrichten sind geprägt vom Weggehen und Nicht-Ankommen, vom Zurücklassen und von Perspektivlosigkeiten – und so viele drehen sich nicht weg, um ihr bequemes Leben weiterzuleben (was ja tatsächlich immer noch locker geht).
Wirkt sich diese Gesamtsituation auch auf das Schreiben, auf die Literatur, den Literaturbetrieb aus?
Dass sich Politisches oder Öffentliches sowie Privates oder Nicht-Öffentliches dialektisch durchdringen, dass das Private politisch ist und das Politische das Private prägt – eine spätestens seit der Nach-68er-Frauenbewegung nicht mehr zu leugnende Wahrheit. Wenn dann der Literaturnobelpreis an eine Journalistin geht (die Weißrussin, Weltenbürgerin und literarische Chronistin Swetlana Alexijewitsch) und diverse politisch engagierte Bücher auf die Longlist zum Deutschen Buchpreis geraten, dann kann man vermuten, wie es DIE ZEIT tut (Beilage zur Frankfurter Buchmesse No. 41, Oktober 2015), dass die aktuelle gesellschaftliche Situation Literatur Produzierende und Literatur Kritisierende und schließlich in Folge Lesende stark beeinflusst. Sogar dahingehend, dass von Literatur plötzlich Engagement, Positionierung, Aufklärung, Utopien verlangt werden. Von den Produzierenden, von den Kritisierenden, von den Lesenden.
In der oben erwähnten Beilage kann man u. a. ein spannendes Gespräch lesen zwischen dem Moderator Ijoma Mangold sowie drei AutorInnen von Werken von eben jener Longlist: Jenny Erpenbeck (gehen, ging, gegangen), Ulrich Peltzer (Das bessere Leben) und Ilija Trojanow (Macht und Widerstand). Ich möchte von allen dreien Passagen zitieren, die mich besonders berührt haben und die zeigen, was Schreiben in Zeiten sein kann, die eine Gesellschaft massiv herausfordern:
Jenny Erpenbeck: „Für mich ist es nicht so, dass ich sage: ,Ich möchte ein politisches Buch schreiben’ oder ,Ich möchte ein historisches Buch schreiben’. Ich habe eigentlich immer beim Mikrokosmos angefangen und bin beim Makrokosmos angekommen, ohne dass ich mich dafür entschieden hätte. Ich finde, es ist vollkommen müßig, was von außen von Schriftstellern ,verlangt’ wird! Das ist eine Sekundärdiskussion. Man schreibt über die Dinge, die einen beschäftigen, die einem widerfahren. Manche Autoren neigen mehr dazu, im Privaten das Politische zu sehen, andere sind politischen Bewegungen mehr ausgesetzt, wieder andere ziehen sich ganz ins Private zurück.“
Ilija Trojanow: „Mal angenommen, die Leser gehen aus dem Roman heraus mit der Vorstellung, alle Grenzen zu öffnen, dann ist ja nichts Schlechtes daran. Denn das ist ja eine der Urfunktionen von Literatur, Gegenentwürfe zu präsentieren. Eine Realität zu imaginieren, die sich unterscheidet von der vermeintlichen Evidenz der herrschenden Verhältnisse. Die Frage ist nur, ob die Erzähltechniken, die reflexiven Ebenen und die zwingend erzählten Biografien die Leser überzeugen von diesem Entwurf. [...] Das sind große Fragen, die wir stellen müssen in Zeiten, in denen die Selbstoptimierung geradezu die einzige Fasson der Weltrettung geworden ist.“
Ulrich Peltzer: „Genau, geht es nur um Selbstoptimierung, haben wir den Mut verloren, für andere zu sprechen? [...] Das Direktorium der Welt, das sich in Hinterzimmern trifft, das gibt es nicht. Aber es gibt Profiteure, und es gibt Leute, die Verantwortung tragen, und es gibt Leute, die gut leben, und solche, die weniger gut leben. Und es gibt Gründe dafür.“


7. Oktober 2015

Woraus Geschichten gemacht werden

Die Masterplots nach Ronald B. Tobias

Vielleicht ist es zunächst irritierend, aber bei der Such nach weiteren bin zumindest ich nicht fündig geworden. Ronald B. Tobias hat in der Weltliteratur nur 20 Plots gesichtet, d. h. dass seiner Meinung nach jede Erzählung, jede Kurzgeschichte, jeder Roman, also jeglicher Prosatext einem der folgenden 20 Plots folgt.
Suche (quest); Abenteuer (adventure); Reif werden (maturation); Innere Wandlung (transformation); Äußere Wandlung (metamorphosis); Aufstieg (ascension) und Abstieg (descension); Das Extreme und Exzessive (wretched excess); Liebe (love); Verbotene Liebe (forbidden love); Rivalität (rivalry); Der Unterlegene (underdog); Versuchung (temptation); Opfer (sacrifice); Rache (revenge); Verfolgung (pursuit); Flucht (escape); Rettung (rescue); Rätsel (the riddle); Entdeckung (discovery) (vgl. Fritz Gesing: Kreativ schreiben, S. 103 ff.).
Nun kann man also andersherum vorgehen und sich einen Plot aussuchen und eine Erzählung damit schreiben. Es empfiehlt sich, vorher vielleicht noch eine Prämisse aufzustellen. Ein Prämissen-Beispiel für den Plot „Suche“: Jede Suche endet damit, dass man am Ende aufhört zu suchen, ob man etwas gefunden hat oder nicht.


28. September 2015

Kreativität als Zwang

Kreativität braucht ein Feld

Wer hat ihn nicht, den Anspruch an sich selbst, kreativ zu sein? Und wer hat neben aller Lust am kreativen Sein nicht auch schon einmal das Gefühl gehabt, sich vom Zwang überfordert zu sehen: Ich muss kreativ sein, sonst bin ich nicht tauglich, nicht im Beruf, nicht als Elternteil, nicht in der Freizeit. Und wenn ich es nicht bin – Andere sind ja permanent kreativ, Hilfe!
Da ist es sehrt hilfreich zu erfahren, dass Kreativität nicht eine individuelle Leistung oder Nicht-kreativ-Sein kein individuelles Versagen ist. „Kreativität ist weniger in der isolierten Leistung eines herausragendes Individuums zu verorten, sie entsteht vielmehr in Feldern, die in sehr spezifischer Weise aufgebaut sind“, sagt Olaf-Axel Burow, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Uni Kassel, auf Seite 18 in seinem Buch Team-Flow: Gemeinsam wachsen im Kreativen Feld (Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2015). Empfehlenswert. Weil es entlastet. Weil es Kreativität anders denkt. Und weil es aufzeigt, wie diese Felder aussehen.


21. September 2015

Schreibstrategien

Wie schreibe ich?

Einfach losschreiben oder erst einen Plan machen – das eine ist nicht besser, klüger, zielführender als das andere. Es ist erstens eine Schreibertypfrage, welche Strategie ich wähle, zweitens eine Frage der Schreibaufgabe, die vielleicht eher zu der einen als zu der anderen Strategie auffordert, und drittens eine Sache der Wirksamkeitserfahrung.
Verschiedene Schreibforscher haben unterschiedliche Kategorien zur Erfassung von Schreibertypen bzw. Schreibstrategien aufgestellt. Sylvie Molitor-Lübbert differenzierte 1985 zwischen drei Herangehensweisen: Top-down-Schreiber, Bottom-up-Schreiber und Misch-Typ. Top-down-Schreibende entwickeln zunächst eine Gliederung und produzieren anhand dieser ihren Text, bei Bottom-up-Schreibenden entsteht die Textstruktur erst während des Schreibens.
Der Linguist Hanspeter Ortner entwickelte im Jahr 2000 aus 6.000 Aussagen von versierten Schreibenden über ihr Vorgehen beim Schreiben längerer Texte ein sehr differenziertes Schreibstrategienmodell, das er ausführt in Schreiben und Denken (Tübingen 2000). Strategie ist für Ortner ein vom Individuum erworbenes „Ablauf- und Organisationsschema“, Schreibstrategien sind „erprobte und bewährte Verfahren der Bewältigung spezifischer Schreibanlässe und potentieller Schreibschwierigkeiten in spezifischen Schreibsituationen“ (S. 351). Er geht davon aus, dass Strategien von den Schreibenden gewählt werden. Die Wahl der Strategie ist abhängig von der Schreibaufgabe, aber auch davon, welche Strategie der Schreiber bisher als erfolgreich erlebt hat. Ortner unterscheidet zehn Schreibstrategien, die Schreibende als Schemata anwenden, um Aufgaben zu bewältigen; sie sind anlassbezogen, erfolgsabhängig und ersetzbar; außerdem werden sie auch kombiniert angewendet:

  1. Nicht-zerlegendes Schreiben: Geschrieben wird vom Typ des Aus-dem-Bauch-heraus-, des Flow-Schreibenden in einem Zug, im Stil des écriture automatique (d. i. der ,reine’ Bottom-up-Typ).
  2. Einen Text zu einer Idee schreiben: Diese Strategie wird vom Typ des Einzigtext-, des Einen-Text-zu-einer-Idee-Schreibenden engewendet.
  3. Schreiben von Textversionen zu einer Idee: Der Typ des Mehrversionenschreibenden, des Versionenneuschreibenden schreibt mehrere Texte zu einer Idee, fügt am Ende Fragmente aus mehreren Versionen zusammen oder wirft alle bis auf eine weg.
  4. Herstellen von Texten über die redaktionelle Arbeit an Vorfassungen: Der Typ des Text-aus-den-Korrekturen-Entwickelnden unterzieht seinen Text mehreren Revisionsschritten, evtl. auch mit Feedback von außen.
  5. Planendes Schreiben: Der Typ des Planers macht vor dem Schreiben einen Plan oder eine Gliederung (Makrostruktur), die er dann schrittweise ausformuliert (d. i. der ,reine’ To-down-Typ).
  6. Einfälle außerhalb eines Textes weiterentwickeln: Beim Typ des Niederschreibenden könnte man sagen, dass er etwas erst nicht-schreibend gären lässt, er arbeitet konzeptuell extralingual und schreibt erst dann den Text nieder.
  7. Schrittweises Vorgehen, der Produktionslogik folgend: Der Typ des Schritt-für-Schritt-Schreibenden sammelt Material, konzipiert, gliedert, formuliert und revidiert Schritt für Schritt und Abschnitt für Abschnitt; diese Strategie wird häufig beim Schreiben wissenschaftlicher Texte angewendet.
  8. Synkretistisch-schrittweises Schreiben: Der Typ des Synkretisten vermischt und/oder verschmilzt einzelne unabhängig voneinander entstehende Textteile, er arbeitet mit zu etwas Neuem verschmelzenden Fragmenten.
  9. Moderat produktzerlegend: Der Typ des Textteilschreibers schreibt Teile des Endprodukts in beliebiger Reihenfolge, vielleicht sogar erst den Schluss.
  10. Schreiben nach dem Puzzle-Prinzip – extrem produktzerlegend: Der Typ des Produktzusammensetzenden arbeitet mit zunächst undefinierten Einzeltexten, die nach und nach zusammengebaut und dabei angepasst werden; diese Strategie wird häufig bei Texten verwendet, die komplexe Denkleistungen verlangen, bei denen am Anfang nicht klar ist, was am Ende herauskommen wird/soll.

13. September 2015

2. Kasseler Schreibcafé

Freude am Schreiben

Biografisches und kreatives Schreiben ... Wie geht das? Anhand unterschiedlicher Schreibübungen geht es unter Leitung von meiner Kasseler Kollegin Patricia Sheldon auf Spurensuche. Werden Sie zum Schatzsucher oder zur Schatzsucherin und kommen Sie ins Schreibcafé des Netzwerks Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen! Einen Abend können Sie hineinschnuppern in das, was kreatives und biografisches Schreiben sein kann. Es erwarten Sie kleine Schreibexperimente, der eigene Faden, der schreibend aufgegriffen sein will, und ein Kurzvortrag. Schreiberfahrung wird nicht vorausgesetzt! Im Zentrum des Schreibcafés steht das praktische Tun. Was Sie brauchen ist: Lust am Schreiben und die Bereitschaft in der Gruppe zu schreiben. Das Vorlesen der Texte ist freiwillig. Bitte, bringen Sie Papier und Stifte mit.

  • Termin: Donnerstag, 17. September 2015, 19 bis ca. 21.30 Uhr
    Ort: Café am Bebelplatz, Friedrich-Ebert-Straße, Kassel, Tram 4 + 8
    Eintritt: 5 Euro + 1 Getränk im Café

7. September 2015

Das Prinzip Hoffung

Eine Vision schreibend denken

Ernst Bloch soll hier nicht Impulsgeber sein, sondern der Künstler Joseph Beuys, der mehrfach Teilnehmer an der Documenta in Kassel war und hier mit Kunstwerken in Museen und mit dem öffentlichen Projekt Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung oder auch 7000 Eichen das Bild der Stadt nachhaltig verändert hat. Auch darin ist schon eine Vision zu sehen. Explizit hat er sich auch zur Zukunft geäußert, tatsächlich ähnlich wie Bloch oder Adorno. Folgender Satz von Beuys (dessen Quelle ich nicht ausfindig machen konnte) soll Anregung sein, inne zu halten und eine Vision schreibend zu denken: „Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“


19. August 2015

Noch ein Sommergedicht

Eindrückliche Verdichtung

Mein Vorstandskollege im Segeberger Kreis Karl Günter Rammoser hat 2014 während der schreibkreativen Jahrestagung des Vereins die Verantwortlichkeit und Hilflosigkeit angesichts der verunglückten Flüchtlinge auf dem Mittelmeer auf sehr eindrückliche Weise gefasst. 2015 hat es seine Aktualität nicht verloren.

lampedusa
lampe sie sa
lampe er sa
lampe es sa
lampe wir sa
lampe ihr sa
lampe sie sa
lampe ich sa
nicht hin


10. August 2015

Ein Sommergedicht

Mit allen Sinnen schreiben

Es ist August, die Sonne scheint, viele von uns genießen das Draußen-, das In-der-Natur-Sein, da kann man schon mal die Krisen und deren Wahrnehmung auf abends verschieben – und ein Gedicht schreiben (in das sich dann vielleicht doch eine Krise einschleicht). Ein Gedicht mit allen Sinnen zu schreiben, das geht natürlich auch einfach so, hier aber soll eine sehr strukturierte Anleitung gegeben werden, die zu erstaunlichen Ergebnissen führen kann. Ich habe sie im Schreibzentrum der Viadrina (Europa-Universität) in Frankfurt-Oder 2012 kennen gelernt:

Schreiben Sie ein Gedicht, indem Sie erst einmal folgende Fragen beantworten (das ist noch nicht das Gedicht):
Worüber schreibe ich? = Überschrift
Wie sieht es aus?
Wie schmeckt es?
Wie hört es sich an?
Wonach riecht es?
Wie fühlt es sich an?
Dann fügen Sie die Antworten zu einem Gedicht mit Überschrift und fünf Zeilen (es muss sich nicht reimen, darf aber).


3. August 2015

Jetzt subskribieren!

Anthologie Himmel.Hölle.Heimatkunde.

Himmel + Hölle + Heimatkunde – die wesentlichen Themen des Menschseins. Die Texte in der 5. Anthologie mit nordhessischer Gegenwartsliteratur erzählen von Höllen, von düsteren oder Pseudo-Himmeln, von einem Trotzdem, vom Ringen um einen (inneren) Ort, der, wenn nicht Heimat, so zumindest ,mein’ genannt werden kann. Die Geschichten, Gedichte und experimentellen Texte zeigen Verortungsversuche im Dazwischen, berichten von Götterspeise und Satansbraten, von den Anderen, die uns Hölle sind, von Nachbarn und weiteren Zumutungen, erzählen von Liebe und anderen Umständen, von Wanderungen durch Hessisch Sibirien und von Versuchen, Sprache zu finden oder irgend etwas. Die Anthologie enthält Prosa, Lyrik und Experimentelles – 47 ausgewählte Texte aus dem 5. Literaturwettbewerb zum Nordhessischen Autorenpreis (2014), an dem sich 234 Schreibende beteiligten. Außergewöhnlich ist die Mischung von Genres und Generationen, von professionell Schreibenden und Laien. Nordhessische Gegenwartsliteratur berührt, regt auf und an, reflektiert und antizipiert, lässt mitgehen und Nein sagen und Ja sagen. Wie Nordhessen intim, Salto mortale, klartext und Planet Kassel, die Bände zu den ersten vier Nordhessischen Autorenpreisen, ist auch Himmel.Hölle.Heimatkunde. eine Art modernes Heimatbuch ohne Heimattümelei.


27. Juli 2015

Ganz und gar Mensch sein

Susan Sontag über Bücher

Beim Aufräumen und Schreibtisch-Sortieren fand ich einen alten Zeitungsausriss vom 14. 12. 2014. Das Zitat in diesem (von der großartigen, leider bereits verstorbenen US-amerikanischen Essayistin Susan Sontag) stimmt vielleicht sowieso, passt aber besonders gut zum Sommer, wenn alle endlich dazu kommen, die Bücher zu lesen, die sich seit dem letzten Sommer gestapelt haben:
„Wenn Bücher verschwinden, wird die Geschichte verschwinden, und die Menschen werden ebenfalls verschwinden. Manche Leute halten Lesen bloß für eine Art Flucht: eine Flucht aus der ,wirklichen’ Welt des Alltags in eine imaginäre Welt, die Welt der Bücher. Bücher sind viel mehr. Sie sind eine Art und Weise, ganz und gar Mensch zu sein.“
Und das ist ja ein Ziel, das unser Streben immer begleitet: ganz und gar Mensch zu sein.


20. Juli 2015

Ein Favorit

Unter dem Tuch

Wenn TeilnehmerInnen aus meinen Kurse gefragt werden, wie eine Schreibwerkstatt so abläuft, dann sagen sehr sehr viele: „Also, am Anfang, da liegt ein buntes Tuch auf dem Tisch, und unter dem Tuch ist etwas versteckt, und kuru vor dem Schreiben hebt die Kirsten das Tuch hoch, und – oh! Überraschung! Und alle schreiben los, und allen fällt was Anderes ein, auch wenn ja der Gegenstand derselbe ist. Das mit dem Tuch ist immer wieder das Beste!“
Lassen Sie sich von jemandem etwas unter einem Tuch verstecken, setzen Sie sich voller Erwartung hin, lüften das Tuch – und schreiben Sie los.


13. Juli 2015

Die Krise schreiben

In sieben Sätzen zur Integration

Während der letzten Segeberger Jahrestagung (März 2015 in Fuldatal) schrieben die Teilnehmenden in sechs Gruppen zum Thema Krise. U. a. diente eine Kurve aus dem Kontext Veränderungsmanagement als Schreibanregung.

In meiner Arbeitsgruppe (Krisen kurz gefasst) entwickelten wir dazu folgende einfache Schreibaufgabe: Schreib zu einer beliebigen (persönlichen) Krise (Partner hat Affäre, Kündi­gung, Insol­venz, Kind bleibt sitzen ...) einen Text mit sieben Sätzen, die sich an die sieben Schritten des o. g. Krisenverlaufs orientieren, also jeweils einen Satz zu Schreck, Verneinung, Einsicht, Annahme, Ausprobieren, Lernen und Integration.

Ein Beispiel aus der Tagungsgruppe:
Affäre mit der Kollegin
Schreck: Sie ist es, sie ist also die Andere.
Verneinung: Sie ist es nicht, es ist meine Eifersucht.
Einsicht: Sie ist es, die er meint.
Annahme: Er ist es, und ich lebe vielleicht doch.
Ausprobieren: Ich bin es, die weint, tobt, geht, bleibt.
Lernen: Ich bin es, die in den Spiegel schaut.
Integration: Ich bin es, ich also bin es.

Der Sieben-Zeilen-Text ist vielleicht fertig, kann aber auch als Gerüst, als Plot dienen, um die Geschichte auszuweiten.


6. Juli 2015

Flow – ein Wort-Portrait ...

... und vielleicht eine Liebeserklärung

Vielleicht ist es auch eine Schreibanregung (aus einer solchen ist der folgende Text jedenfalls entstanden). Aber zunächst einmal ist es ein Text, den ich zeigen will und mit dem ich eines meiner Lehr- (und Seins-)Credos zeigen will: Neben PRÄSENZ und FORSCHEN ist FLOW das dritte Prinzip, dem mein Sein als Schreibpädagogin verpflichtet ist. So zeige ich also mein Portrait des FLOW (vom 4. März 2015):

Nein, stöhnen Sie nicht. Oder stöhnen Sie zuerst und dann hören Sie. Ja, es ist ein fremdsprachiges Wesen. Ein englisches, das in Übersee, in den USA, zu voller Blüte kam. Und zudem ist es ein universelles Wesen: FLOW. Wie so viele wesentliche Wesen kommt der Flow schlicht daher, macht kein großes Gewese, und trotzdem nimmt er sofort für sich ein. Als ich ihm das erste Mal begegnete, hatte ich noch nie von ihm gehört, ich kannte seinen Namen nicht, wusste nichts von Aussehen und Charakter – aber ich wurde sofort erfasst von ihm, der sich lautlos angeschlichen und mich in seinen Bann gezogen hatte. Er erfasst mich, zog mich mit sich und ließ mich in unbekannte Höhen fliegen, in noch unbekanntere Tiefen fallen, ich wurde geflutet.
Da ist es, zuerst das F. Fff – wie ein Windhauch sieht er vorn aus, der Flow, wie ein Windhauch hört er sich an, kommt er zuerst daher, manchmal auch als Böe, öfter als Mistral oder als Passat, selten als Tornado oder als Hurrikan. Schon mit dem Fff betört der Flow, reißt fort, wenn nicht ins Glück, so doch ins Selbstvergessene. Und wer will das nicht.
Nun, damit es nicht sofort so beängstigend ist, kommt nach dem F, nach dem Mitreißenden, ein sanftes Lll. Sanft wie la-le-lu, aber auch hier der Sog, den viele schon erlebt haben, als sie als Kinder endlose Reihen von lllllllll auf Schiefertafel oder ins Schulheft setzten. Eingelullt werden, dabei aber wach und klar bleiben, das ist der Yoga-Anteil des Flow.
Und dann folgt das O. Das ein OW ist, ein Laut, ein Wesensteil aus zwei Komponenten. Zuerst das O, der Urlaut des Erstaunens, wir öffnen den Mund, kreisförmig, alles strömt hinein, alles strömt hinaus, die Grenze zwischen Innen und Außen verschwimmt, wir hören auf zu suchen, öffnen uns dem Finden, die Angst vor dem Zufälligen, dem Kontrollverlust schwindet, wir überlassen uns dem O. Und werden getragen von der zweiten Komponente, dem W. Das W, eine Doppelschale oder zwei hängende Brüste – und kann nichts passieren.
Ja, der Flow ist ein universelles Wesen, dem zu begegnen das Leben verändert, ohne Möglichkeit, in den – ich wage zu sagen – tumben Zustand davor zurückzufallen. Und ein solches universelles Wesen braucht einen universellen Namen: englisch, kurz, einfach, unverwechselbar, sich selbst definierend durch Aussehen, Klang und Wirkweise: Flow.
Und weil der Flow ein universelles Wesen ist, ist er auch eine Art Chamäleon, das sich jeder Person so zeigt, wie diese Person es braucht. Jetzt stöhnen Sie nicht mehr, ich höre Sie atmen. Gut.


29. Juni 2015

Nicht festkleben

Mehrversionenschreiben

Nicht nur im Kontext wissenschaftliches Schreiben, aus dem diese Anregung stammt, ist es ratsam, in Betracht zu ziehen, dass die aktuelle Fassung eines Textes möglicherweise nicht die einzig denkbare, nicht die ausgereifteste, nicht die endgültige ist. Um das herauszufinden, kann man einmal mit einem nicht allzu langen Text (ca. ein bis zwei Normseiten) ein Experiment machen: das Mehrversionenschreiben nach Peter Elbow.
Nehmen Sie sich vier Stunden Zeit. Schreiben Sie in den ersten 45 Minuten eine erste Fassung, anschließend fassen Sie in 15 Minuten das Geschriebene zusammen und reflektieren: Was ist entstanden, was zeigt sich, was ist gut? In der nächsten Stunde entsteht eine zweite Version mit wiederum 15 Minuten schriftlicher Reflexion. Das Prozedere wiederholt sich dann noch zweimal. Sie werden erstaunt sein über Ihre Erkenntnisse, Ihr Schreiben, Ihre Texte ... (nach Peter Elbow: Writing without Teachers, 1973/1998, gefunden bei Katrin Girgensohn: Neue Wege zur Schlüsselqualifikation Schreiben. Autonome Schreibgruppen an der Hochschule, Wiesbaden 2007).


22. Juni 2015

Von Ich und Welt

Schreiben nah am Leben

Jugendliche und junge Erwachsene (ab 16 Jahre) lädt das Literaturbüro Kassel ein, in einem Schreibworkshop über sich und die Welt zu reflektieren und über die Zumutungen des Lebens autobiografisch und fiktiv zu schreiben. Sie können sich am Erzählen und am Dichten versuchen und sich inspirieren lassen von dem, was Leben und Erfahrung zu bieten haben. Im Austausch in einer Gruppe Gleichgesinnter lässt sich so ein Zugang zur eigenen Schreibstimme finden. Es wird geschrieben und vorgelesen, fantasiert und gelacht. Außerdem gebe ich Tipps zu Sprache und Stil.

  • Samstag, 11. Juli 2015, 10 bis 17 Uhr
    Literaturbüro im Kunsttempel Kassel
    Gebühr 10/5 Euro; Anmeldeschluss 1. Juli.

Der Schreibworkshop findet statt im Rahmen der Veranstaltungsreihe Kleine Schritte. Große Sprünge! Literatur als Experiment und Herausforderung des Literaturbüros Nordhessen von Mai bis Juli 2015. Mehr auf: Literaturbüro Nordhessen.


15. Juni 2015

Paul Maar

Brüder-Grimm-Professor 2015

Normalerweise weiß ich nicht, warum man irgendwelche Leute, deren Bücher man gut findet, unbedingt sehen, hören, anfassen muss; auch das Bitten um Autogramme finde ich irgendwie seltsam. Aber Paul Maar wollte ich hören. Ja, auch wegen des Sams. Aber vor allem, weil der Besuch der Veranstaltungen mit dem Brüder-Grimm-Professor (des Fachbereichs Germanistik an der Uni Kassel) mir ein lieb gewonnenes und bereicherndes Ritual im Frühsommer geworden ist.
So hörte ich also die poetologische Vorlesung Maar und die Märchen des 24. Brüder-Grimm-Professor. Und war ein bisschen enttäuscht. Poetologie bzw. Poetik als „Wissenschaft von Wesen, Gattungen und Formen der Dichtung“ (Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur) gab es leider nur in geringen Dosen. Las Maar doch von den 60 Minuten, die ihm rund 200 Menschen im Gießhaus lauschten, ca. 45 Minuten aus seinen Werken. Die ich zwar fast alle nicht kannte, aber dazu, sie kennen zu lernen, war ich ja nicht gekommen ...
Seit ich denken bzw. (mich) reflektieren kann, sauge ich das auf, was mich anspricht, was mich zittern, staunen macht. Da kann der Lehrer oder der Unterricht noch so mittelmäßig bis empörend sein – ich finde etwas, das mich weiter- oder anderswohin bringt, das mich beflügelt, begeistert. Und das schaffte auch Paul Maar, da, wo er seine Poetologie skizzierte, deren Wollen man auch als kreativen Umgang mit dem Genre Märchen und Märchenmotiven zusammenfassen könnte. Maar fügt z. B. oft in reale Umgebungen fantastische Wesen ein, die dann einem Menschen aus einer Notlage helfen (so hilft etwa das Sams Herrn Taschenbier, mutiger und selbstbewusster zu werden), er schreibt keine Fantasy-, sondern fantastische Geschichten, da er kein Paralleluniversum entwirft, sondern in der realen Welt bleibt. Maar erzählt auch gern bekannte Geschichten neu, z. B. adaptiert er in Der weiße Wolf das Dschungelbuch und die Ödipussage. Vor allem arbeitet er mit mehreren Blickwinkeln, Berichterstattern, also Wahrheiten, so hat er schon in seinem ersten Kinderbuch Der tätowierte Hund zwei Perspektiven gestaltet (jenseits dessen, dass die Geschichte Anspielungen auf Grimms Hänsel und Gretel enthält).
Ich werde also mal Der tätowierte Hund und Der weiße Wolf lesen. Und versuchen herauszufinden, warum mein Lieblingsmärchen Wilhelm Hauffs Das kalte Herz ist (Paul Maar erklärte, warum seines das vom Eisenhans ist). Umsonst im Gießhaus gewesen? Nein!


8. Juni 2015

Der Blick auf die Hauptfigur

Aus unterschiedlichen Perspektiven

Aus einem Schreibseminar bei Charles Lewinsky (über das ich von meiner langjährigen Schreibschülerin Christa Müller einen ausführlichen Bericht bekam) stammt folgende Schreibanregung: Sie haben eine vage Vorstellung von einer Hauptfigur – oder bereits eine umfassende Skizze angefertigt. In jedem Fall wird die Figur plastischer, zunächst einmal für Sie selbst, wenn Sie sie beschreiben aus der Sicht

  • des kauzigen Nachbarn
  • der Bäckerin; wo sie immer ihre Brötchen kauft
  • der Briefträgerin, die weiß, was sie so an Briefen bekommt
  • einer Austauschschülerin
  • einer früheren Lehrerin beim Ehemaligentreffen
  • eines Kindergartenkindes, Kind der Nachbarn
  • eines Polizisten auf der Wache, der Beschwerden annimmt
  • eines Anhänger einer Sekte, der an der Tür klingelt
  • etc.

Sie können die Beschreibungen neutral verfassen oder in der Ich-Form verfassen, z. B. als Monolog oder als Brief. Vielleicht lässt sich die eine oder andere Beschreibung dann sogar (in Auszügen) für ihre Geschichte verwenden. Auf jeden Fall wird Ihre Figur vielschichtiger, widersprüchlicher und Ihnen bekannter.


1. Juni 2015

OuLiPo II

Warum banale Wortspiele alles andere als banal sind

Während der Segeberger Jahrestagung in Fuldatal hat am 6. März Friedrich Block einen Vortrag gehalten: Kreative Sprachkrisen – Zur Praxis des poetischen Kalküls. Doller Titel. Klasse Vortrag. Spannende Debatte. Warum soll man sich mit dem computergenerierten ,Quatsch’ befassen, was ist der Sinn von mathematisch/mechanistisch anmutenden, banalen Sprachexperimenten? Was also kann uns das, was die Gruppe OuLiPo in den 1960ern angestoßen hat, für die Schreib- und Lehrpraxis bringen? (Das waren jedenfalls meine Fragen.)
Jemand aus dem Publikum (Norbert Kruse?) stellte die Frage, ob wir denn nicht alle fremdgesteuert oder manipuliert seien, ob es nicht illusionär sei anzunehmen, dass wir Sprache in befreiender Form verwenden könnten. Daran knüpfte die Frage an, wie wir uns also einer Sprache bemächtigen können, die das Individuelle zu zeigen vermag, Manipulationen enttarnt, Entfremdung aufhebt, Grenzüberschreitungen ermöglicht. Wie wir uns einer Sprache bemächtigen können, die ein gestaltetes und gestaltendes Sein in der Welt sowie eine offene Gesellschaft ermöglicht.
Am Ende des Vortrags schrieb ich folgende Begriffe auf: DIE ERSCHÜTTERUNG – DIE ERWEITERUNG – DIE ENTGRENZUNG. Ist es nicht genau das, was oulipistische Schreib-Experimente vermögen? Die Automatismen erschüttern, Möglichkeiten jenseits von Zuschreibungen, jenseits des Immer-Schon ausloten, (Sprach-)Muster infrage stellen, Räume erkunden und aufzeigen. Das oulipistische Schreib-Experiment als Selbst­(er)findungs­akt. So jedenfalls führe ich in meinen Schreibwerkstätten Übungen ein, in denen Tabus oder Contraintes eine Rolle spielen.
Meine diesbezüglichen Lieblingsübungen sind: 1. Nur einsilbige Wörter sind erlaubt. 2. Kein Satz darf mehr als vier Wörter haben. 3. Der Text muss ohne Verben (wahlweise Nomen) auskommen (s. auch Blog-Eintrag vom 6. 4. 2015: OuLiPo I; s. auch Blog-Einträge vom 7. 7. 2014: Schlangengedicht nach Meret Oppenheim, und vom 28. 7. 2014: Einsilbig schreiben, und vom 19. 5. 2015: Zwei-Sätze-Texte).
Empfohlen sei hier noch, erst einmal selbst das Schreiben mit Tabus oder Contraintes auszuprobieren, denn nur, wenn ich als Schreibpädagogin vom Effekt überzeugt bin, kann ich das oulipistische Schreiben so vermitteln, dass es nicht als Joch, als einengend und bar jeden Spaßfaktors empfunden wird.


26. Mai 2015

Der Schrankkoffer

Beginn einer autobiografischen Reise

Nuala O’Faolain, eine irische Journalistin und Schriftstellerin, berichtet in ihrem autobiografischen Roman Sein wie das Leben (Claassen 2004)über die Entstehung der Einleitung für einen Sammelband mit eigenen Kolumnen. Hier der so von ihr selbst beschriebene Start: „In einem der Zimmer im Obergeschoss des Hauses stand im obersten Regal ein Schrankkoffer, den ich bei jedem Umzug behalten hatte, obwohl der Schlüssel schon vor dreißig Jahren verschwunden war. Jetzt schubste ich ihn mit solchem Schwung vom Regal, dass er aufsprang, setzte mich, vom Duft verstaubter Papiere umgeben, auf den Boden und las die Briefe aus dem Koffer so begierig, als führten sie mich zu einem Schatz. [...]
Hätte es den Schrankkoffer nicht gegeben oder wären andere Dinge darin gewesen, dann wäre meine Geschichte vielleicht eine andere geworden. Autobiographien sind, denke ich, genauso einseitig und vorläufig wie alle anderen Erzählungen auch. Trotzdem bemühte ich mich, als ich das Projekt anging, von Herzen und nach Kräften um die Wahrheit. Warum denn auch nicht?“ (S. 27)
Man muss mit etwas beginnen. Es ist nicht wichtig, was es ist. Es wird eine Erzählung des eigenen Lebens. Und würde man mit etwas Anderem beginnen müsste man die Fäden anders, zu einem anderen Muster zusammenknüpfen – es gibt nicht die eine Geschichte, die wie das Leben ist, das gelebt wurde. Manchmal hält man diese Erkenntnis schlecht aus – denn wer ist man den dann? Und manchmal ist es wie ein Geschenk, die eigene Lebensgeschichte noch einmal neu, ganz anders, mit ganz anderem Vorzeichen, einer ganz anderen Färbung erzählen zu dürfen.


18. Mai 2015

Zwei-Sätze-Texte

Ein oulipistisches Experiment

Ich weiß nicht mehr, wann und mit wem ich diese Übung das erste Mal gemacht habe (es könnte meine Kollegin Carmen Weidemann gewesen sein) – aber seither könnte ich sie (fast) in jeder Schreibwerkstattstunde machen. Man nehme: zwei Sätze (aus eigenen Texten oder aus der Literatur). Man nehme: die Wörter dieser beiden Sätze. Und sonst kein weiteres Wort. Alle Wörter, die Sie zur Verfügung haben, dürfen Sie so oft verwenden, wie Sie wollen. Sie dürfen die Wörter auch beugen, aber: Es darf kein einziges neues Wort hinzukommen.
Manchmal entsteht etwas Lyrisches, manchmal etwas Surrealistisches, manchmal kreist man um ein zentrales Thema, das eins der zur Verfügung stehenden Wörter auslöst ... Lassen Sie sich fort-, um den Brei herum, mitten rein und wieder zurücktragen!


11. Mai 2015

Miniversität

Was Sie alles wissen!

Eine meiner Lieblingsübungen in großen Gruppen, die sich zwar schon kennen, aber länger nicht gesehen haben, ist die Übung Miniversität. Ich habe sie nicht selbst erdacht, weiß aber nicht mehr, von wem ich sie quasi geschenkt bekam. Sie geht so: Sie stellen sich vor, über welche Themen Sie aus dem Stegreif ein zehnminütiges Referat halten könnten. Sie machen eine Liste mit all diesen Themen, denen Sie auch schon Titel geben. Alle Themen sind erwünscht, Themen aus dem beruflichen, dem häuslichen und dem – ich nenne ihn mal – Hobby-Kontext. Es geht bei dieser Übung darum, mir bewusst zu machen, über welche Ressourcen ich verfüge. Ich könnte daran anknüpfen ... Zumindest aber bekomme ich ein gutes Gefühl. Und in der Gruppe beim Vorlesen erfahre ich Erstaunliches.

Als Beispiel: Meine Miniversität vom 11. 4. 2015
Sockenstricken mit drei Nadeln
Die angloamerikanische Short Story und die deutsche Kurzgeschichte
LRS – das Leben als Mutter
Mehrfachbeziehungen: Visionen und Realitäten
Die Kommune Niederkaufungen
Die Domänen des Kreativen Schreibens
Curry-Sahne-Soße ohne Sahne
Yoga und Schreiben, yogisches Schreiben
Lücken im Lebenslauf
Der Segeberger Kreis
Wie Konzepte beim An-die-Wand-Starren aufblitzen
Das Fagott
Eine Pressemitteilung schreiben
Die Segnungen der deutschen Grammatik
Freewriting vs. Automatisches Schreiben
Glücklich leben mit Brustkrebs


8. Mai 2015

Die Freiheit im Denken trainieren

Heimspiel für Jamal Tuschick

Am 18 Februar war’s – die Mittwochsabendsschreibwerkstattgruppe und ich ließen die Schreibwerkstatt ausfallen, um Jamal Tuschicks Heimspiel zu sehen, vor allem natürlich zu hören. In der Offenen Schule Waldau (OSW) war er zu Gast beim HR2-Gespräch Heimspiel (Moderator Martin Maria Schwarz). Tuschick (Jg. 1961) ist in Waldau aufgewachsen, er bezeichnet sich (erwartungsgemäß) nicht als Heimatdichter à la Hermann Löns, sondern als „Regionalist“, will aber die Kategorie der Heimatliteratur revitalisieren. Das tut er auf eine ganz spezielle Art. Bereits als jugendlicher Schüler der OSW hat er sich „auf unmittelbare Art den Dingen genähert“ und beschlossen, „die Dinge absichtlich schön zu finden“, um „Idyllenmalerei aus Mutwillen“ zu betreiben. Er sagt mit oder nach André Gide: „Wir sind da universal, wo wir persönlich sind.“ Und postuliert, Walter Benjamin folgend, dass die kritische Reflexion über Heimat zu einer Heimatliteratur gehört, die nicht nur den nostalgisch-rückwärtsgewandten Blick auf das Gute meint. Heimatliteratur sei historisch auch immer eine Antwort auf Großstadtliteratur gewesen, konstatiert Tuschick. Er, der heute in Berlin lebt (nach vielen Jahren in Frankfurt/Main), ist nicht im Provinziell-Verklärenden stecken geblieben, orientierte sich an James Joyce, Wilhelm Genazino und Peter Kurzeck und hat textlich einen ganz spezifischen Mix aus sprachgewaltigem Bewusstseinsstrom, historischen Tatsachen, persönlich Beobachtetem und reflektiert Erzählerischem zu bieten. Sein Schlusssatz: „Die Freiheit im Denken muss man eben auch trainieren.“


4. Mai 2015

(M)eine ideale Schreibgruppenleitung

Da ist etwas Größeres, was Bedeutung hat

Am Präsenzwochenende Schreibgruppenpädagogik und Schreibgruppendynamik (Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben an der Alice Salomon Hochschule Berlin), das ich jedes Jahr im April abhalte, geht es an einem Tag schwerpunktmäßig um Leitungsfragen. In Interviews loten die Studierenden aus, welche Art Schreibgruppenleitung sie sein wollen. Aus den zu den Interviews entstehenden Texten ragen immer wieder überaus bedeutsame Facetten heraus. In diesem April war ich erstaunt, erfasst, berührt, beglückt von dem, was Rebecca Grießler schrieb. Das Große, für das ich als Schreibgruppenleitung stehe, was mitschwingt, wenn ich lehre, das die Gruppe erfasst, wenn ich verstehe, es sichtbar zu machen ... Freundlicherweise hat Rebecca Grießler mir ihren Text zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Hier ist er:

„Die Frage nach dem Konzept hat sie sich vorher noch nie gestellt. Was nicht heißt, dass sie vorher keine Gruppen geleitet hat – im Gegenteil. Als junge Berufseinsteigerin war sie mit wöchentlich vier, fünf Gruppen von verhaltensauffälligen Jugendlichen konfrontiert, und Fragen hat sie sich dabei eine Menge gestellt – die wenigsten aber tatsächlich nach dem theoretischen Konzept. Auch die Rolle der jeweiligen Teilnehmer war eher im Hintergrund angesichts der eigentlichen zentralen Fragen, die sich ihr aufdrängten, die lauteten: Welche Methodiken der Musiktherapie kann ich bei derart gemischten Gruppen überhaupt verwenden? Wie schaffe ich es, alle Gruppenmitglieder zu integrieren und einen gemeinsamen musikalischen Nenner zu finden? Wie überlebe ich das Ganze?!
Derart konfrontiert mit der Realität blieb also die Frage des ,idealen’ Gruppenleiters erst mal peripher. Die stellt sie sich eigentlich erst heute. Und dabei bleibt das Schreib vor dem Gruppenleiter erst einmal unbeachtet, denn Gruppenleiter ist Gruppenleiter, egal ob Schreib, Musik oder sonstige kreative Ausdrucksgruppen. Das Wort ideal bleibt dabei ein wenig auf der Strecke. Ideal – das gibt es in der Theorie. Was die Praxis sie bisher gelehrt hat, ist einzig und allein die Unmöglichkeit, ein stetiges, nicht dynamisches Konzept eines idealen Gruppenleiters durchzuziehen.
Manche Gruppen brauchen starke Struktur. Manche Gruppen können und müssen sich erst mal selbst überlassen werden. Was von der Leitung zu erwarten ist, ist die Flexibilität, in jedem Moment genau das zu bieten, was gebraucht wird, und die einzelnen Teilnehmer im Blick zu haben mit ihren Bedürfnissen und dennoch das Ganze auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Die Gruppenleitung in ihrer Funktion als Therapeut, Pädagoge oder Manager braucht vor allem eins: Persönlichkeit als Bindeglied zwischen den verschiedenen Stunden, Methoden, Situationen. Ein guter Gruppenleiter sollte leben, was er lehrt. Eine gute Gruppe lebt von dessen Fähigkeit, sich selbst-bewusst darzustellen und hundert Prozent Präsenz zu zeigen. Präsenz kann dabei sowohl im Vordergrund als auch im Hintergrund wirken, muss aber vorhanden sein. Und dann gibt es noch einen letzten und wichtigsten Faktor: Ein Gruppenleiter kann eigentlich nur dann gut sein, wenn er weiß, dass er eigentlich auch nur ein Kanal ist.
Selber hat sie sich mehr als einmal als Vermittlerin gesehen von etwas, das um Unmengen größer ist, als das, was von begeisterten Teilnehmern fälschlicherweise ihr zugesprochen wurde. In wirklich guten Gruppenstunden spürt sie es. Und wenn sie es benennen müsste, dann würde sie vermutlich sagen, dass es das Leben ist, dass sich in diesem Moment zeigt. Aus einer idealen Stunde gehen die Teilnehmer hervor und haben das Leben in all seinen Facetten gespürt. Der Erfahrungswert des Erlebten steht dabei im Vordergrund. Spaß, Freude, Humor, aber auch Trauer und Wut waren evtl. vorhanden und können wertgeschätzt werden. Wenn Teilnehmer mit dieser Einsicht nach Hause gehen, dann hat sie ihren Job als Gruppenleiterin gut gemacht.“ (Rebecca Grießler, 11. 4. 2015)


27. April 2015

Die richtigen Wörter finden

Was Kreuzworträtsel mit dem Schreiben zu tun haben

Irgendwann entdeckte ich Erri de Luca. Der Himmel im Süden nahm mich mit, in den Süden, in ein meinem Wesen so fremdes Sein, bis ich weinte, und dann war das Büchlein schon ausgelesen ... Jetzt entdeckte ich wieder, in einer Bahnhofsbuchhandlung, ein Buch von de Luca: Fische schließen nie die Augen. Das Buch ist ebenso eine Entdeckung wie das erste, wenn es sich auch ein wenig mehr sperrt, mich nicht so hineinsaugt. Darin aber dieser Fund: „Heute denke ich, dass Rätselraten eine gute Schule für das Schreiben ist, es erzieht zum präzisen Umgang mit dem Wort, da jedes einzelne der geforderten Definition entsprechen muss. Es schließt verwandte Wörter aus, und wer Geschichten schreibt, bildet einen Großteil seines Vokabulars durch das Ausschließen von Wörtern. Das Rätselraten hat mir die spielerische Begabung geschenkt, die die Worte brauchen. Was ich damals für ein einsames Laster hielt, war in Wirklichkeit die Montagewerkstatt der Sprache“ (S. 25).


21. April 2015

1. Kasseler Schreibcafé

Vom Wort zum Satz: Kreative Schreibexperimente

Kreatives Schreiben? Sie wollten immer schon mal wissen, was sich hinter dem schillernden Begriff verbirgt? Und sie wollten immer schon mal ausprobieren, ob Sie Ihre Gedanken und Gefühle, all die Geschichten und Gedichte, die in Ihnen schlummern, auch zu Papier bringen können? Dann kommen Sie ins Schreibcafé. Einen Abend können Sie hineinschnuppern in das, was Kreatives Schreiben sein kann.
Es erwarten Sie kleine Schreibexperimente mit Wörtern, Ideen, wie Sätze aufs Papier kommen können und ein Kurzvortrag über Kreatives Schreiben. Im Zentrum des Schreibcafés steht das praktische Tun. Bitte, bringen Sie Papier und Stifte mit. Das Vorlesen der Texte ist freiwillig.

Veranstalter: Netzwerk Kreatives Schreiben Nordhessen/Südniedersachsen
Leitung: Kirsten Alers (Schreibpädagogin)
Termin: Donnerstag, 23. April 2015
Zeit: 19 bis ca. 21.30 Uhr
Ort: Café am Bebelplatz, Friedrich-Ebert-Straße, Kassel
Eintritt: 3 Euro + 1 Getränk im Café


18. April 2015

Günter Grass ist tot

Zwei Schreibanregungen

Günter Grass ist am 13. April 2015 gestorben. JedeR verbindet wohl etwas mit diesem Schriftsteller. Ich verbinde mit Günter Grass den Adamsapfel eines seiner Roman(anti)helden, der mich diese Schullektüre (Katz und Maus) hat verabscheuen lassen. Ich verbinde mit Günter Grass Die Blechtrommel, die ich in der Verfilmung von Volker Schlöndorff kurz nach meinem Abitur gesehen habe, jenseits der allerersten Szene am Kartoffelfeuer ist vor allem die Szene in mir unauslöschlich, in der Angela Winkler sich beim Anblick von Aalen, die aus einem verwesenden Pferdekopf kriechen, übergeben muss. Ich verbinde mit Günter Grass das Buch, in dem er kurze Prosastücke selbst illustriert hat (Mein Jahrhundert) und in dem ein seltsam flacher und gleichzeitig berührender Text über Wuppertal Platz hat. Ich verbinde mit Günter Grass, dass er nicht geantwortet hat, als ich ihn vor ein paar Jahren als Schirmherr für den Nordhessischen Autorenpreis gewinnen wollte. Ich verbinde mit Günter Grass den Mut, etwas Unpopuläres zu schreiben, öffentlich. – Bilder in mir, Erinnerungen, die zu Autobiografischem, zu Essayistischem ausgebaut werden könnten ... Was verbinden Sie mit Günter Grass? Schreiben Sie es auf.

Eine zweite Schreibanregung: Hier finden Sie fünf Anfänge von Texten von Günter Grass. Lassen Sie sich von diesen inspirieren zu Erzählungen oder autobiografischen Texten oder ...

  • Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt [...]
  • Nach den Worten unseres Gastgebers war ein Orkantief von Island in Richtung Schweden unterwegs.
  • Wie wir einander, Anna und ich [...]
  • Das Seminar schien befriedet, ich aber blieb in Unruhe.
  • Als wir, von Berlin kommend [...]


13. April 2015

Duda dududa

Eine Anregung aus der Konkreten Poesie

Nehmen Sie das Gedicht von Gerhard Rühm als Anregung für einen Text. Ob der Text ein Gedicht wird, eine Geschichte oder auch ein Experiment mit Buchstaben oder Lauten – Sie sind frei in der Form und selbstverständlich auch im Inhalt.

uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuduuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
uuuuuuuuuuuuuuuuu
(aus: Gerhard Rühm: gesammelte gedichte und visuelle texte, Reinbek bei Hamburg 1970)


6. April 2015

Warum Schreibexperimente? Teil 1

Was wir mit den Surrealisten OuLiPo & Co. anfangen können (sollten)

Schon als Kinder spielten wir es auf Kindergeburtstagen oder beim Zusammentreffen mit den Cousins und Cousinen bei den Großeltern, wir nannten es „Onkel Otto sitzt plätschernd in der Badewanne“; mit den drogenabhängigen Jugendlichen, die ich auf dem Weg zum Hauptschulabschluss begleitete, spielte ich es immer, wenn sie vorher aktiv gearbeitet hatten: das Reihumschreibspiel mit oder ohne Umknicken, lieber aber mit – dann gibt es mehr zu lachen.
André Breton, einer der bedeutendsten Vertreter des Surrealismus, beschriebe es als eine Arbeitsmethode, die das kreative Potenzial einer Gruppe wunderbar zur Entfaltung bringen kann: „Die köstliche Leiche wurde, wenn wir uns recht erinnern – und wenn wir so sagen dürfen –, um 1925 in dem alten, jetzt zerstörten Haus Nr. 54 der Rue du Chateau geboren. Der absolute Nonkonformismus und eine völlige Respektlosigkeit waren dort üblich, und es herrschte immer die glänzendste Stimmung. Das Leben war zum Vergnügen da und nichts sonst ... Wenn die Unterhaltung an Schärfe zu verlieren begann – es ging um Tagesereignisse, um Vorschläge, wie das Leben auf witzige und skandalöse Weise in Aufruhr zu bringen wäre –, war es üblich, zu Spielen überzugehen. Anfangs waren es Schreibspiele, so ausgedacht, dass die Elemente des Gesprächs sich in möglichst paradoxer Weise gegenübertraten und dass die menschliche Mitteilung, die dadurch von vornherein abwegig geworden war, den auf­nehmenden Verstand zu einem Maximum an abenteuerlicher Verwirrung auffordern musste. Von dem Augenblick an empfand keiner mehr ein abschätziges Vorurteil gegenüber den Spielen unserer Kindheit, für die wir die gleiche, obschon fühlbar gesteigerte Leidenschaft wie seinerzeit wiederfanden. Deshalb fiel es uns, als wir Rechenschaft ablegen sollten, worin unsere Begegnungen oft so aufregend waren, gar nicht schwer, einhellig festzustellen, dass die Methode der köstlichen Leiche sich nicht wesentlich von jener kindlichen, der kleinen Zettel, unterscheidet ... Was uns tatsächlich an diesen Produktionen begeisterte, war die Gewissheit, dass sie, komme wie es wolle, unmöglich von einem einzigen Gehirn hervorgerufen worden sein können und dass ihnen in einem viel stärkeren Maße die Fähigkeit des Abweichens eigen ist, auf die in der Dichtung nie genug Wert gelegt werden kann. Mit der köstlichen Leiche verfügt man endlich über ein unfehlbares Mittel, den kritischen Geist auszuschalten und dafür der metaphorischen Begabung des Geistes völlige Freiheit zu verschaffen.“
(André Breton, zit. nach Lutz von Werder, Claus Mischon, Barbara Schulte-Steinicke: Kreative Literaturgeschichte, Milow 1992, S. 270)


31. März 2015

Blickwinkel Wasser

Ausstellung im Augustinum Kassel

Noch einmal und bis Mitte Mai können ca. 60 Schwarzweißfotos zum Thema Wasser betrachtet werden – dieses Mal im Augustinum Kassel. Mit 14 SchreibwerkstattteilnehmerInnen gab es 2014 eine Kooperation mit der Blickwinkel-Fotogruppe von Sabine Große. (Siehe auch Blog-Eintrag vom 9. Juli 2014.) Die Lesung zur Ausstellungseröffnung am 27. 3. vor etwa 100 Gästen war ein Genuss – wie gut alle gelesen haben. Und wie gut es ist, die Texte noch einmal und immer wieder von den AutorInnen in solch einem Rahmen zu HÖREN! Nun, dieses Erlebnis ist nicht zu konservieren. In einer Publikation sind zahlreiche Texte und Fotos veröffentlicht, sie ist über mich zu bestellen. Und einige wenige Texte, die visuelle Poesie genannt werden können, sind in der Ausstellung zu sehen, z. B. dieses von Rita Krause.

Ausstellung Blickwinkel Wasser
bis Mitte Mai im Augustinum
Im Druseltal 12, Kassel-Wilhelmshöhe
Di–Sa 12–19 Uhr, So 10–19 Uhr


23. März 2015

Bullshitwörter

Gibt es ärgerliche Wörter?

„Bullshitwörter“ nennt mein Kollege Claus Mischon sie. Als da wären „Achtsamkeit“, „wertschätzen“ oder „runterbrechen“. Sie sind so trendy, all diese Wörter. Wenn du sie sagst, bist du in, wenn du stattdessen „freundlich“, Respekt“ oder „übertragen“ sagst, bist du out. DU gibst dich als Randerscheinung zu erkennen, die Majoritäts­verliebten und deren (die Sprache) dominierende Gurus wenden sich ab. Das sind nun meines Kollegen Claus ärgerlichste Wörter, „schlussendlich“ nicht zu vergessen. Aber welche Wörter sind für mich ärgerlich?
Ist ,ärgerlich’ eine Kategorie, die ich fassen, eine Schublade, die ich füllen könnte? Warum sollte ich etwa „Lügenpresse“ (das Unwort des Jahres 2014) in diese Schublade stecken? Sollte es nicht vielmehr wie andere Wörter auch, etwa „totaler Krieg“, als Bezeichnung für ein Phänomenen, das in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext steht, verwendet werden?
Sind Fotze, Tussi oder Emanze ärgerliche Wörter? Sie entlarven die Haltung der Benutzer. Die Benutzer sind eindeutig ein Ärgernis, aber die Wörter? Sind Hintern, Popo oder Gesäß weniger ärgerliche Wörter als Arsch? Kommt es nicht auch hier auf den Zusammenhang an, auf den soziokulturellen Kontext, in dem ein Mensch sich des einen Ausdrucks bedient und sich mit einem der anderen Ausdrücke lächerlich machen oder ins Abseits stellen würde? (Was ich natürlich auch bewusst tun kann, wenn mir das Benutzen des einen und das Vermeiden des anderen Begriffs wichtig ist oder wenn ich zeigen will, wo ich mich positioniere und wo nicht.)
Gibt es also möglicherweise gar keine ärgerlichen Wörter? Sind wir dann aber nicht erst recht aufgefordert, Kontext und Ziel zu ergründen, um das je passende Wort zu finden?


15. März 2015

Kreatives Schreiben –

Nabelschau oder Welt im Blick?

Weder das eine noch das andere: Kreatives Schreiben nimmt die Welt in den Blick, und die Welt, das ist der Bauchnabel, das ist die Ukraine, das sind die Kriegserzählungen des Großvaters, das ist der Bandscheibenvorfall des Sohnes, das ist Fukushima, das ist die lange Beckett-Lesenacht, das ist meine Suche nach den richtigen Wörtern. Und auch gilt der .alte Spruch der Frauen der 1968er Bewegung: Das Private ist politisch, also ist alles ,Welt’ und öffentlich und nichts einfach nur meine Sache. Wie aber kann man das dann schreibend ausloten? Hier eine Idee:
Schreiben Sie einen Tagebuch-ähnlichen Text rund um den Bauchnabel, frei, ohne vorherige Festlegung einer Form. Dann schreiben Sie einen Kommentar zu einem Sie bewegenden öffentlichen, kultur-, sozial- oder weltpolitischen Ereignis. In einem dritten Schritt schneiden Sie beide Texte in Abschnitte auseinander und setzen sie, die Absätze aus dem ersten Text mit den Absätzen aus dem zweiten Text abwechselnd, wieder zusammen.


9. März 2015

Experte oder Sparringspartner?

Wer bin ich, wenn ich Gruppen leite?

Sieben mögliche Leitungsrollen differenziert Jochem Kießling-Sonntag in seinem Handbuch Trainings- und Seminarpraxis (Berlin 2003, S. 134 ff.). Um eine direkte oder indirekte Auseinandersetzung damit, wer ich sein will, wenn ich Gruppen, welcher Art auch immer, leiten will, kommt keine vorbei, warum nicht mit Kießling-Sonntag?

  1. der Experte (für ein Fachgebiet; Gefahr: Einschüchterung, Passivität der Teil­nehmen­den)
  2. der Lehrer (Könner und Vorbild; Gefahr: auf alles eine Antwort, hemmt selbst­verantwortliches Lernen)
  3. der Lernpartner (vertraut auf Kraft der agierenden Gruppe; Gefahr: es allen recht machen wollen, Leitung aus der Hand geben)
  4. der Coach (Unterstützer und Förderer persönlicher Entwicklungen; Gefahr: Vernach­lässigung des Gruppenprozesses)
  5. der Sparringspartner (konfrontiert, ist ehrlich, holt die Welt in die Gruppe; Gefahr: Rollenverliebtheit verhindert Finden realitätstauglicher Lösungen)
  6. der Moderator (Helfer für Prozesse, hält sich mit eigenen Positionen zurück; Gefahr: zu wenig Fach- und/oder Steuerungskompetenz)
  7. der Begleiter (hört zu, hilft, beschleunigt nicht; Gefahr: Gruppenziele bleiben auf der Strecke)


2. März 2015

Wir waren auf Sylt

Meine Lieblingsschreibübung der letzten Woche

Eine Woche Meer schreiben! Ein Luxus. Für die Teilnehmenden, für mich. Eine Woche Inspirationen aus der imposanten Landschaft, vor allem im Listland, jenseits der touristischen Zentren der Insel Sylt. Meine Lieblingsübung der vergangenen sieben Tage hier als Schreibanregung:
Inspiriert vom Buch Literatur in fünf Minuten (Roberta Allen) und passend zur Fastenzeit haben wir an einem Morgen als erste Schreibübung vier Drei-Minuten-Texte geschrieben. Nach jeweils drei Minuten sagte ich Stopp und gab den nächsten Impuls. Auf Sylt waren es: Wüste, meinwärts, grundlos vergnügt, Quelle meiner Kraft. Bei Nachahmung ist es sinnvoll, sich entweder von einer anderen Person nach und nach vier Begriffe geben zu lassen oder blind in ein Buch zu tippen und das Wort zu nehmen, auf das der Finger stieß. Es geht bei dieser Übung nicht darum, etwas Fertiges herzustellen, sondern sich dem zu überlassen, was der Impuls auslöst. Es entsteht möglicherweise dabei eine Idee für einen Text ...


26. Februar 2015

Wer bin ich?

Lehrerin oder Texthebamme?

Als ich am letzten Mittwoch im Wartezimmer meiner Zahnärztin saß, las ich im Stern (Nr. 7, 5. 2. 2005) von Günther Seidler, Traumatologe, Arzt und Analytiker: Er forscht zum Erfolg bzw. Misserfolg von Psychotherapien und ihren Ursachen und äußert neben Erstaunen oder Entsetzen über die Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit seiner KollegInnen folgenden Satz: „Wir sind nur die Bergführer, haben Kompass und Wetterkarte, aber den Weg auf den Berg machen wir gemeinsam.“ (S. 49)
Diese Haltung gefällt mir. Sie entlässt mich aus der Gluckenrolle und nimmt mein Gegenüber in die Verantwortung für das eigene Sein. Wenn ich mich nicht als Lehrerin, sondern als Texthebamme bezeichne, spiegelt sich darin eine ähnliche Haltung: Ich stelle mich mit meinem Wissen über Textsorten und Schreibprozesse Menschen zur Verfügung, die schreiben wollen oder müssen, ich helfe beim Gebären, aber schwanger gehen mit ihren Projekten müssen die Schreibenden selbst, und auch für die Ausformulierung sind sie selbst verantwortlich.


16. Februar 2015

Beenden tut gut

ein-sil-big 2014 erschienen

Ein guter Entschluss, mal ein (Schreib-)Jahr auch mit einem Produkt abzuschließen. Schreiben ist mir ja grundsätzlich erst einmal eine Lust! 2014 habe ich das Essay Schreiben? Schreiben!> veröffentlicht, das sich mit der Frage beschäftigt, woher die Lust am Schreiben kommt. Es ist in der Berliner Anthologie – Essays rund ums Schreiben (herausgegeben von Andreas Dalberg) erschienen. 2014 habe ich auch etwas ganz Anderes gemacht, als ein Essay zu schreiben. Fast bin ich geneigt zu sagen: etwas Gegensätzliches. Während es beim Essay quasi keine Regeln gibt, an die es sich zu halten gilt, weder für Wörter oder Sätze noch für Inhalte oder Strukturierung, habe ich mir für mein zweites Jahresprojekt eine überaus strenge Regel auferlegt: Ich habe eine große Anzahl Texte geschrieben, in denen ausschließlich Wörter vorkommen, die aus nur einer Silbe bestehen. (Zum Thema Einsilbig-Schreiben siehe auch Blog-Eintrag vom 28. Juli 2014.) Mit diesem Projekt habe ich mich und mein Haupt-Jahresthema begleitet. Jetzt habe ich es abgeschlossen, das Jahr und das einsilbig-Projekt – und habe ein Heftchen daraus gemacht: ein-sil-big 2014 kann sogar erworben werden, direkt bei mir für 5 Euro (plus Versand).
Und auch das Heftchen Wortschatz 2011 kann noch zum gleichen Preis erworben werden.

     


9. Februar 2015

Fragment schreiben 2

Blütenstaubfragment – nach Novalis

Stephan Porombka (Universität Hildesheim) schreibt: „[...] Es wäre deshalb völlig falsch, das Schreiben von Fragmenten als sinnlose Ausschussproduktion zu verstehen, die man sich eigentlich auch sparen könnte, wenn man sich nur gleich darauf konzentrieren würde, etwas Brauchbares aufs Papier zu bringen. Wer schreibend nach ,Brauchbarem’ sucht, um gleich das ;Unbrauchbare’ auszusortieren, schaltet Kontrollinstanzen ein, die beim Schreiben von Fragmenten ausgeschaltet bleiben sollen. Was man am Ende brauchen kann, weiß man ja nicht. [...] Fragmente sind Experimente. Jedes Fragment ist ein Anfangsverdacht, eine erste Ermittlung, eine erste Frage, eine erste Antwort. Sie sind Ergebnis eines leicht rauschhaften Zustands, in den sich der Schreibende durchs Schreiben bringt, um zu schwärmen, zu übertreiben, zu spinnen, zu riskieren, zu testen [...]“ (Porombka 2007, S. 29 f.). Porombka bezieht sich in seinem Aufsatz auf die poetische Idee des Fragmentarischen, die auf die Romantiker, genauer auf den Jenaer Kreis und im Speziellen auf Novalis zurückgeht. Das Fragment als vorläufiges Produkt des anderen Texten und Gedanken begegnenden intertextuellen Arbeitens und Ausprobierens, des immerwährenden Um- und Weiterschreibens im Labor des nie vollendeten Lebens. Novalis schreibt ein seinem 65. Blütenstaubfragment: „Alle Zufälle unseres Lebens sind Materialien, aus denen wir machen können, was wir wollen. [...]“ (zit. nach Porombka 2007, S. 35).
Nehmen Sie einen Zufall aus Ihrem Leben. Von heute, von gestern, von 1991. Und schreiben Sie ein Blütenstaubfragment.

Stephan Porombka: Für wahre Leser und erweiterte Autoren. Novalis: Blütenstaub-Fragmente [1798]. In: Stephan Porombka, Olaf Kutzmutz (Hg.): Erst lesen. Dann schreiben. 22 Autoren und ihre Lehrmeister, München 2007, S. 23–35


6. Februar 2015

Der erste Schritt zum Schreiben

Sean Connery in Forrester

„Überlegen kommt später. Den ersten Entwurf schreibst du mit dem Herzen. Anschließend nimmst du den Kopf und schreibst alles neu. Der erste Schritt zum Schreiben ist Schreiben. Allein der Fluss des Tippens bringt dich voran.“ Das sagt ein alter, schreibblockierter und deshalb frustrierter Schriftsteller zu einem jungen Mann, dessen Talent zum Schreiben er schließlich fördert – in einem Film: Forrester (auf Deutsch: Gefunden). Sean Connery spielt den Alten.
Diese Sätze könnte ich in jeder meiner Schreibwerkstattstunden von mir geben. Und meine Erfahrung ist: Die besten Erstfragmente, die besten Entwürfe, die besten Ideen, die eigentlich-eigenen Themen, die eigentlich-eigenen Ausdrucksformen entstehen genau so.


31. Januar 2015

Fragment schreiben 1

Fragmente als Mitten – nach Lorenz Hippe

Lassen Sie sich drei Wörter schenken von der Person, die gerade neben Ihnen sitzt. Wenn da keine ist, schlagen Sie ein beliebiges Buch an drei Stellen auf, tippen auf je ein Wort. Oder Sie nehmen Ihren zuletzt geschrieben Text und nehmen die ersten drei dreisilbigen Wörter. Diese drei Wörter (beliebiger Wortarten) sind Ihr Grundmaterial, mit dem Sie zunächst ein Fragment schreiben. Sie schreiben drei Minuten. Dann lassen Sie den Stift fallen, spülen, gehen eine Runde spazieren, telefonieren, schreiben etwas Anderes ... Anschließend nehmen Sie sich Ihr Fragment wieder vor, dieses ist nun der Mittelteil einer kleinen Erzählung. Schreiben Sie einen in etwa genauso langen Teil davor und dann einen in etwa genauso langen Teil danach. Fertig ist Ihre Kürzest-Erzählung.

Zur Arbeit mit Fragmenten empfehle ich das voller Schreibanregungen steckende Buch meines Kollegen, des Theaterpädagogen Lorenz Hippe: Und was kommt jetzt? Szenisches Schreiben in der theaterpädagogischen Praxis, Weinheim 2011


26. Januar 2015

Kreativität locken

Buch-Empfehlungen von meiner Kollegin Susanne Wetzel

Auf der Suche nach Impulsen, um inspirierende Übungen zu entwickeln, findet man immer wieder mal geniale Sachen ganz woanders als im Kreativen Schreiben verortet. Z. B. in Du bist ein Künstler von Nick Bantock. Er ist bildender Künstler und schreibt. Er ist ein Meister der Collagetechnik und Buch ist eine inspirierende Reise zur Kreativität und zu sich selbst. In diesem Buch stellt er 49 Übungen vor, um die eigene Kreativität herauszufordern. Collagierend, schreibend, malend. Macht super Spaß, damit zu arbeiten.
Oder von Austin Kleon: Newspaper Blackout. Austin Kleon, der als Kreativ-Guru in den USA gefeiert wird, hat das Genre der Newspaper Blackout Poems erfunden. Creative blackout meint Kreativitätsblockade. Das erste Blackout-Gedicht entstand, als Kleon Wörter für eine Geschichte suchte und einfach auf einer Zeitungsseite alle schwärzte, die er nicht gebrauchen konnte. Oder vom selben Autor Alles nur geklaut. Klauen und neu mixen und zur eigenen Schöpfung kommen? Es macht Spaß, das auch optisch sehr ansprechende Büchlein zu lesen, von vorne oder ab Seite 15: „Nichts ist neu. [...] Schon in der Bibel steht: ,Es gibt nichts Neues unter der Sonne.’ (Prediger 1,9).“

Nick Bantock: Du bist ein Künstler. Eine inspirierende Reise zur Kreativität und zu sich selbst, Allegria 2014
Austin Kleon: Newspaper Blackout, Harper Perennial 2010
Austin Kleon: Alles nur geklaut. 10 Wege zum kreativen Durchbruch, Mosaik Verlag 2013


19. Januar 2015

Binde deinen Karren an einen Stern

Eine Aufforderung zum ermutigenden Schreiben

Es ist nicht so einfach, ,auf Kommando’ Texte zu schreiben, die selbst- oder fremdermutigenden Charakter haben. Im Fachbereich des heilsamen oder therapeutischen Schreiben existieren vielerlei Anregungen. Heute will ich einen Satz als Schreibanregung hierher stellen, der an sich schon ermutigenden Charakter hat. Er passt gut auch gut zum noch jungen Jahr: „Binde deinen Karren an einen Stern!“
Der Satz stammt von Leonardo da Vinci und ist der Titel eines 2000 im Herder Verlag erschienenen Buches von Jörg Zink und Meinolf Kraus. Vielleicht führt die in ihm enthaltene Aufforderung zum Blick auf etwas Leuchtendes im Schwarzen. Der Satz kann natürlich auch zu etwas ganz Anderem führen, als ich mir das so vorstelle. Das ist dann natürlich auch vollkommen richtig.


12. Januar 2015

Paris – Hauptstadt der Welt

Der Tag danach

Ich bin
Ich bin Kirsten
Ich bin ich
Ich bin Atheistin
Ich bin weiß
Ich bin gelb
Ich bin schwarz
Ich bin
Ich bin nicht wie
Ich bin wie
Ich bin sie
Ich bin du
Ich bin rot
Ich bin Frau
Ich bin trans
Ich bin
Ich bin nichts
Ich bin
Ich bin nicht Bin Laden
Ich bin Härte
Ich bin Verzeihen
Ich bin klar
Ich bin traurig
Ich bin Aktion
Ich bin gelähmt
Ich bin Traum
Ich bin
Ich bin so Ich bin laut
Ich bin ohne Scham
Ich bin alt
Ich bin Schreibende
Ich bin deutlich
Ich bin sehend
Ich bin
Ich bin Herz
Ich bin Europa
Ich bin Judith
Ich bin nicht Papst
Ich bin
Ich bin Versöhnung
Ich bin dabei
Ich bin anders
Ich bin
Ich bin bunt
Ich bin verwandt
Ich bin unerwandt
Ich bin unerwartet
Ich bin lahm
Ich bin links
Ich bin still
Ich bin beschämt
Ich bin
Ich bin Staunen
Ich bin dort
Ich bin hier
Ich bin
Ich bin in Gedanken
Ich bin nie so
Ich bin nicht Hass
Ich bin Unikum
Ich bin universell
Ich bin unterwegs
Ich bin klein
Ich bin Stecknadel
Ich bin Mensch
Ich bin ein Stern
Ich bin ein Wir
Ich bin alle
Ich bin
Ich bin nicht Karl
Je suis Charlie

Geschrieben zum Semesterzwischentreffen der Montagsmorgensschreibwerkstatt, das heute bei Nicole Ohm-Hansen in Kaufungen stattfand. Nicole hatte die Schreibaufgabe gestellt: Der Tag danach. Ich schrieb heute direkt nach den Morgenseiten diesen seriellen Text, um ihn dann zwischen Croissants, Brie und Café au Lait vorzulesen.


5. Januar 2015

Sich selbst überraschen

Frei nach Gerhard Richter

Einer der Wettbewerbsteilnehmer am Nordhessischen Autorenpreis, Jan Ivo Krosing, schickte mir ein Zitat von Gerhard Richter aus der TV-Dokumentation Gerhard Richter malt, das ich hier einfach so wiedergebe, ohne es überprüft zu haben: „Wenn ich weiß, was ich malen will, kann ich es auch gleich bleiben lassen.“ Das ist ganz einfach aufs Schreiben zu übertragen. Jedenfalls verfahre ich meistens so. Oder es passiert mir einfach: Ich überrasche mich selbst mit Inhalten und Formen meiner Texte, die in den Schreibwerkstätten entstehen.


29. Dezember 2014

Was brauchst du?

Friederike Mayröcker zu Ehren

Am 20. Dezember ist Friederike Mayröcker 90 Jahre alt geworden. Die Gedichte und Prosa-Stücke der österreichischen Dichterin sind nicht immer leicht zu verstehen, aber einige Texte verwende ich seit Jahren als Anregungen in Schreibwerkstätten. So nun also hier zu ihren Ehren folgende Anregung, die auch zum kommenden Jahreswechsel passt, der ja doch – ob man es will oder nicht – zum Resümieren und Vorausblicken auffordert.
Man kann sich erstens anregen lassen durch den Titel des Gedichts und Wesentliches versuchen zu filtern; man kann zweitens die Form, die ja etwas Aufzählendes hat, nachahmen; eine dritte Möglichkeit ist, zwischen die Zeilen Mayröckers jeweils eine eigene Zeile zu setzen, also eine Montage herzustellen.

was brauchst du
was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie grosz wie klein das Leben als Mensch
wie grosz wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie grosz wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel


23. Dezember 2014

Geschlechterfragen

Binnen-I, Sternchen oder Ignoranz

Ich mag Harald Martensteins Kolumnen. Ich mag sie auch, wenn er damit etwas in mir trifft, sodass ich schlucken muss. Aber seine Kolumne im ZeitMagazin vom 4. Dezember 2014 mag ich nicht. Sie zeugt von Ignoranz gegenüber einer Tatsache, der er sich sicherlich ansonsten nicht verschließt. Gegenüber der Tatsache nämlich, dass Sprache und Sprachstrukturen unser Denken, unsere Ich- und Weltwahrnehmung prägen. Selbst bei männlichen CSU-Politikern hat es sich durchgesetzt, die Menschen (mit denen man es sich natürlich auch nicht verscherzen will, wer weiß, welche emanzipierten Frauen vielleicht doch überlegen, einen CSU-Mann zu wählen) mit „liebe Wählerinnen und Wähler“ anzusprechen. In der Annahme, dass Harald Martenstein nicht erzkonservativ und insgeheim Anhänger der These ist, dass Männer in die Öffentlichkeit und Frauen aus dieser heraus gehören, erstaunt es um so mehr, dass zwar ein Horst Seehofer sich die Nennung zweier Geschlechter angewöhnt hat, dass aber ein Martenstein sich kolumnistisch darüber mokieren muss, dass es 1. zwei oder 2. sogar mehr Geschlechter gibt und dass diese 3. auch in der Schriftsprache vorkommen sollten.
Sicherlich kann man sich über manche Versuche, die Geschlechter in der (deutschen) Sprache sichtbar werden zu lassen, lustig machen – Martenstein nennt das Beispiel einer Professorin, die sich Professx betiteln lassen will –, aber ernst nehmen kann ich eine Kolumne, die den Anspruch hat, gesellschaftliche Seltsamkeiten aufzudecken, nur, wenn dann nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wird, in diesem Fall: der Versuch an sich, Frauen sprachlich sichtbar zu machen, verunglimpft wird.
Haben doch 2013 die Universitäten Leipzig und Potsdam beschlossen, in ihren offiziellen Verlautbarungen das generische Femininum einzuführen, d. h. dass einfach die Wörter Professor in und Studentin verwendet werden, denn die männliche Form – Professor bzw. Student – ist ja darin enthalten. Seit einigen Jahren versucht die Trans-Queer-Szene, in der sich Menschen treffen, die Schwierigkeiten haben, sich in der klassischen Zweigeschlechtlichkeit zu verorten. Sie wählen den sogenannten Genderstern, also z. B. für sich transsexuell definierende Personen Trans*.
In ihrem unaufgeregten und lesenswerten Aufsatz Liebe PCs! in der EMMA (Januar/Februar 2015, S. 74–75) diskutiert Luise Pusch die unterschiedlichen Varianten, die Geschlechter in der Schriftsprache sichtbar zu machen. Die seit Jahrzehnten die (feministische) Sprachwissenschaft mit ihren Thesen und Forschungen bereichernde Linguistin plädiert für die konsequente Einführung des generischen Femininums (am besten mit einem Stern als i-Punkt), da sich in diesem Frauen, Männer und alle anderen Geschlechter wiederfinden könnten. Ich stimme zu.


15. Dezember 2014

Die Hosentaschenbohnen

Eine Blicklenkungsübung

In Vorbereitung auf das Schreibwochenende im Kloster Germerode (5. bis 7. 12. 2014) habe ich mich an eine Geschichte erinnert, die ich mal gehört hatte, irgendwas mit Steinen oder Bohnen, die von einer Hosentasche in die andere wandern sollen ..., und habe sie gefunden:

Die Glücksbohnen
Es war einmal ein Bauer, der steckte jeden Morgen eine Handvoll Bohnen in seine linke Hosentasche. Immer, wenn er während des Tages etwas Schönes erlebt hatte, wenn ihm etwas Freude bereitet oder er einen Glücksmoment empfunden hatte, nahm er eine Bohne aus der linken Hosentasche und gab sie in die rechte. Am Anfang kam das nicht so oft vor. Aber von Tag zu Tag wurden es mehr Bohnen, die von der linken in die rechte Hosentasche wanderten. Der Duft der frischen Morgenluft, der Gesang der Amsel auf dem Dachfirst, das Lachen seiner Kinder, das nette Gespräch mit einem Nachbarn – immer wanderte eine Bohne von der linken in die rechte Tasche. Bevor er am Abend zu Bett ging, zählte er die Bohnen in seiner rechten Hosentasche. Und bei jeder Bohne konnte er sich an das positive Erlebnis erinnern. Zufrieden und glücklich schlief er ein – auch wenn er nur eine Bohne in seiner rechten Hosentasche hatte.

„Sich auf das zu konzentrieren, was im Leben gut ist, statt nur auf die Probleme zu starren, verändert innerhalb weniger Wochen die gesamte Wahrnehmung und die Lebenseinstellung“, schreibt die Tiefenpsychologin Dr. Elisabeth Mardorf und empfiehlt, ein Dankbarkeits­tagebuch zu führen. Das ist die Idee: Es geht nicht darum, etwas zuzukleistern, unter den Teppich zu kehren oder umzuinterpretieren, sondern viele kleine Glücke vor das große Drama (jedeR hat eins) zu stellen. Also, vielleicht einfach mit drei Bohnen anfangen und abends sich schreibend an die Glücksbohnenmomente erinnern.
Weiterführendes zu den Formaten Freuden- und Dankbarkeits­tagebuch lässt sich bei diversen AutorInnen finden, die sich mit der Heilkraft des Schreibens befassen, u. a. bei Luise Reddemann.


12. Dezember 2014

Auf dem ICH-Sockel

Kassel hat mehr zu bieten als den Bergpark

Gegenüber vom Brüder-Grimm-Platz, auf der Wiese vorm Hessischen Landesmuseum, eine Gehminute vom Kasseler Rathaus entfernt – da gibt es einen recht unscheinbaren Sandsteinsockel. Es ist so einer, auf dem eigentlich eine Statue oder Büste stehen könnte. Der Platz auf dem Sockel aber ist leer. Und dort, wo (im Falle von Statue oder Büste oben) eingemeißelt ist, um wen es sich dort oben denn handelt, steht das Wort ICH. Hinter dem Sockel gibt es ein Treppchen, man kann also bequem hinaufsteigen und sich auf dem Sockel positionieren. Und hinspüren. Wie stehe ich? Als was stehe ich? Wie halte ich meine Arme, wohin zeigen meine Füße? Was will ich demonstrieren? Will ich auf einem Sockel stehen? Wenn ja, für was? Und unweigerlich die Frage: Wer ist eigentlich dieser Mensch, der sich Ich nennt? Vielleicht findet man schreibend eine Antwort (oder mehrere), wenn man wieder heruntergeklettert ist.
Fotos zu machen, ist auch spannend. Hier zwei von mir, aus den Jahren 2007 und 2012.


8. Dezember 2014

Schreibwettbewerb vom LEA-Leseklub

Die Kunst der Einfachheit

In der letzten 3+-Schreibworkshopstunde, in der ich mich von meiner Kollegin Carmen Weidemann inspirieren lassen durfte, erfuhr ich von einem Schreibwettbewerb von KuBus e.V. und dem Literaturhaus Köln, mit dem sie unter dem Titel Die Kunst der Einfachheit dazu aufruft, Kurzgeschichten, Gedichte oder Essays in einer „einfach verständlichen, aber erwachsenengerechten Sprache“ zu verfassen, sodass Menschen mit Behinderung sie verstehen können und gern lesen. Wir versuchten uns an dieser Aufgabe – und stellten fest, dass es keineswegs einfach ist.
Es entwickelte sich eine Debatte darüber, ob Menschen mit einer geistigen Behinderung Metaphern nicht oder gerade verstehen. „Die Dunkelheit überschwemmte mein Herz.“ Ist da kein oder ein selbstverständlicheres, intuitiveres Bildverstehen? Wir wussten es nicht, konnten keine Einigkeit erzielen. Und was ist eine einfach verständliche, aber erwachsenengerechte Sprache? Oder geht es vielmehr um ,Einfache Sprache’ (vgl. Netzwerk People First) und erwachsenengerechte Inhalte? Und nicht zu vergessen: Bin ich geistig behindert, wenn ich keine Nebensatzkonstruktionen verstehe, oder bereits, wenn ich nicht weiß, was Interdependenz bedeutet?
Ob KuBus oder LEA darauf eine Antwort wissen, kann ich nicht sagen, aber vielleicht lässt sich eine Annäherung schreibend ausloten.
Informationen zum Schreibwettbewerb und zum LEA-Leseklub unter KuBus|LEA-Leseklub.


27. November 2014

E-Mail-Vernetzung

Fluch und Segen

Im Telefonat einig mit Guido Rademacher: Die Vernetztheiten – auch wenn man kein Handy hat und nicht bei Facebook & Co. unterwegs ist – sind ein Fluch. Gerade heute Morgen habe ich erst einmal 90 Minuten E-Mails bearbeitet, bevor ich anfangen konnte, mich meinen Projekten zu widmen. Einfach alles wegklicken – das geht ja nicht. Das hat man dann von der schnellen und einfachen Kommunikation (es ist ja nicht so, dass ich keine Massenmails verschicken würde, auf die dann 30 Leute freundlicherweise auch reagieren, von denen ich dann wieder auf 15 reagieren muss usw.). Und dann, als ich mich gerade den studentischen Arbeiten widmen wollte, bekam ich eine Mail von Heike Lange, die mich berührte und meinen E-Mail-Frust sofort vergessen ließ: „... weil ich bei Dir zwei große Stärken sehe. Ich finde Du kannst Schreibübungen gut verständlich zusammen fassen, schriftlich erklären, nicht so lapidar, wie andere! Ebenso haben mir, aber immer deine ,Werke’ und Texte von Dir gefallen. Sie sind für mich deine zarte, sinnliche Seite ...“
Ich sollte vielleicht wieder die Regel einführen, dass ich nur morgens eine Stunde und noch mal mittags eine Stunde das E-Mail-Programm eingeschaltet habe ... Und die Notwendigkeit mancher Massenmail und mancher Mitgliedschaft in Verteilern noch mal überdenken ...


24. November 2014

Erfolgreiche Tagung zum Kreativen Schreiben

Perspektiven für die Region Nordhessen

Anlass für die 1. nordhessische Tagung zum Kreativen Schreiben war mein Wunsch nach Austausch und Vernetzung mit Kolleginnen und Kollegen in der Region einerseits, anderer­seits mein Wunsch, das Kreative Schreiben sichtbarer zu machen, es stärker öffentlich, in Institutionen und in den Köpfen, zu verankern. Es kamen 15 schreibpädagogisch arbeitende Menschen und sechs weitere, die sich für das Kreative Schreiben ,einfach so’ interessieren, am 18. November 2014 nach Kaufungen.
Prof. Dr. Norbert Kruse (Grundschuldidaktik Universität Kassel) und ich hielten kurze Vorträge, zur Frage der Bewertbarkeit von kreativ geschriebenen Texten bzw. zur Geschichte der Schreibgruppen in Deutschland. Hauptsächlich aber tauschten sich die Tagungs­teilnehmenden nach der Methode World Café in wechselnden Kleingruppen zu folgenden Fragen aus:

  1. Kann ich das, eine Schreibwerkstatt leiten, und was brauche ich dafür?
  2. Wie motiviere ich Menschen, mein Angebot zu wählen? Wie akquiriere ich Teilnehmende?
  3. Mit welchen Methoden öffne ich zum Schreiben, und mit welchen begegne ich Schreibblockaden?
  4. Schreibe ich als Kursleitung mit? Wie sehen meine Textkritikverfahren aus?
    Wie gehe ich mit Wünschen aus der Gruppe um?
  5. Welche ,Nische’ besetze ich mit welchem Profil bzw. Curriculum – muss ich mir eine ,Nische’ suchen?
  6. Schreibe ich als Selbstausdruck, Selbstvergewisserung oder um Literarisches in die Welt zu setzen?

Einige wunderbar konkrete Perspektiven wurden entwickelt. Ab 2015 wird viermal im Jahr ein öffentliches Schreibcafé stattfinden, das jeweils von einer Schreibpädagogin, einem Schreibcoach etc. geleitet wird; es gibt schreibunerfahrenen Menschen die Möglichkeit, einfach mal einen Abend eine Facette des Kreativen Schreibens zu beschnuppern. Außerdem ist mittelfristig eine Ringvorlesung an der Universität Kassel geplant. Und ein Stammtisch schreibpädagogisch arbeitender Menschen wird eröffnet. Zum ersten Stammtisch lädt Kirsten Alers ein, am 22. Januar 2015 um 20 Uhr ins Eberts (Friedrich-Ebert-Straße, nähe Bebelplatz).


16. November 2014

Re-Traumatisierung

Nicht immer ist Schreiben befreiend

„Erlebtes aufzuschreiben, lässt es erst einmal neu aufflammen, aber dann erlischt es endgültig und wird zum ruhenden Teil der eigenen Lebenschronik.“ Das sagt Hape Kerkeling in einem Interview im STERN vom 2. Oktober 2014, als er gefragt wird, ob ihn das Schreiben seines autobiografischen Romans nicht in den Schmerz zurückkatapultiert habe. Und das ist natürlich wunderbar, wenn das Schreiben solch eine Wirkung hat: Ich schreibe den Schmerz und er erlischt. Ganz so einfach ist das leider nicht immer.
Schreiben befreit, Schreiben schafft Distanz, Schreiben erlaubt es, das Unnennbare, das Grauen zu versprachlichen und damit handhabbar zu machen. Schreiben ist ein jederzeit verfügbares Instrument, das ein hohes Maß an Selbstwirksamkeitserfahrung ermöglicht. Ja, das stimmt. Schreiben ist mittlerweile als Coping-, als Bewältigungstechnik von PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und MedizinerInnen als Möglichkeit der Therapie und/oder Selbsttherapie auf der Palette von wohltuend bis lebensrettend anerkannt (leider aber nicht von den deutschen Krankenkassen). Sogar positive Auswirkungen auf das Immunsystem sind bereits nachgewiesen.
Aber um in diesen von Kerkeling postulierten kathartischen Schreibprozess eintauchen zu können, bedarf es einer gewissen psychischen Stabilität. In einer akuten psychischen Krise kann Schreiben, wenn es unkontrolliert außerhalb eines wie auch immer gearteten therapeutischen Settings praktiziert wird, auch die Krise verschärfen, gar eine Re-Traumatisierung auslösen. Auch das kann natürlich gewollt und sinnvoll sein.

(Wissenschaftliche) Literatur zum heilsamen und therapeutischen Schreiben:

  • Silke Heimes: Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie, Göttingen 2012
  • Hilarion Petzold, Ilse Orth (Hg.): Poesie und Therapie. Über die Heilkraft der Sprache: Poesietherapie, Bibliotherapie, Literarische Werkstätten, Bielefeld 2009
  • Annette Rex: Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn. Über das Nutzen des Schreibens als Instrument der Bewältigung von Traumata und Krisen, Münster 2009
  • Silke Heimes, Petra Rechenberg-Winter, Renate Haussmann: Praxisfelder des kreativen und therapeutischen Schreibens, Göttingen 2013


10. November 2014

Nicht nur Sibylle Berg

Frettchenhaft in der Dichterwerkstatt

„Wie sieht Ihre ,Dichterwerkstatt’ in Zürich aus?“, fragte die WAZ-Autorin Elisabeth Höving die Schriftstellerin Sibylle Berg (WAZ, 28. Oktober 2014). Sibylle Berg antwortete: „Ich arbeite ab halb sieben am Morgen, bis sieben abends. Immer an verschiedenen Projekten parallel. Der Schlüssel, um vom Schreiben leben zu können, ist frettchenhaftes Arbeiten.“
Meine Schwester Imke schickte mir die Zeitungsseite. Sie meinte wohl, dass auch ich ... Ja, sie hat recht. Nun arbeite ich zwar nicht in einer Dichterwerkstatt, sondern in einer Werkstatt für Kreatives Schreiben, aber immer an mehreren Projekten gleichzeitig und frettchenhaft – ja, so gestaltet sich, so gestalte ich mein Leben auch. Auch, um davon leben zu können. Und auch, weil das künstlerisch-pädagogisch-freiberufliche Dasein das so mit sich bringt. Und auch, weil es mir leider nicht vergönnt ist, sieben Leben parallel zu leben.
Manchmal hätte ich gern ein Jahr für nur ein Projekt. Aber meistens ergeben sich wunderbarerweise unerwartete Synergieeffekte. Und überhaupt: Ich möchte mit nie­mandem tauschen!


3. November 2014

Interview in der Berliner Morgenpost

Schreiben heißt, sich selbst besser zu verstehen

Am 25. 10. 2014 erschien in der Beilage Leben der Berliner Morgenpost ein Interview mit mir: „Schreiben heißt, sich selbst besser zu verstehen“. Die übergeordnete Frage war, ob und wie Schreiben heilsam sein kann. Ein kurzer Auszug:

„Was heißt das: heilsames Schreiben?
Beim heilsamen Schreiben richtet sich – anders als in der Schulmedizin – der Blick nicht auf die Krankheit, sondern auf die Gesundheit, also die Ressourcen, die helfen, eine Krise zu bewältigen. Natürlich wirkt das heilsame Schreiben anders als ein Antibiotikum, das ja auch nur Symptome unterdrückt. Schreiben sollte regelmäßig betrieben werden, so wie Yoga. Dann entfalten sich Selbstheilungskräfte.“

Das ganze Interview kann man hier lesen.


27. Oktober 2014

Kann ein Diktator Jan heißen?

Namen und Plausibilität

Natürlich kann ein Diktator im ,echten’ Leben Jan heißen. In meinem Leben gibt es auch eine Imke, die 1962 in Duisburg geboren wurde. Aber eine Erzählung mit einem Jan als Diktator oder ein Roman, der in den 1960er Jahren im Ruhrgebiet spielt und deren Hauptfigur Imke heißt, wirken nicht plausibel. Es gibt auch den umgekehrten Effekt: Wenn man einen Namen hört, entsteht sofort ein Bild, bei Brunhilde ein anderes als bei Pia, bei Nathan ein anderes als bei Pascal.
Selbstverständlich kann man auch einen Namen wählen, der erst einmal nicht zu passen scheint, zu der Figur, zur historischen Zeit, zur geografischen Lage des Handlungsortes. Vielleicht hat die Figur dann ein Geheimnis oder sie ist eben etwas Besonderes. Dann ist dieser Jan vielleicht ein falscher Diktator und Imke macht, eben weil sie diesen Namen hat, eine besondere Karriere.

Die Schreibanregung: Nehmen Sie einen der hier auftauchenden Namen (weitere Möglichkeiten wären: Anna, Karl, Chiara, Pablo, Momo oder Kim) und schreiben eine kleine Szene. Dann schreiben Sie die gleiche Szene noch einmal, aber mit einem anderen Namen. Was hat sich verändert, was musste sich verändern?


20. Oktober 2014

HNA-Ärger

Was tun mit der Monopol-Tageszeitung in Nordhessen?

Doch, ja, hier will ich mich noch einmal und immer wieder und noch einmal über die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (HNA), die einzige Tageszeitung in der Region, in der ich lebe, aufregen: Sie hat es wieder geschafft, vier kapitale Fehler im Bericht über die Verleihung des 5. Nordhessischen Autorenpreises am 16. Oktober im Regierungspräsidium Kassel zu produzieren.
1. Fehler: Der Name der 3. Preisträgerin ist falsch geschrieben. 2. Fehler: Der Wohnort des 1. Preisträgers ist falsch geschrieben. 3. Fehler: Als Einladender wird nicht der Verein Nordhessischer Autorenpreis e.V. genannt, sondern der Regierungspräsident, der aber ,nur’ Hausherr war. 4. Fehler: Der Text beginnt mit einem Satz über Schreibwerkstätten – der Nordhessische Autorenpreis hat mit Schreibwerkstätten so viel zu tun wie jeder andere Literaturwettbewerb auch, denn natürlich haben manche der Teilnehmenden mal eine Schreibwerkstatt besucht, aber mit diesem ersten Satz wird dem Preis ein Image verliehen, das er so schnell nicht wieder los wird. Wir hatten, weil im Bericht über die Preisverleihung des 4. Autorenpreises 2012 ebenfalls massive Fehler vorgekommen waren, alle Namen und Daten an die Kulturredaktion geschickt sowie der Journalistin die Biografien der PreisträgerInnen und meine Rede gegeben – sie hätte alles richtig machen können!
Es scheint als auf die Berichterstattung in eben dieser Tageszeitung angewiesene Aktive in Nordhessen nur die Haltung zu bleiben: Resignieren und froh sein, dass man überhaupt Öffentlichkeit bekommt – im Interesse der MacherInnen der Zeitung kann das nicht liegen, es ändert sich aber auch nichts.
Alles Wichtige und Richtige findet man auf der Website des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V.


13. Oktober 2014

Schreiben fängt woanders an

Der erweiterte Schreib- (und Lese-) Begriff

Das Betreuen von Masterarbeiten (eine meiner Aufgaben als Dozentin für Schreibgruppenpädagogik und -dynamik an der Alice Salomon Hochschule Berlin) ist nicht immer nur die reine Freude, aber das Lesen der irgendwann auf meinem Schreibtisch landenden fertigen Arbeiten ist immer die reine Freunde – weil sich mir so viele Dinge aus dem Kontext Kreatives Schreiben in immer wieder neuen Zusammenhängen zeigen und weil ich hin und wieder auch etwas erfahre, das mir so als explizit Positioniertes neu ist.
So erging es mir gerade mit der Arbeit von Sandra Berster: Kreatives Schreiben als inklusives Bildungsangebot. Darin las ich über den erweiterten Lese- und den erweiterten Schreibbegriff. Den erweiterten Lesebegriff entwickelten C. Hublow und E. Wohlgehagen bereits 1978, auf Werner Günthner geht der erweiterte Schreibbegriff zurück, beide sind zu finden in: Lesen und Schreiben lernen bei geistiger Behinderung. Grundlagen und Übungsvorschläge zum erweiterten Lese- und Schreibbegriff, Dortmund 2013.
Lesen wird nicht begrenzt auf das Erlesen und Deuten von Buchstaben, Wörtern, Sätzen und Texten. Der erweiterte Lesebegriff fasst neben dem Erfassen von schriftlichen Texten das ,Erlesen’ von Situationen, Personen und Gegenständen, von Bildern und Piktogrammen, von Signal- und Ganzwörtern als Lesen auf.
Schreiben im erweiterten Sinne meint nicht ausschließlich das Erstellen von Texten auf Grundlage von wörtergestützten Sätzen, sondern auch bildhafte Darstellungen von Situationen, Personen, Gegenständen und Emotionen, das Abzeichnen grafischer Zeichen, das Konstruieren sinnhafter Sätze durch eine Abfolge bildhafter Elemente, das Produzieren von Wörtern mit Hilfsmitteln wie Stempeln. Man könnte auch noch das lustvolle, absichtslose und das Schrift imitierende Kritzeln, das Kinder auf dem Weg zum Schriftspracherwerb praktizieren, dazurechnen.
Und wenn man dann ein bisschen querdenkt ... Nutzen nicht auch einerseits die konkreten PoetInnen und andererseits Institutionen und nicht zuletzt die Neuen Medien den erweiterten Lese- wie Schreibbegriff? Es im Kontext Inklusion bewusst zu tun, ist von einem anderen Interesse geleitet, aber die Ansätze aufzugreifen, ist dann wiederum klug und inklusionsfördernd.


6. Oktober 2014

Ein Satz und zehn Texte

20 Minuten in einer Schreibwerkstatt

Eine ganz normale Sache in einer Schreibwerkstatt: Die Schreibgruppenleitung gibt einen Satz vor, woher auch immer er stammt, den sollen alle als Überschrift oder als Anfangssatz für einen eigenen Text nehmen. Die Schreibzeit beträgt 20 Minuten, dann wird vorgelesen, das, was an Fragmentarischem in diesen 20 Minuten entstanden ist. Und das, was da vorgetragen wird, lässt mich – die Schreibgruppenleitung – jede Woche mehrfach (in diversen Schreibwerkstätten) staunen. So unterschiedlich wie die Teilnehmerinnen sind auch die Texte, aber vor allem ist es die Bandbreite, die Vielfalt der zutage tretenden Bilder, die Verknüpfung mit Autobiografischem, die Lust am Erzählen, die mich begeistern.
Am 18. September 2014 gab ich als Anfangsimpuls den ersten Satz aus Felicitas Hoppes Kurzgeschichte Picknick der Friseure (erschienen im gleichnamigen Buch, Fischer TB, Frankfurt/Main 2006): „Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.“

Folgende zehn Texte sind an jenem Donnerstag entstanden, nur wenig wurde beim Abtippen zuhause an ihnen verändert. Ich dokumentiere sie in alphabetischer Reihenfolge (mein eigener – ich schreibe (fast) immer mit – steht deshalb am Anfang).

Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Sie bringen die Scheren mit und die Schafe und die neuste Haarmode und die Geschichten. Und sie bleiben zwei Wochen. Am 22. oder 23. Mai ziehen sie weiter mit ihren stumpfen Scheren und ihren schwangeren Schafen und neuen Ideen und neuen Geschichten. Und hinterlassen ein Erstaunen und eine Leere und eine hohe Geburtenrate im Februar. Wenn die Kinder beginnen zu begreifen, schauen sie den Friseuren ins Gesicht und später in den Spiegel. Ihre Mütter schweigen und schälen die Kartoffeln. Ihre Väter lassen sich die Bärte stehen. (Kirsten Alers)

Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Warum kommen sie?
Was wollen sie?
Uns verschönern?
Uns verärgern?
Bärte einseifen?
Sich austauschen und fachsimpeln?
Einen Haarschneidemarathon veranstalten?
Oder sich einfach nur ausruhen und genießen?
Warum kommen jedes Jahr im Mai die Friseure? (Ute Baumgärtl)

jedes Jahr im mai kommen die friseure.
und dann schneiden sie alles ab, was weg muss. haare natürlich, zuerst, klar, am kopf die, die zu lang sind und in die augen fallen, damit fangen sie an, um sich dann die, die am kinn wachsen, vorzunehmen, die, die wachsen, wenn frauen älter werden, und die dann so ärgerlich pieksen und die beim küssen stören, die werden abgeschnitten und auch noch die, die unverschämt aus den nasenlöchern herauslugen, die fallen der schere zum opfer. und weil die friseure so gern schneiden, weil das eigentlich der grund ist, warum sie diesen beruf überhaupt gelernt haben, schneiden sie gleich weiter bei den zöpfen von vor fünf jahren, den alten mit spangen und schleifen, dann bei denen von vor acht und zehn jahren, in denen gar noch haarnadeln stecken und wenn es noch welche gibt von vor fünfzehn oder mehr jahren, solche dicken, verfilzten, festen zöpfe, dann schneiden sie die mit besonderer verzückung ab, man könnte schon beinahe behaupten, sie tun dies mit einer feierlichen, ehrwürdigen haltung.
und sie schneiden gleich bei den blumen weiter, bei den welken – ritsch, ratsch – alles weg. welkes zeug mögen sie nicht. sie schneiden zu lange fingernägel ab und die angst vor dem leben gleich mit, aber auch zu lange röcke zum beispiel – ratsch, neue länge, frech bis übers knie. sie schneiden alte schilder ab, die in die irre führen könnten, und überholte regeln, die verwirrung schaffen, sie schneiden zweige ab, die den weg versperren, die sicht nehmen und das vorankommen schwierig machen.
die friseure kommen in einen regelrechten schneiderausch, klappern laut mit ihren scharfen scheren, und ihre flinken augen suchen immerfort nach neuen möglichkeiten zu schneiden: der alte schrank wird weggeschnitten, raus aus der wand, in die er sich hineingearbeitet hat, sie schneiden die dicke luft aus der wohnung oben drüber, alles weg, sie schneiden die alten kissen aus den sesseln, die krawatte vom hals des filialleiters der bank, der dringend mehr luft braucht, die kruste über dem dorf kommt ab, der schlechte geruch, der sich am kirchturm festgehakt hat, wird mit einem glatten schnitt beseitigt, und sie eilen weiter auf der suche nach schneidemöglichkeiten, nach schneidedringlichkeiten und werden ganz unruhig, wenn es so aussieht, als ob es nichts mehr zu schneiden geben könnte.
wenn die friseure allerdings aus lauter langeweile meine hecke kurz und klein schneiden wollen, kriegen sie was von mir zu hören. ich schreie sie an: „das reicht jetzt!“ dann blicken sie traurig und enttäuscht, manche auch ein wenig verschlagen oder listig und machen sich von dannen, wobei nicht wenige von ihnen vor sich hinmurmeln: „wir kommen wieder.“ (Marie-Luise Erner)

Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Darauf kommt es Wilibo an. Schön zu sein für sein Mädchen. Für Malaba. Nur für sie. Und nur für sie erträgt er die schmerzhafte Prozedur: Mit der scharfen Muschelschale schabt Rimantibu ihm die Haare an den Schläfen und im Nacken weg. Zurück bleibt eine blutige Spur. Aber Wilibo lächelt. Er ist stark. Er ist tapfer. Er ist ein erfolgreicher Jäger. Rimantibu taucht die Finger in Asche. Nun zupft er die Barthaare am Kinn und unter der Nase aus. Wenn die Sonne untergeht, wird er damit fertig sein. Wenn dann der Vollmond die Hütten beleuchtet, wenn das Lagerfeuer brennt, wird Wilibo mit seinem Mädchen tanzen. (Gisela Hohmann)

Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Das weiß ja jedes Kind. Alle Friseure und Friseurinnen, selbst die mit schlecht bezahltem Teilzeitjob, sind im Mai auf der Coiffeurmesse Hairstyle, kommen heim und behaupten, es sei höchste Zeit für einen neuen Schnitt, eine Trendfarbe, einen abgefahrenen Look.
Die hohen Glasfenster des Friseursalons sind beschlagen. Im milchigen Pink zucken Reflexe wie Blitzlichtgewitter, blanke Scheren sausen auf und ab. Schatten tanzen ekstatisch um das goldene Haar. Ammoniakwellen, Musik und das Dröhnen der Föhne driften hoch bis zu ihrem Fenster.
Jedes Jahr im Mai verbringt sie viele Stunden dort, hat die Arme auf das mit einem dicken Kissen gepolsterten Fensterbrett gebettet, ein paar Kekse und ein Getränk in Reichweite. Und bestaunt, welche Spuren die Coiffeurmesse in den Köpfen der Friseure und auf den Häuptern der Kunden hinterlassen hat. Linke Schläfe Vorwärtsrolle, rechte Schläfe Rückwärtsrolle, gezackter Pony, weiße Igelspitzen, eine rasierte Schneise über dem Ohr, umgeben von monsoon-blauen Rastazöpfchen.
Mutige Kunden zücken den Handspiegel, sobald die Salontür zugefallen ist, und betrachten sich darin. Dann überqueren sie gesenkten Blickes die Straße oder wühlen erst einmal nach einem Kopftuch. Aber nicht alle! Die Trotzigen sind zwar in der Minderheit, aber es gibt sie. Die haben gar keinen Spiegel dabei, stöpseln sich vor der Tür gleich Musik in die Ohren und stolzieren mit hoch erhobenem Bürstenschnitt von dannen. Jedes Jahr im Mai geht sie nicht zum Friseur gegenüber, im April durchaus, aber dann erst wieder frühestens ab Mitte Juni. Jedes Jahr im Juni, wenn sie von oben die Haaransätze im Monsoon-Blau deutlich erkennt, wenn Verliebte sich gegenseitig wieder in ordentliche Haarbüschel fassen können, wenn die Friseure hinter der Glassscheibe wieder sichtbar werden und sich mit traurigem Blick die schweren Beine reiben, steigt sie die Treppe hinunter, überquert die Straße, öffnet die Tür und sagt: „Wie immer!“ (Christa Müller)

Jedes Jahr im Mai kamen die Friseure.
Die kleine Farm lag weit draußen im Südwesten der Stadt. Der Termin für dieses Ritual musste schon lange vorbestellt werden, da die Friseure immer einen gut gefüllten Terminkalender hatten.
Die Ställe wurden schon Tage vorher auf den Besuch vorbereitet. Sie mussten aufgeräumt und sauber sein. Luftdurchlässige Säcke für die Wolle wurden bereitgelegt. Alle auf der Farm waren irgendwie aufgeregt, vor allem aber die Schafe. Sie schienen es zu spüren, was auf sie zukam. Unruhig liefen sie hin und her. Bei den kleinsten Geräuschen zuckten sie zusammen.
Auf dieses Ritual freuten sich die Kinder und die Erwachsenen, denn mit der Ankunft der Scherer war plötzlich ein kunterbuntes Hin und Her auf der sonst eher ruhigen Farm.
Endlich war es dann soweit. Anfang Mai kamen sechs kräftige Männer mit ihren Schermaschinen auf die Farm. Mit geübten Händen befreiten sie die Schafe in wenigen Minuten von ihrem Fell, wobei die Kinder ihnen gespannt zuschauten. Der Duft der frisch geschorenen Wolle verbreitete sich schnell in den Ställen. Die Farmer sortierten die Wolle, alles lief Hand in Hand.
Der Sommer konnte kommen. (Jutta Cäcilia Ortseifen)

Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Irgendwann müssen sie ab, die Haare. Lange, inzwischen sehr verfilzte Haare hängen ihm ins Gesicht, laufen seinen Rücken hinunter, sehen wirklich nicht unbedingt gut aus.
Einmal im Jahr ist Schurtag, nicht nur bei den Schafen, auch bei ihm.
Er blickt in seinen kleinen Spiegel, der auch bessere Zeiten gesehen hat. Wehmütig fährt er sich durch die Mähne.
Immer im Mai, wenn die Schafschur beginnt, muss auch John seine Mähne opfern. Und der Bart muss ab! Das hat er seiner Mary versprochen, nur so konnte er sie überzeugen, seine Haare und den Bart wild wachsen zu lassen.
Einmal im Jahr, immer im Mai, ist für ihn ein trauriger Tag. (Gisela Schneider)

Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Es gibt ein Sammelbuch von mir. Ein ganz spezielles. Es ist mein Mai-Buch.
Im Mai beginnen mein Bauch zu kribbeln, meine Füße zu tanzen, mein Hals zu lachen.
Im Mai, da schreibe ich, da klebe ich, da nähe ich. Und alles kommt in das Buch. Fotos von Jeans, über und über mit Blumen bestickt. Blusen abgeschnitten bis über den Bauchnabel, gepresste Frühlingsblätter, gebastelte Weggefährten.
Und Haarsträhnen. Rote, braune, blonde, schwarze, grüne und pinke.
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure zu uns in die Stadt. Einige sind immer da, aber diese sind besonders. Dann ist Friseurmesse. Und ich bin ein williges Opfer für deren neusten Kreationen. Sie suchen immer Modelle. Ich stehe immer in der ersten Reihe.
Würden die Friseure im Oktober kommen, dann würde ich keine Haarsträhnen sammeln. Es ist der Mai, der kribbelt und krabbelt.
Und wenn die Friseure ihr Werk vollbracht haben, sammele ich meine Haarsträhnen vom Fußboden auf. Die roten, braunen, blonden, schwarzen, grünen und pinken. Und klebe sie ein. In mein Mai-Buch. (Martina Vaupel)

Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Sie sind wie die Ingenieure. Die alles zu wissen meinen.
Jedes Jahr danach kommen die Schneider. Dann brauchen alle neue Kleider.
Jedes Jahr im Juli feiern sie die Feste. Jeder gibt das Beste.
Jedes Jahr im August sammeln sie Reste, ist vorbei die Lust.
Und jedes Jahr im Winter suchen sie ihre Kinder. Die haben einen Traum, hängt oben im Baum.
Jedes Jahr im März ziehen sie ihn herunter. Mancher bleibt, ein anderer geht unter.
Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure. (Charlotte Vortmann)

Jedes Jahr im Mai kommen die Friseure.
Robert macht Holz. Es ist jedes Jahr dasselbe. Er hört es gerne, wenn das Holz im Kamin stöhnt. Er nennt es „gemütliches Knistern“, aber ich weiß, in den Holzscheiten sitzen die Seelen der Bäume, die diesen schmerzhaften Prozess durchmachen müssen. Es bleiben nur Aschehäufchen übrig, die in nichts mehr an stolze Bäume erinnern.
Im Frühherbst rückt Robert aus mit Schlepper, Säge, Axt und dem Benzinkanister voller Super-Benzin. Er sägt und schlägt und rückt, was das Zeug hält, und hört das Stöhnen der Bäume nicht, da er Ohrenschützer trägt. Er ist eben kein Lauscher wie ich, die im Wald so vieles von den grünen Riesen erzählt bekommt. Im Rauschen der Wipfel Tröstendes, im Knacken der Äste Heiteres, im Schwenken der Zweige Philosophisches. Ich komme zur Ruhe. Nach dem Fällen der Bäume kommt das Auf-Länge-Schneiden der Scheite. Robert hat sich eine elektrische Tischsäge gekauft, und die Scheite fallen beim Sägen alle in gleicher Größe in unsere Garage. Am meisten Spaß macht ihm das Stapeln. Er baut Mauern aus Holzscheiten, die im Herbst unser Haus umrunden und im Frühjahr nicht mehr vorhanden sind. Ohne diese Mauern ist Robert nicht glücklich. „Ich sorge vor, damit du es im Winter immer schön warm hast“, sagt er stolz, zieht seine Gummistiefel an, schärft Axt und Säge und geht los. Der Wald erschrickt jedes Mal, wenn er Roberts Schritte hört. Die Bäume hoffe, dass er an ihnen vorübergeht. Manche überlegen sogar, wie sie Robert erschlagen können.
Jedes Jahr im Mai erscheinen die Friseure im Wald. Das sind Männer in grüner Tracht, die sich Förster oder Forstwirte nennen. Sie erscheinen mit einem ganzen Trupp von Waldarbeitern. Immer haben sie ihre Schneidewerkszeuge dabei, Astscheren oder ganz große Knipser, mit denen sie Äste beseitigen, die den Weg versperren oder unschön gewachsen sind. Den Bäumen ist das nur recht. Nach dem strengen Winter müssen im Frühjahr ihre Wipfel und Zweige gezähmt werden. Die Förster nennen das „Auslichten“, und tatsächlich ist es wunderschön, wenn das Licht der Bäume im Mai durch gut frisierte Bäume fällt. Die Friseure haben sanfte Hände, ganz andere als die von Robert. Und wenn sie abends den Wald verlassen, stehen alle Bäume stramm und salutieren. (Erika Wiemer)


30. September 2014

Die neuen Segeberger Briefe

Ein Muss für SchreibpädagogInnen

Den Segeberger Kreis nenne ich – wenn mich jemand fragt, weil der Name so wenig selbsterklärend ist – gern „eine Art Berufsverband für Schreibpädagoginnen und -didaktiker“. Für mich hat der seit 1982 bestehende Kreis trotz komplett fehlender Gremien- und Lobbyarbeit seit 2002 diese Funktion.
Jedes Jahr im Frühjahr treffen sich Mitglieder und sonstige am Kreativen Schreiben Interessierte an wechselnden Orten in der Republik, um ein Thema schreibkreativ und reflektierend auszuloten. Unser Thema im April 2014 in der Evangelischen Akademie in Meißen hieß Schreiben 21 – Was ist zeitgemäß?.
Die Segeberger Briefe sind eine Zeitschrift für Kreatives Schreiben, die der Segeberger Kreis herausgibt. Das Herbstheft bereitet jeweils die letzte Tagung nach. So heißt das gestern aus der Druckerei gekommene Heft zeitgemäßes schreiben anno zweitausendvierzehn. Es beinhaltet komplette Schreibsettings aus sechs Kleingruppen, Beispieltexte aus der schreibkreativen Gruppenarbeit, Rezensionen, Seminarangebote und den Nachdruck einer Poetikvorlesung des Autors und Alice-Salomon-Poetik-Preisträgers Franz Hohler.

Segeberger Briefe – Zeitschrift für Kreatives Schreiben
ISSN 2193-4495
Nr. 89, September 2014, 180 Seiten, 22 Euro
Bestellung über Kirsten Alers


22. September 2014

Wortwechsel

In guter Gesellschaft

Als ich Mitte Juli in Berlin war, fand ich in einem Buchladen mit modernem Antiquariat sowohl ein Geburtstagsgeschenk für meinen Bruder als auch ein Buch mit dem Titel Wortwechsel (Frauenoffensive, München 2006). Das ich natürlich kaufte. Nicht zuletzt, weil ich die Autorin (Luisa Francia) schätze, aber ganz zuvorderst natürlich wegen des Titels: Wortwechsel. Im Klappentext ist zu lesen: „Wortwechsel geht der Sprache auf den Grund, zeigt ihre Bedeutung im Alltag und in der Tradition der Magie, die sich der Worte bedient, um zu rufen, zu bannen, zu binden, zu lösen und zu wandeln.“

Im zweiten Kapitel gibt es – das entdeckte ich erst nach dem Kauf – u. a. Spiele mit Worten. Bekannte Assoziations(schreib)spiele, wie z. B. das Bilden von Anagrammen aus dem eigenen Namen, setzt Luisa Francia hier in einen neuen Zusammenhang, in dem sie eine andere, vielleicht stärkere Kraft entfalten, als wenn man sie ,nur’ als niedrigschwellige Warming-ups benutzt.


15. September 2014

Kreatives Schreiben in Nordhessen

Fachtagung in Kaufungen

Eingeladen sind Lehrende und Veranstalter aus den Universitäten, der Erwachsenenbildung und freie Anbieter im Arbeitsfeld des Schreiben-Lehrens in der Region Nordhessen. Einem Überblick über die jüngere Entstehungsgeschichte des Kreativen Schreibens in Deutschland (Referentin Kirsten Alers) sollen Kleingruppenworkshops und Debatten folgen. Das Programm sieht eine Vorstellung der Schreibgruppenpädagogik ebenso vor wie die Vorstellung der Best Practice von Teilnehmenden.
Prof. Dr. Norbert Kruse, Deutschdidaktiker an der Universität Kassel, lädt nach seinem Vortrag „Kreatives Schreiben und Bewertung von Texten – ein Widerspruch?“ zur Diskussion ein.
Ausführlich kann über die Konzeptionsunterschiede in den Angeboten diskutiert werden, etwa zum Umgang mit Textkritik, zur Frage des Mitschreibens durch die Leitung oder der Problematik von Öffentlichkeit und Veröffentlichung. Außerdem kann ein Austausch darüber stattfinden, wie sich die Lehrenden für ihre Aufgabe qualifizieren, was Schreibgruppenleitungen mitbringen sollten. Nicht zuletzt kann erörtert werden, wie Kooperationen in der Region entwickelt und weitergeführt werden können.
Um 20 Uhr liest der Autor Thommie Bayer aus Die kurzen und die langen Jahre. Er berichtet zudem aus des Dichters Werkstatt.

Termin: Dienstag, 18. 11. 2014, 14-22 Uhr
Ort: Kaufungen, Tagungshaus, Kirchweg 3
Kosten. 25 Euro (inkl. Lesung)
Anmeldung: vhs Region Kassel (Kursnummer N 2116), Tel. (05 61) 10 03 16 81
Anmeldeschluss 6. 10. 2014


8. September 2014

Ein Gedicht übers Schreiben

Oder: Sollte man es nicht lieber lassen?

Niemals hätte ich dieser Dichterin dieses Gedicht zugetraut. Schon allein, weil es keine Reime hat. Habe ich nicht auch Die Judenbuche (inkl. der rezeptiven Besprechung im Deutschunterricht der Mittelstufe) in guter Erinnerung? Nun, ich werde mir wohl doch noch einmal Anderes von ihr anschauen ...

Unbeschreiblich
Dreitausend Schreiber auf Teppichen saßen
Und rührten den Bart mit der Feder;
Sie schrieben, schrieben so manchen Tag,
Dass grau geworden die Bärte,
Dass trüb geworden die Augen längst
Und längst erkrummet die Finger;
Wer aber, was sie geschrieben, liest
Und liest das, was sie geschrieben,
Der spricht: Ist es ein Schatten wohl?
Oder ist es der Schatten des Schattens?
(Annette von Droste-Hülshoff, 1797–1848)


1. September 2014

„Wenn Schreiblehrer schreiben lernen ...“

Segeberger Kreis in TextArt

Es ist ja immer wieder interessant zu beobachten, wie Neulinge die Tagungen des Segeberger Kreises erleben. Bei der Märztagung in Meißen war erstmals der Autor und Journalist Oliver Buslau zu Gast, der über seine Erfahrungen in einem Artikel in seiner Zeitschrift TextArt – Magazin für Kreatives Schreiben berichtet. Die Tagung stand unter dem Thema „Schreiben21 – Was ist zeitgemäß?“. Oliver Buslau arbeitete in der Gruppe „Postmodernes Schreiben“ mit. Über die Schilderung der Gruppenarbeit hinaus ist der Artikel mit dem Titel Wenn Schreiblehrer schreiben lernen … aber auch ein großes Porträt des Segeberger Kreises, in dem die Zielsetzung des Kreises und die Tagungs-Rituale von der Gruppen­themen­findung bis zum fröhlichen Beisammensein nicht zu kurz kommen. Der Beitrag ist Teil der aktuellen TextArt-Septemberausgabe (TextArt Magazin).

Der Vorstand des Segeberger Kreises, der als eine Art Berufsverband für SchreibpädagogInnen und ‑didaktikerInnen verstanden werden kann: vorn von links: Friederike Kohn, Ingrid von Engelhardt; Mitte von links: Kirsten Alers, Karl Günter Rammoser, Norbert Kruse; hinten: Hans Arnold Rau. Weitere Informationen: Segeberger Kreis


25. August 2014

Die Rechte des Lesers

Ein (abermaliger) Fund

Bei der Vorbereitung der Schreibwerkstätten (Beginn des Herbstsemesters: 15. September) bin ich auf ein Buch gestoßen, das seit Langem in meinem Regal steht: Daniel Pennac: Wie ein Roman (Köln 1994/2006). Pennac schreibt überaus unterhaltsam und tiefsinnig über Leseunlust und Bildungsdruck. Ich schlug das Buch also wieder einmal auf und fand (überraschenderweise erinnerte ich mich daran nicht) im Inhaltsverzeichnis (als Kapitel­überschriften) die „unantastbaren Rechte des Lesers“:

  1. Das Recht, nicht zu lesen
  2. Das Recht, Seiten zu überspringen
  3. Das Recht, ein Buch nicht zuende zu lesen
  4. Das Recht, noch einmal zu lesen
  5. Das Recht irgendwas zu lesen
  6. Das Recht auf Bovarysmus (die buchstäblich übertragbare Krankheit, den Roman als Leben zu sehen)
  7. Das Recht, überall zu lesen
  8. Das Recht herumzuschmökern
  9. Das Recht, laut zu lesen
  10. Das Recht zu schweigen

Und die Rechte von Schreibenden?
Auf ein Buch schreibend zu reagieren, einen neuen Schluss (oder Anfang) zu erfinden, sich von einem Satz zu einem eigenen Roman inspirieren zu lassen, eine Rezension und einen Tagebucheintrag zu schreiben, dem Autoreinen Brief zu schreiben, aus dem Roman ein Gedicht zu machen, etwas ganz Anderes zu schreiben ...


21. August 2014

Elfte Schreibanregung

Überschriften von Anderen

235 Einsendungen gab es zum 5. Nordhessischen Autorenpreis (Titel: „Himmel. Hölle. Heimatkunde.“). Ich habe die vorher anonymisierten Texte alle in den letzten fünf Wochen gelesen. Und erlaube mir, meine 17 Überschriftenfavoriten als Schreibanregung zu geben.
Variante A: Lassen Sie sich von einer Überschrift zu einem eigenen Text inspirieren.
Variante B: Montieren Sie alle Überschriften in einen Text.

Dornröschen 2.0 | Keinort | Landschaft mit Sündenfall | Kleines Waldstück mit Holzweg und Lichtung | Rapstage | Mein Stuhl, meine Katze, meine Farbe auf der Wand | 500 m² Heimat | Alles im Fluss, sagst du | Grenzebach | Im Westen was Neues | Glühende Landschaften | Halbjahre entfernt | Gestern ist morgen nicht mehr | keine Heimat überall | Des Sichelmondes starres Gähnen | Wolfhagen. Ein Versuch | Zehn Versuche, Mara zu besuchen


28. Juli 2014

Zehnte Schreibanregung

Einsilbig schreiben

Die oulipistischen Einschränkungen gehören zu meinen Lieblingsschreibaufgaben. Nicht zuletzt fordern sie dazu heraus, zwingen eine/n geradezu dazu, einmal vom üblichen Schreibstil, der einfach so immer wieder die eigenen Texte beeinflusst, abzuweichen. Sich einmal beim Schreiben anders zu erleben.
Meine eigene Lieblingseinschränkung zurzeit ist (und das ist die Schreibanregung): Schreib einen Text, der ausschließlich aus einsilbigen Wörtern besteht. (Kleiner Tipp: Die 2. oder 3. Person Singular sind gut geeignet.)

Beispiel: Du willst es doch auch
Du willst es doch auch. Du, das weiß ich. Komm, sei kein Frosch, komm, zier dich nicht so. Ich weiß doch, dass du das auch willst. Da ist dein Blick, der mir das sagt, da ist dein Herz, das so laut klopft. Los jetzt, es ist Zeit, du bist doch sonst nicht so. Das weiß ich von Tom, der hat – oh, das weißt du ja selbst. Was ist denn? Ich bin wohl nicht so gut! Was hat denn Tom und was fehlt mir? Komm, sag schon! Mensch, mach es nicht so zäh, mach es mir doch nicht so schwer. Ich weiß doch, dass da was ist. Dass das nicht nur in mir ist. Und so scheu bist du nicht. Da war ja auch nicht nur Tom, da war schon Lars und auch Max. Komm, tu nicht so. Schau, ich will dich, du willst mich – was ist so schwer? Was muss ich noch tun? Auf die Knie? Wie, du willst nicht?! Du lügst! Ich weiß, dass du willst. Das merkt man doch. Du spielst ein Spiel mit mir. Das wird dir noch leid tun! Ja, dass du das weißt: Das wird dir noch leid tun, was du mit mir machst. Mit mir macht man das nicht. Und frau erst recht nicht. Du, du ...


19. Juli 2014

Zur Nachahmung empfohlen

Wasserfragen

Für das Foto-Text-Projekt „Blickwinkel Wasser“ (Vernissage mit Lesung am 17. 7. 2014 um 19 Uhr im Café Buch-Oase in Kassel, die Ausstellung bis zum 7. 9. 2014 zu sehen) hat Margareta Driesen sich anregen lassen von Pablo Nerudas Fragen (s. 14. Juli 2014) und monatelange Fragen an das Wasser gestellt. Mir ist nicht bekannt, ob es geantwortet hat, aber mit dem Fragenprojekt hat sie sich selbst beflügelt. Man könnte sich inspirieren lassen und beispielsweise Fragen an den Himmel (oder die Hölle ...) stellen. Hier sind die ersten zehn (es sind über 120) von Margareta Driesens Fragen.

Kann sich Wasser wundern? – Warum verbirgt sich der größte Teil des Wassers, das uns umgibt? – Was ist dem Meer näher, der Himmel oder das Land? – Wir spiegeln uns im Wasser – worin spiegelt sich das Wasser? – Vermisst das Meer die Muscheln, die ich mit mir nahm, oder vermissen die Muscheln das Meer? – Weiß das Wasser, das verdunstet, wohin es ,geht’? – Ist ein Tropfen allein einsam? – Stiehlt das Wasser seine Farben vom Himmel? – Wollen alle Sandkörner gern an den Strand? – Bemerkt das Meer etwas von meiner Ehrfurcht und Liebe zu ihm?


14. Juli 2014

Neunte Schreibanregung

Antworten auf ungewöhnliche Fragen

Der chilenische Dichter und Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda (1904–1973) erhielt sich eine besondere Fähigkeit: neugierig zu sein und zu staunen. Aus dieser Fähigkeit heraus entwickelte er hunderte außerordentlicher Fragen, die im Buch der Fragen (The Book of Questions – nur noch auf Spanisch und Englisch erhältlich) veröffentlicht sind. Viele GrundschulpädagogInnen haben bereits mit den Fragen Nerudas gearbeitet, davon berichtet u. a. das Buch Schreibspielräume von Eva-Maria Kohl. Ich habe für meine Schreib­gruppen­arbeit – die vorrangig mit Erwachsenen stattfindet – zahlreiche Fragen übersetzt und möchte als Schreibanregung fünf Fragen veröffentlichen, denn die Magie der Fantasie zu spüren, sich in sie hineinfallen zu lassen, das sollte nicht nur Sache der Kinder sein:

  • Wer schrie vor Freude, als das Blau geboren wurde?
  • Warum lehrt man die Hubschrauber nicht, Honig aus der Sonne zu saugen?
  • Woher kommt die Wolke mit ihren schwarzen Säcken voller Tränen?
  • Wohin gehen die geträumten Dinge?
  • Warum fragen mich die Wellen die gleichen Fragen, die ich ihnen stelle?


9. Juli 2014

Blickwinkel Wasser – ein Foto-Text-Projekt

Ausstellung und Lesung im Café Buch-Oase

Wasser – Quelle, Lebensraum, Nahrung, Energie, Bedrohung. Wasser – Fließen, Verdampfen, Erstarren. Wasser – was für ein Thema! Seit Sommer 2013 arbeitet eine Gruppe von Fotografierenden unter Leitung der Kaufunger Künstlerin Sabine Große zum Thema „Blickwinkel Wasser“. Anfang 2014 kamen noch einmal neue Aspekte hinzu durch die Kooperation mit der Schreibwerkstatt Kaufungen. Angeleitet durch mich texteten Schreibende zu ausgesuchten Fotos, sie eröffneten durch ihre Wassertexte aber auch für die Fotografierenden neue Blickwinkel. Es entstanden fotografische und textliche Eindrücke von Fluss- und Bachläufen, vom Wasser als Energiespender, als Ort der Erholung und Faszination, als fantasieanregendes sowie bedrohliches und bedrohtes Element. Die rund 60 fotografischen Umsetzungen, die einen Spannungsbogen von dokumentarischen bis zu experimentell-abstrahierenden Positionen zeigen, erfolgten als digitale Fine-Art-Prints in Schwarzweiß. Die Fotos werden ergänzt durch Wort-Bild-Kompositionen. Und in etwa 40 Prosa- und Lyriktexten manifestiert sich tiefes biografisches und fiktionales Eintauchen in die Mikro- und Makrowelt unserer Lebensgrundlage. Am 17. Juli laden die beiden Initiatorinnen und 26 Kursteilnehmende zur Ausstellungseröffnung mit Lesung ins Kasseler Café Buch-Oase ein.

Blickwinkel Wasser  |  Ausstellungseröffnung mit Lesung
17. Juli 2014, 19 Uhr, Café Buch-Oase, Germaniastraße 14, Kassel
zu sehen bis 7. September 2014, Di–Sa 12–19 Uhr, So 10–19 Uhr


7. Juli 2014

Achte Schreibanregung: Tabu 1

Schlangengedicht nach Meret Oppenheim

1974 schrieb Meret Oppenheim ihr 2. Schlangegedicht nach einer oulipistisch zu nennenden selbst gestellten Aufgabe bzw. nach einem selbst auferlegten Tabu: Jedes Wort musste mit dem letzten Buchstaben des vorhergehenden Wortes beginnen.

Beginnen Sie mit irgendeinem Wort, zum Beispiel mit dem Wort „Wenn“ – das nächste Wort müsste dann mit einem N beginnen, also zum Beispiel „Wenn niemand“, das wiederum nächste Wort müsste nun mit einem D beginnen ...


30. Juni 2014

Siebte Schreibanregung (Ritas* Lieblingsübungen 3)

Anfangssatz aus einem Buch

Altbekannt und in vielen Variationen vorkommend in Schreibwerkstätten und doch immer wieder anregend: Man nehme einen Satz, mit dem ein (bis dato nicht gelesenes) Buch beginnt, als Anfangssatz eines eigenen Textes.
Ich schlage heute zwei Sätze vor aus zwei Büchern (deren Titel ich hier noch nicht verrate), die ich im Monat Juni gelesen habe:

– „Wir waren bei den Wochenendeinkäufen im Supermarkt.“ (Yasmina Reza)

– „An jenem Tag fuhr ich nach dem Termin in der Radiologie mit dem Fahrrad nach Hause.“ (David Servan-Schreiber)


29. Juni 2014

Flow

Eine Entdeckung

Nicht der Flow an und für sich ist keine neue Entdeckung. Beim Schreiben, speziell beim Automatischen Schreiben (écriture automatique) verspüre ich ihn, ich gerate schnell in einen rauschartigen Zustand (meine ehemaligen Schreibschüler im Jugenddrogenprojekt Willings­hausen-Leimbach haben mich immer gefragt, was ich denn genommen hätte, wenn sie meine im Flow geschriebenen Texte zu hören bekamen), aber dazu mehr an anderer Stelle. Ich entdeckte letzten Samstag in einer Berliner Bahnhofsbuchhandlung die Zeitschrift Flow.
Flow – nun ja, Verlag Gruner+Jahr: ein bisschen Brigitte, ein bisschen schöner wohnen, ein bisschen Esoterik, ein bisschen Lifestyle, das alles durchaus sympathisch aufgemacht für die Generation Y – und darin (Nummer 3/2014) ein herausnehmbares Schreibheft mit 30 Fragen für „30 Tage schreiben, denken und zu sich finden“, denn, so der Autor und Mottogeber des einleitenden Textes Rutger Kopland (1934–2012): „Schreiben heißt finden, was in dir lebt.“
Und da ich alles erst einmal wertschätze, was Menschen ins Schreiben, ins sich ausdrückende, sich reflektierende, denkende und spinnende Schreiben bringt, empfehle ich also diese Ausgabe von Flow.


25. Juni 2014

Ich bin drin!

Berliner Anthologie erscheint heute

„Schreiben? Schreiben! Oder: Woher kommt die Lust am Schreiben?“ – so der Titel meines Essays in der Berliner Anthologie, die heute erscheint.
Das ist ja nun nicht meine erste Veröffentlichung zum Thema Schreiben, aber vielleicht die beste, auf jeden Fall die persönlichste. Ich fühle mich geehrt und bedanke mich (auch an dieser Stelle) bei Herausgeber Andreas Dalberg für seine ermutigend-kritische Begleitung und für die Einladung, zur Präsentation am 10. Juli mein Essay zu lesen.

Klappentext:
Hier wird das lyrische Ich verloren und wiedergefunden, der Weg in das Innere des Schreibens vermessen und der Fabulierlust auf den biographischen Grund gegangen: In den abwechslungsreichen Essays der ersten Berliner Anthologie, die mal feuilletonistisch oder literarisch, wissenschaftlich oder philosophisch sind, berichten die Autorinnen und Autoren von ihren gedanklichen Spaziergängen durch die Schreiblandschaften. Sie suchen Antworten auf Fragen, die sich im Lauf jeder Schreibbiographie stellen: Ist Schreiben nur das Zuhause für professionelle Dichter? Ist die Neurose der Protagonistin auch die eigene? Wie lässt sich der Punk-Spirit im Schreiben (wieder)entdecken? So unterschiedlich die Annäherungen, so verschieden die Perspektiven. Denn Schreiben mag vieles sein, eines aber sicher nicht: auf einen simplen Begriff zu bringen. Die Berliner Anthologie spiegelt diesen Facettenreichtum heutiger Schreibräume und spricht daher ebenso von Wortfiguren und Schreibwerkstätten wie von Schriftstellerei.

Andreas Dalberg (Hg.): Berliner Anthologie. Essays rund um das Schreiben, Roos & Reiter, Berlin 2014, ISBN 9783944283043, 172 Seiten, Paperback, 12,80 €

Buchpräsentation: Donnerstag, 10. Juli 2014, 20 Uhr im ,Naumann 3’ (Naumannstraße 3, Berlin-Schöneberg, S-Bahnhof Julius-Leber-Brücke), Eintritt frei


22. Juni 2014

Sechste Schreibanregung

Himmel. Hölle. Heimatkunde.

Der Countdown läuft. Die ,Odenwaldhölle’ ging 2013 durch die Medien. Nein, nicht die Odenwaldschule, die auch, ja, aber die medial erzeugte ,Odenwaldhölle’ hat uns, den Vorstand des Vereins Nordhessischen Autorenpreis e. V., zum Titel unseres 5. Literaturwettbewerbs angeregt: HIMMEL. HÖLLE. HEIMATKUNDE.
Jana Ißleib, Carmen Weidemann und ich freuen uns über Prosa-, Lyrik- und experimentelle Texte, die bis zum 17. Juli 2014 eingereicht werden können. Die Ausschreibund mit allen Bedingungen findet man hier: Nordhessischer Autorenpreis.


22. Juni 2014

Abänderung

Voltaire und das Schreiben

Über Literatur und Aufklärung lässt sich nicht reden, ohne auch über Voltaire zu reden. Die Aufklärung aber soll hier nicht Thema sein, sondern Voltaires viel zitierter, auf Postkarten und in Schreibratgebern zu findender Satz. „Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur nicht die langweilige.“

Ich folge dieser Aussage nicht, sondern sage:

Welches Schreibprodukt – denn um dieses geht es Herrn Voltaire und all seinen den Satz zitierenden Fans wohl – langweilt, ist auf Seiten der Lesenden zunächst einmal eine Frage des Geschmacks, des persönlichen Hintergrunds und des Interesses am Gegenstand. Wer also sollte allgemeingültig entscheiden, welcher Text langweilt und welcher nicht?
Auf Seiten der Schreibenden gelten die gleichen Fragen – und (mindestens) zwei weitere kommen hinzu: 1. Was passiert, wenn ich mir verbiete, langweilig zu schreiben? Die Antwort: Ich laufe Gefahr, mich zu blockieren. 2. Warum soll ich nicht langweilig schreiben dürfen? Die Antwort: Ich darf schreiben, wie ich es für richtig halte, denn die Kategorie Langeweile hat für den Akt des Schreibens keine Relevanz.
Und oh, wie entlastend kann es sein, langweilig zu schreiben, einfach zu schreiben, so schön langweilig – und plötzlich macht es klick und ich bin im Flow. Vielleicht schreibe ich immer noch langweilig, aber das ist in diesem Zustand wirklich vollkommen irrelevant.


21. Juni 2014

Fünfte Schreibanregung

(Autobiografischer) Impuls

An einem Abend letzte Woche zappte ich durch die Fernsehkanäle und landete bei einem Krimi, an dessen Titel und Thema ich mich nicht erinnere, und an die DarstellerInnen erinnere ich mich auch nicht. Nur an einen Satz, den der Kommissar kurz vor Ende sagte – und den ich hier als Schreibanregung geben möchte. Vielleicht inspiriert er zu einer Selbstreflexion, vielleicht zu Fiktion oder ...: „Die Dinge, die dir heute am meisten zu schaffen machen, sind die, bei denen du eine Wahl hattest.“


17. Juni 2014

Wenn Studieren glücklich macht

Bettina Völter beim 2. Alumni-Treffen

„Der Studiengang hier ist möglicherweise der einzige an dieser Hochschule, der glücklich macht.“ Nicht immer, nicht jeden Tag, aber grundsätzlich kann man Bettina Völter, Mitglied des Rektorats der Alice Salomon Hochschule, nur zustimmen. Der Studiengang, der ihrer Meinung nach glücklich macht, ist ,meiner’: der Masterstudiengang Biografisches und Kreatives Schreiben. Vor fast zehn Jahren ist er entstanden, zum 13. Juni hatte die Studiengangsleitung, Prof. Dr. Ingrid Kollak, zum 2. Alumni-Treffen eingeladen, zu dem sich aus sieben der acht bisherigen Jahrgänge ehemalige und noch Studierende einfanden. Außerdem folgten mehrere DozentInnen sowie zwei der GründerInnen, Lutz von Werder und Barbara Schulte-Steinicke, der Einladung. Und noch mehr Feines hatte Bettina Völter gefunden: Bemerkenswert an diesem Studiengang sei, dass man die Möglichkeit habe, Studium und eigene Erfahrungen ganz eng miteinander zu verknüpfen, und im Schreiben selbst zu erleben, wie „ungeborene Ideen gehoben“ werden könnten. Zudem sei der Studiengang nicht etwa ein Anachronismus, sondern ein „Gegengewicht“ zu dem, wie das Schreiben sich medial und in seiner Funktion verändert habe. Ich bin – als Dozentin für Schreibgruppenpädagogik und -dynamik – gern Teil dieses Gegengewichts.
Weitere Informationen: Alice Salomon Hochschule Berlin.


16. Juni 2014

Museumsinsel-Fundstück

Am Kupfergraben abgeschrieben

Auf Betonbegrenzungsblöcke gepinselt von PalmArtPress, Zitate, halb verdeckt von den Bücherflohmarktbeschickern. Am Kupfergraben (Berlin, gegenüber der Museumsinsel), nicht gezählt, wie viele, zwei abgeschrieben:

„Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.“ (Philippe Dijan)

„Wer zur Quelle gehen kann, gehe nicht zum Wassertopf.“ (Leonardo da Vinci)


12. Juni 2014

(Wieder-)Erkennen beim Lesen

Die Eleganz des Igels

Dieses Buch empfahlen mir schon Imke und Veronika und nun las ich es. Der Vergleich mit Harold and Maud – nun gut, ein Werbetrick. Paloma, ein zwölfjähriges, hochintelligentes Mädchen aus einer wohlhabenden Familie, das sich an ihrem nächsten Geburtstag das Leben nehmen will, und die sich heimlich seit Jahrzehnten selbst bildende Concierge Renée im gleichen Haus in der Rue de Grenelle 7 in Paris schreiben Tagebuch. Aus ihren Tagebucheinträgen besteht das Buch. Erst auf den letzten Seiten kommt es zu einer (erkennenden) Begegnung der beiden. Ich zitiere jeweils eine Passage, die etwas mit Schreiben bzw. Sprache zu tun haben:

Renée: „So ist es auch mit gar manchen glücklichen Momenten unseres Lebens. Von der Las der Entscheidung und der Absicht befreit, unterwegs auf unseren inneren Meeren, wohnen wir unseren verschiedenen Bewegungen bei wie den Verrichtungen eines anderen und bewundern doch deren unbeabsichtigte Vortrefflichkeit. Welchen anderen Grund könnte ich haben, dies hier zu schreiben, dieses lächerliche Tagebuch einer alternden Concierge, wenn das Schreiben nicht selbst etwas von der Kunst des Mähens hätte? Wenn die Zeilen zu ihren eigenen Demiurgen werden, wenn ich wie durch wunderbaren Zufall miterlebe, wie auf dem Papier Sätze entstehen, die sich meinem Willen entziehen und, indem sie ohne mein Zutun auf dem Blatt Niederschlag finden, mich lehren, was ich will, ohne dass ich wusste oder glaubte, es zu wollen, genieße ich diese schmerzlose Geburt, diese nicht bewusst herbeigeführte Selbstverständlichkeit, genieße ich es mit dem Glück aufrichtigen Staunens, ohne Anstrengung und ohne Gewissheit einer Feder zu folgen, die mich führt und mich trägt.“ (S. 134 f.)

Paloma: „Ich persönlich glaube, dass die Grammatik einen Zugang zur Schönheit bietet. Wenn man spricht, wenn man schreibt oder wenn man liest, spürt man genau, ob man einen schönen Satz formuliert hat oder ob man dabei ist, einen schönen Satz zu lesen. Wir sind fähig, eine schöne Wendung oder einen schönen Stil zu erkennen. Doch wenn man sich mit Grammatik befasst, hat man Zugang zu einer anderen Dimension der Schönheit der Sprache. Sich mit Grammatik zu befassen, das bedeutet, die Sprache zu enthülsen, zu schauen, wie sie gemacht ist, sie gewissermaßen ganz nackt zu sehen. Und genau das ist das Wunderbare, denn man sagt sich: ,Wie gut sie gemacht ist, wie gut ist sie gebaut!’, ,Wie solid, sinnig, reich und subtil sie ist!’. Nur schon zu wissen, dass es mehrere Wortarten gibt und dass man sie kennen muss, um daraus auf ihren Gebrauch und ihre mögliche Vereinbarkeit zu schließen, entzückt mich.“ (S. 174)

Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, Paris 2006, München 2009/2010


11. Juni 2014

Museum der Sprachen der Welt

Berliner Initiative organisiert Lesung mit Claus Mischon

Claus Mischon, mein ehemaliger Kollege an der Alice-Salomon-Hochschule (und weiterhin engagierter Geschäftsführer des Instituts für Kreatives Schreiben in Berlin) ist Pfälzer. Das hört man – und das will er hören lassen. Man kann ihm zuhören:
„Das Pfälzische: Phonetik, Grammatik, ,fremde’ Einflüsse, Mundartdichtung“ 9. Salon der Sprachen in der Galerie Wedding am Dienstag, 8. Juli 2014, 19 Uhr, Altes Rathaus Wedding, Müllerstraße 146, Erdgeschoss, U-Bhf. Leopoldplatz Organisiert wird die Veranstaltung von der mir bis dato unbekannten und mich überaus neugierig machenden Initiative für ein Museum der Sprachen der Welt (Prof. Dr. Gerd Koch, Prof. Dr. Jürgen Nowak, Dipl.-Kaufmann Günter Thauer). Mehr unter Linguae Mundi.


9. Juni 2014

Das Böse in der Literatur

Ilija Trojanow zu Besuch in Kassel

Jedes Jahr vergibt die Universität Kassel an einen zeitgenössischen Schriftsteller die Brüder-Grimm-Professur. 2014 war Ilija Trojanow eingeladen, eine Vorlesung und ein Seminar zu halten sowie aus seinem Werk zu lesen. „Das Böse in der Literatur“ – der Titel des Seminars hatte mich nicht besonders gereizt, um so erstaunlicher, wie der frühe Abend des 3. Juni in mir nachhallt.
Trojanows These: In der zeitgenössischen Literatur werde nicht die zentrale Frage gestellt, wie der Mensch ins Böse abgleitet. Wie es möglich ist, dass Menschen (wie in den totalitären Gesellschaftsordnungen des 20. Jahrhunderts massenhaft geschehen) FreundInnen, NachbarInnen, KollegInnen und Familienmitglieder sowie vom Staat als nicht geduldet definierte Personen denunzieren. Ob es heute nicht auch möglich ist. Ob ich nicht auch ... Das Abgleiten in den Sog des sogenannten Bösen werde in der Literatur nicht dargestellt. Es werde totalitären Regimes oder AusnahmetäterInnen in die Schuhe geschoben – die Möglichkeit des individuell und kollektiv sich entwickelnden Bösen (wie es sich in den Romanen des 19. Jahrhunderts, etwa bei Dostojewski oder Dickens manifestiere) sei (literarisch) abgeschafft.
Einen die These widerlegenden Einwurf aus dem Publikum ließ Trojanow gelten: Landgericht von Ursula Krechel (Deutscher Buchpreis 2012).
Er selbst versuche in seinem Schreiben die Fragen zu umkreisen, auf die die Moderne keine Antwort habe – wozu sonst lohne es sich, die eigene Lebenszeit zu geben?! Als eine mögliche Lösung für eine zeitgemäße literarisch-ästhetische Gestaltung des Bösen – der systemischen Zwänge und der individuellen Bereitschaft, sich diesen zu beugen – sieht er im polyphonen, collagierenden Arbeiten. Er mischt Dokumente mit Literarisierungen mit dem Ziel, dem Leser den Boden unter den Füßen wegzuziehen, weil dieser nicht mehr klar erkennen kann, was Gut und was Böse ist, um dann herausgefordert zu sein, eine Lösung für sich zu finden: Wie will ich handeln, was will ich tun und was nicht?
Ja, wozu auch sonst schreibe ich? Ja, wozu auch sonst lese ich?
Drei Leseanregungen möchte ich geben:
1. Agota Kristof: Das große Heft (sich während des 2. Weltkriegs physisch und psychisch abhärtende Jungen dokumentieren ihre Handlungen emotionslos-dokumentarisch in einem Heft), Hamburg 1987
2. Ursula Hegi: Die Andere (wie sich während der Nazi-Zeit das Denunziantentum in eine kleine Stadt im Rheinland einschleicht, erzählt aus Sicht einer kleinwüchsigen Frau), Reinbek 1998
3. Juli Zeh: Spieltrieb (wie Jugendliche unter sozialem Druck und in Parallelwelten, in denen scheinbar keine Tabus herrschen, in kalte und gleichsam verzweifelte Inhumanität abgleiten), Frankfurt/M. 2004


4. Juni 2014

Lieblingszitate einsenden

von Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner

Ich musste nicht lange suchen ... Es geht um Folgendes (ich zitiere einen Auszug aus einer Pressemitteilung von Dr. Friedrich Block, Kurator der Brückner-Kühner-Stiftung):
Vor 30 Jahren wurde die Stiftung Brückner-Kühner vom Kasseler Schriftstellerpaar Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner ins Leben gerufen. Die Stiftung vergibt seither jährlich gemeinsam mit der Stadt Kassel den „Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor“. Zudem wirkt sie als Literaturzentrum vom Wohnhaus der beiden Schriftsteller aus, das auch als Museum zugänglich ist. Aus Anlass des Jubiläums ruft die Stiftung ihre Freunde dazu auf, sich an einem literarischen Projekt zu beteiligen: Senden Sie uns für Sie bedeutsame Zitate aus dem Werk von Christine Brückner und Otto Heinrich Kühner. Die kurzen Zitate sollten möglichst nur einen Satz oder ein bis zwei Verse umfassen. Dann jedenfalls besteht die Möglichkeit, dass sie für eine Präsentation in der Kasseler Innenstadt ausgewählt werden: Ende September werden die Zitate auf den Kandelaber-Flächen in Kassels Fußgängerzone, der Oberen Königsstraße, zu sehen und zu lesen sein. Unter den Einsendungen ermitteln wir per Los fünf Personen, die zu einem exklusiven Literaturabend mit Lesung, Wein und Imbiss ins Dichterhaus eingeladen werden, ausgerichtet vom Freundeskreis Brückner-Kühner.
Einsendungen (mit Quellenangabe) bis 15. Juni 2014 per E-Mail, Brief oder Fax an: Stiftung Brückner-Kühner, Hans-Böckler-Straße 5, 34121 Kassel, Fax: (05 61) 2 88 80 45, E-Mail: block@brueckner-kuehner.de.

Meine Lieblingszitate:
Christine Brückner: Wenn du geredet hättest, Desdemona. Ungehaltene Reden ungehaltener Frauen, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1983
Darin fasziniert mich besonders die „Rede gegen die Wände der Stammheimer Zelle“, die Christine Brückner Gudrun Ensslin in den Mund gelegt hat, daraus folgende Zitate: 1. „Illusionshaft ist Mord!“ (S. 110); 2. „Anders kriegt ihr mich nicht“ (S. 110); 3. „Ich will nicht in eurem Strom schwimmen, ich will nicht gegen den Strom schwimmen, ich bin eine Sperrmauer im Strom der Zeit!“ (S. 114)

Otto Heinrich Kühner: Pummerer und andere skurrile Verse, R. Piper & Co. Verlag, München 1968
Darin faszinieren mich besonders die Verse, die sich mit Sprache befassen, daraus folgendes Gedicht (S. 18):

Orthographie

In einem Brief an den Obersten v. Schratt in G.
Schrieb Pummerer das Wort Miene ohne ,e’
Und hatte den Fehler erst erkannt,
Als er den Brief schon abgesandt.
In G. gab es dann auch – er las davon –
Am Tage darauf eine Detonation.

Ein kleines ,e’, dachte er, ein Buchstabe bloß,
Und die Folgen dann gleich so grenzenlos!
Seither glaubt Pummerer irgendwie
An die Wichtigkeit der Orthographie.


1. Juni 2014

Wiedergefunden

Zwei Lieblingsliebesgedichte

Das erste muss laut gelesen werden – es ist so voller Klang! Und das zweite: so einfach – einfach genießen!

Ein alter Tibetteppich
(Else Lasker-Schüler)

Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.

Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füße ruhen auf der Kostbarkeit,
Maschentausendabertausendweit.

Süßer Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,
Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange buntgeknüpfte Zeiten schon?

wie ich dich nenne
wenn ich an dich denke
und du nicht da bist

(Friederike Mayröcker

meine Walderdbeere
meine Zuckerechse
meine Trosttüte
mein Seidenspinner
mein Sorgenschreck
meine Aurelia
meine Schotterblume
mein Schlummerkind
meine Morgenhand
mein Vielvergesser
mein Fensterkreuz
mein Mondverstecker
mein Silberstab
mein Abendschein
mein Sonnenfaden
mein Rüsselhase
mein Hirschenkopf
meine Hasenpfote
mein Treppenfrosch
mein Lichterkranz
mein Frühlingsdieb
mein Zittergaul
meine Silberschnecke
mein Tintenfasz
mein Besenfuchs
mein Bäumefäller
mein Sturmausreiszer
mein Bärenheger
mein Zähnezeiger
mein Pferdeohr
mein Praterbaum
mein Ringelhorn
meine Affentasche
meine Winterwende
meine Artischocke
meine Mitternacht
mein Rückwärtszähler

(da capo!)


29. Mai 2014

Vierte Schreibanregung

Anapher- oder serielle Texte (2)

Zurzeit leite ich eine achtstündige Wörterwerkstatt im Kasseler Friedrichsgymnasium, in die sich 15 Mädchen und Jungen aus dem Jahrgang 6 eingewählt haben. Am ersten Tag haben wir außer Akrostichons und Kurzkrimis zu dritt auch Anapher-Texte geschrieben (s. auch Dritte Schreibanregung vom 19. Mai). Hier meine Vorgaben:
Schreib einen Anapher-Text, bei dem jede Zeile mit „Manchmal ...“ oder mit „Und ich sage ...“ beginnt. Es sollen mindestens sechs Zeilen sein, den Schluss kann eine besondere Zeile bilden, die dann anders beginnt (Thore nannte sie Moralzeile).
Die Jugendlichen haben fast alle andere Anfänge gewählt als die von mir vorgeschlagenen, z. B. „Heute“, „Morgen“, „Der Tod“, „Leben ist“ oder „Es gibt Leute ...“.
Interessant wird diese Art zu schreiben, wenn man beim Schreiben der Anapher-Texte konsequent und bewusst über den Punkt hinausschreibt, am dem man stockt oder nur noch in Wiederholungen denkt oder sich blöd und das gerade praktizierte Schreiben überflüssig findet – um dann zu neuen Schreibhandlungserlebnissen zu kommen und möglicherweise auch zu neuen Inhalten.
Ein Buchtipp: Florian Neuner: Satzteillager, Klever Verlag, Wien 2011. 146 Seiten; geb.; 16,90 €, ISBN 978-3-902665-34-8


26. Mai 2014

Filme – Liste 1

zum Thema Schreiben, Geschichten erfinden, Lesen

Eine kleine Auswahl von Filmen, in denen Bücher, Geschichten, Gedichte, Lesen, Erzählen und last but not least Schreiben eine Rolle spielen (ich freue mich über Ergänzungen):

  • Danny DeVito: Schmeiß die Mama aus dem Zug, 1987 (Eingangsszene: der Kampf des Autors mit dem ersten Satz)
  • Vadim Jendreyko: Die Frau mit den fünf Elefanten, 2009 (Dokumentarfilm über Svetlana Geier, die Dostojewskis Romane ins Deutsche übersetzt und u. a. dafür gesorgt hat, Schuld und Sühne in Verbrechen und Strafe umtituliert wurde)
  • Scott Kalvert: Jim Carroll – In den Straßen von New York, 1995 (weg von Drogen durch Schreiben, mit Leonardo DiCaprio)
  • Sydney Pollack: Jenseits von Afrika, 1985 (Meryl Streep als Karen Blixen erzählt mitreißend eine Geschichte, die sie aus dem Stegreif entwickelt)
  • Rob Reiner: Das Beste kommt zum Schluss, 2007 (ein Todkranker schreibt eine ,Löffelliste’, auf der steht, was er noch tun will, bevor er den Löffel abgibt, mit Morgan Freeman und Jack Nicholson)
  • Éric-Emmanuel Schmitt: Odette Toulemonde, 2007 (Lesen als Eskapismus aus dem Alltag)
  • John N. Smith: Dangerous Minds, 1995 (Lehrerin bringt vorwiegend schwarze Unterschicht-SchülerInnen über Song-Texte von Bob Dylan zur Auseinandersetzung mit Gedichten und sich selbst)
  • Gus van Sant: Forrester – Gefunden!, 2000 (alter schreibblockierter Schriftsteller, gespielt von Sean Connery, unterstützt jungen Schwarzen beim Schreiben)
  • Peter Weir: Club der toten Dichter, 1989 (Umgang mit dem Lesekanon)


24. Mai 2014

Bücher – Liste 1

zum Thema Schreiben, Schreibwerkstätten

Bücher, in denen Lesen eine Rolle spielt, gibt es zahlreiche. Die unendliche Geschichte (Michael Ende) und Das verborgene Wort (Ulla Hahn) seien hier als berühmte Beispiele genannt. Aber Bücher, in denen Schreiben, womöglich gar Kreatives Schreiben oder Schreibwerkstätten eine Rolle spielen, sind eher selten. In meinen Regalen stehen die folgenden (ich freue mich über weitere Tipps):

  • Sharon Creech: Der beste Hund der Welt, Frankfurt/Main 2003 (Tagebuch eines Jungen, der merkt, dass auch Jungs Gedichte schreiben können)
  • Susanne Diehm: Hannahs fabelhafte Welt des Kreativen Schreibens, Milow 2013 (Krimi und der Weg zum Schreiben)
  • Erin Gruwell & Freedom Writers: Freedom Writers, Berlin 2007 (eine Lehrerin in Long Beach bringt ihre vorwiegend schwarzen ,Risiko-SchülerInnen’ zur Auseinandersetzung mit ihrem Leben, u. a. indem sie sie das Tagebuch der Anne Frank lesen lässt; auch verfilmt mit Hilary Swank)
  • Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur, Berlin 2013 (Tagebuch parallel zum Sterben am Krebs, in dem auch das Schreiben an sich reflektiert wird; stellvertretend empfohlen für Schreibprozesse begleitende Tagebücher/Journale von SchriftstellerInnen)
  • Siri Hustvedt: Der Sommer ohne Männer, Reinbek 2009 (auf einer Ebene die Geschichte eines Sommerschreibkurses für Mädchen)
  • Agota Kristof: Das große Heft, Berlin 1987 (grausig emotionsloses Dokumentieren des Lebens durch zwei Jungen Mitte des 20. Jahrhunderts, Folgebände: Der Beweis; Die dritte Lüge)
  • Marlen Haushofer: Die Wand, Hildeheim 1968 (Schreiben, um das Letzter-Mensch-Sein zu verkraften; auch verfilmt mit Martina Gedeck)
  • Siegfried Lenz: Deutschstunde, Hamburg 1968 (ein Aufsatz als Strafarbeit wird zur Auseinandersetzung mit dem Leben während der NS-Zeit)
  • Henning Mankell: Ich sterbe, aber die Erinnerung lebt, München 2006 (über das Schreiben von Memory-Books AIDS-kranker, sterbender Eltern in Uganda)
  • Antonio Skármeta: Der Aufsatz, Hamburg 2003 (Kinderbuch über die Schwierigkeit des Aufsatzschreibens in der Militärdiktatur in Chile)
  • Denis Thériault: Siebzehn Silben Ewigkeit, München 2011 (Liebesroman rund ums Haiku-Schreiben)
  • Jincy Willet: Die Dramaturgie des Todes, Reinbek 2009 (spannender Krimi mit vielschichtig aufgefächerten Schreibwerkstattstunden)

  • 19. Mai 2014

    Dritte Schreibanregung (Ritas* Lieblingsübungen 2)

    Zurückgehen: Ich erinnere mich ...

    Geh auf den Dachboden oder in den Keller, öffne eine Kiste, die dort schon lange steht, am besten, du weißt gar nicht mehr, was sich in dieser befindet – nimm einen Gegenstand aus der Kiste und schreib.
    Es gibt die Möglichkeit, einfach nur den Gegenstand (z. B. ein Memorie-Spiel oder ein Brief oder ein Kastanienfigürchen) als Impuls zu nehmen und sich schreibend zu erinnern.
    Es gibt aber auch die Möglichkeit, einen seriellen Text zu verfassen. Das geht so: Wieder ist der Gegenstand der Impuls, und dann beginnst du jeden Satz mit „Ich erinnere mich ...“. (Das literarische Stilmittel, wenn jeder Satz mit dem gleichen Wort oder der gleichen Wortgruppe beginnt, nennt man Anapher.)


    17. Mai 2014

    Frei nach Laotse

    Fund auf Sylt

    „Jeder Anlauf beginnt mit einem Rückschritt und jeder Weg mit einem ersten Schritt.“
    (gefunden an der Wand eines Tagungsraumes im Hamburger Jugenderholungsheim Puan Klent auf Sylt/OT Rantum)


    14. Mai 2014

    Himmelsstürmerinnen-Lesung

    Frauenfrühstück in Röhrenfurth

    Es war still im Saal, kaum geatmet haben die 50 Frauen, so schien es uns beim Lesen. Das ist ein Geschenk, wenn Zuhörende mitgehen, mitlachen, mitseufzen ... Die Frauenschreibwerkstatt war eingeladen, am 10. Mai zum einmal im Jahr stattfindenden Frauenfrühstück in der evangelischen Kirchengemeinde Röhrenfurth (Melsungen) einen kulturellen Beitrag zu leisten.
    Besonders berührt waren die Zuhörerinnen von den Texten, die sich in fiktionaler Form mit der 900-jährigen Geschichte des nahe gelegenen Klosters Breitenau (Guxhagen) auseinandersetzten – wissen doch alle in der Region, dass das Kloster auch KZ war, auch Mädchenerziehungsheim mit Schwarzer Pädagogik, auch psychiatrische Anstalt.
    Gedenkstätte Breitenau | Regiowiki HNA

    Gelesen haben KIrsten Alers, Monika Ehrhardt-Müller, Gabi Willius und Dorte Schätzle aus der Mittwochs­abends­schreib­werkstatt.


    13. Mai 2014

    Nordhessischer Autorenpreis

    Neues Vorstandsmitglied gewählt

    Kennen Sie diese wunderbar auf nostalgisch kolorierte Karte mit dem Spruch „Ein Leben ohne Kuchen ist möglich, aber nicht sinnvoll“? Ich übersetze wie folgt: Ein Leben ohne Schreiben ist möglich, aber nicht sinnvoll. Wenn ich nicht gerade das Kreative Schreiben unterrichte, bin ich auf der Suche nach Möglichkeiten, wie ich Menschen zum Schreiben motivieren kann.
    Also habe ich 2004 Jahren gemeinsam mit meinen Kolleginnen Henrike Taupitz und Carmen Weidemann den Nordhessischen Autorenpreis erfunden – um literarisches Leben, Gegenwartliteratur und AutorInnen in Nordhessen zu fördern. Im Moment läuft der fünfte Durchgang. Man findet dazu mehr auf der Website des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V.

    Pressemitteilung
    Jana Ißleib (33) ist auf der Jahreshauptversammlung des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e.V. am 12. Mai 2014 als neues drittes Vorstandsmitglied gewählt worden. Sie ist erfahren in Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und im Organisieren von Kulturveranstaltungen und wird in den kommenden Monaten die seit fast zehn Jahren aktiven Vorständlerinnen Kirsten Alers (53) und Carmen Weidemann (48) bei der Durchführung des 5. Nordhessischen Autorenpreises unterstützen.
    Gunther Neumann hat den Vorstand nach drei Jahren Engagement aus persönlichen Gründen verlassen, er bleibt dem Verein als unterstützendes Mitglied treu.
    Zum 5. Autorenpreis können bis zum 17. Juli 2014 (Einsendeschluss) lyrische, erzählerische und experimentelle Arbeiten zum Thema „Himmel, Hölle, Heimatkunde“ eingereicht werden. Die unveröffentlichten Texte müssen in siebenfacher Ausfertigung eingehen bei: Henrike Taupitz, Uhlenhorststraße 14, 34132 Kassel

    Der neue Vorstand des Vereins Nordhessischer Autorenpreis e. V.: (von links nach rechts) Jana Ißleib, Kirsten Alers und Carmen Weidemann (Foto: Uli Ahrend | satzmanufaktur).


    12. Mai 2014

    Zweite Schreibanregung

    Shakespeare folgen

    Letzten Donnerstag (8. Mai) hatte ich das große Vergnügen, an einem Shakespeare-Schreibabend teilzunehmen, durch den meine Kollegin Carmen Weidemann die Schreibgruppe geleitete. William Shakespeare soll ca. am 23. April 1564 geboren worden sein und ist am 23. April 1616 gestorben. (Seit 1995 ist der 23. April UNESCO-Welttag des Buches.)
    Die erste Schreibanregung des Schreibabends gebe ich hier weiter: Schreib einen freien Text, inspiriert vom ersten Satz des Hamlet-Monologs: „Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage“.


    5. Mai 2014

    Einzigartig in Deutschland

    Masterstudiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“

    Mittlerweile im achten Jahrgang bildet die Alice Salomon Hochschule (Berlin) als deutschlandweit einzige Hochschule SchreibpädagogInnen (M.A.) aus. Ich vertrete im Masterstudiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“ das Fach Schreibgruppen­pädagogik und Schreibgruppendynamik – und werbe an dieser Stelle gern für diesen großartigen, sich im ständigen Wandel befindenden Studiengang.
    Ich möchte bereits praktizierende SchreibpädagogInnen einladen, mit dem Gedanken zu spielen, ihre in der Praxis erworbenen Kenntnisse wissenschaftlich und selbstreflektierend zu untermauern. Und ich möchte diejenigen Menschen einladen, die eigene schreibkreative Erfahrungen haben und sich vorstellen können, das Instrumentarium des Kreativen Schreibens in ihrem Berufsfeld zu implementieren. Mehr in der folgenden Pressemitteilung.

    Pressemitteilung
    An der Alice Salomon Hochschule Berlin startet im Oktober 2014 nunmehr zum neunten Mal der berufsbegleitende Masterstudiengang „Biografisches und Kreatives Schreiben“ (M.A.). „Mit Methoden der Biografiearbeit und des kreativen Schreibens die eigene Arbeit zu bereichern oder aus dem Arbeitsalltag auszubrechen und etwas Anderes zu machen, motiviert viele unserer Studierenden für den Masterstudiengang“, so Prof. Dr. Ingrid Kollak, wissenschaftliche Leiterin des Studiengangs. Vier Präsenzwochenenden pro Semester werden mit Methoden des E-Learning kombiniert. Neben den beiden Studienbereichen Kreatives Schreiben mit Textimpulsen aus Lyrik und Prosa und Biografisches Schreiben mit authentischen und künstlerisch-ästhetischen Reflexionen über Lebensphasen und Lebenskrisen werden schreibpädagogische Fähigkeiten vermittelt und praktisch erprobt. Untersuchungen über die Wirkung kreativen Schreibens und die Arbeit in Schreibgruppen können im Rahmen der Masterarbeit angelegt werden.
    Weitere Informationen unter: www.ash-berlin.eu/bks
    Kontakt: Telefon (030) 992 45-426


    4. Mai 2014

    Josef Haslinger zum distanzierten Lesen

    Fundstück in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen

    Anlässlich des Literarischen Frühlings in Waldeck-Frankenberg, bei dem Josef Haslinger als Lesender zu Gast war, interviewte Bettina Fraschke den Leipziger Professor für literarische Ästhetik (Deutsches Literaturinstitut Leipzig) für die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine (15. März 2014).

    Ich zitiere einen kleinen Auszug:

    Bettina Fraschke: Was können Schreibschüler bei Ihnen lernen?
    Josef Haslinger: Sie sollen herausfinden, was sie eigentlich wollen. Wir können sie mit Aufgaben stimulieren. Wir geben ihnen ein Echo. Der erste Schritt der Professionalisierung eines Autors ist, dass er den Text so liest, als wäre er von einem anderen geschrieben. Man lernt das Werkzeug Sprache besser handzuhaben. Sprache ist aber nicht nur ein Werkzeug. Ein Autor lebt auch in ihr, denn darin sind die eigenen Erinnerungen deponiert. Josef Haslinger spricht über die Arbeit mit Studierenden, die sich als AutorInnen auf dem Literaturmarkt positionieren wollen. In meinen Schreibwerkstätten versuche ich tatsächlich aber Ähnliches – auch wenn nie der Anspruch besteht, AutorInnen auszubilden. Denn erst durch die distanzierte Wahrnehmung des eigenen Textes kann jedwedes Feedback gewünscht, verstanden und produktiv reflektiert werden.


    2. Mai 2014

    Erste Schreibanregung (Ritas* Lieblingsübungen 1)

    Literatur in 5 Minuten

    Nimm dir 30 Minuten Zeit zum Schreiben. Du brauchst ein Wörterbuch oder ein Lexikon oder einen anderen Menschen und einen Wecker. Das Ziel ist, sechs Miniaturen zu schreiben, alle fünf Minuten ein neues Thema zu nehmen und diesem Impuls jeweils zu folgen, schnell zu schreiben, quasi den Stift immer in Bewegung zu halten, nicht zu überlesen, alle Regeln (Grammatik, Rechtschreibung) mal außer Acht zu lassen. Die Idee dahinter: Man kann nicht nachdenken, man hat keine Chance, das Prozedere zu durchlaufen, das man normalerweise immer durchläuft zu Schreibbeginn. Es geht darum, sich einzulassen auf das, was die Impulse anticken. Es geht nicht um fertige, gute, schöne oder ähnlich attributierte Texte, sondern um das Heben von Bildern, von Sätzen, von Schätzen aus sich selbst. Freewriting, Assoziatives Schreiben, écriture automatique sind Stichwörter, die in diesen Kontext gehören.
    Nimm dir also ein Wörterbuch oder ein Lexikon, schließ die Augen und schlag willkürlich eine Seite auf, leg den Finger auf eine Stelle – das Wort, das du getroffen hast, ist dein erster Impuls. Nach fünf Minuten Schreiben wiederholst du das Ganze. Du kannst dir auch alle fünf Minuten von einem anderen Menschen ein neues Wort zurufen lassen. Nach 30 Minuten bzw. sechs Miniaturen stoppst du. Möglicherweise findest du beim Durchlesen Überraschendes oder etwas, das du schon lange vergeblich zu heben versucht hast, oder einen Anfang für eine Kurzgeschichte ... Diese Schreibanregung habe ich entwickelt mit Hilfe des Buches Literatur in 5 Minuten von Roberta Allen, erschienen bei Zweitausendeins, Frankfurt/Main 2002.
    * Rita Krause ist Schreibwerkstattteilnehmerin seit vielen Jahren und meine Freundin.


    28. April 2014

    Schreiben ist …

    … forschen … lachen … festhalten … ausprobieren … brüllen … sagen … eindringen … ausatmen … lernen … jubeln … streiten … aufdecken … weinen … therapieren … weis­sagen … mitteilen … verstehen … erzählen … kritisieren … erfinden … vertreiben … gestalten … über­blenden … ausdrücken … verbinden … fliegen … feiern … fantasieren … überleben …